Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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zusammengestellt von Norbert Kollenda

Razem verweigert Tusk das Vertrauen

rmf24.pl, 04. Juni 2025

Adrian Zandberg, Co-Vorsitzender der Partei Razem, kündigte an, dass seine Fraktion dem Antrag auf ein Vertrauensvotum für die Regierung Tusk nicht zustimmen werde:

Wir sind nicht Teil der Regierung, weil die Bürgerplattform und ihre Partner unsere Kernforderungen abgelehnt haben: 8 % des BIP für das öffentliche Gesundheitswesen, 3 % für Forschung, Wissenschaft und Entwicklung sowie ein umfangreiches öffentliches Wohnungsbauprogramm. Als Oppositionspartei unterstützen wir das Vertrauensvotum selbstverständlich nicht.

Die Ablehnung der Kernforderungen sei laut Zandberg auch möglich gewesen, weil die Koalition im Sejm über eine Mehrheit verfüge. Doch diese Politik habe viele Wähler enttäuscht:

Premierminister Tusk versucht nun, die Verantwortung für Trzaskowskis Niederlage dem Wahlkampfteam zuzuschieben. Bald wird vermutlich auch Razem dafür verantwortlich gemacht. Deshalb muss klar gesagt werden: Die Verantwortung trägt allein Donald Tusk.

Dass Trzaskowski sich im Wahlkampf offen für ein Gespräch über Wohnpolitik gezeigt habe, reiche nicht aus, so Zandberg. Als Antwort auf das Gesprächsangebot habe man die Einberufung einer zusätzlichen Sitzung des Sejm gefordert:

Unser Vorschlag war einfach: eine Sitzung einberufen und das Wohnungsbaugesetz sowie das Gesetz zur Rettung des öffentlichen Gesundheitswesens verabschieden. Leere Versprechen in Facebook-Videos glaubt dieser Regierung niemand mehr – zu viele davon wurden nicht eingehalten.

Er kritisierte zudem den Inhalt der laufenden Sejmsitzung:

Statt Lösungen für die Wohnungskrise oder die Lage im Gesundheitswesen zu beraten, sehen wir wieder ein Theater von Tusk und Kaczynski. Weitere Scheingefechte, die den Menschen nichts bringen. Wo bleibt die Lösung echter Probleme? Die Bürgerplattform (PO) hat die Wahlen inzwischen verloren. Wenn es so weitergeht, stehen wir bald vor einer Regierung unter Slawomir Mentzen (Konfederacja) oder Przemyslaw Czarnek (PiS).

„Patriotismus wäscht nicht rein“

Przeglad, 09. Juni 2025

So betitelt Chefredakteur Jerzy Domanski seinen Kommentar zum Ausgang der Präsidentschaftswahlen vom 1. Juni. Er sagt:

Das Volk hat gewählt – also akzeptieren wir diesen Präsidenten. Ganz gleich, was für einer er ist. Diese Haltung höre ich jetzt fast überall. Zwei politische Lager, ein Chor.
Doch es ist an der Zeit, festzuhalten: Das Ergebnis der Wahl vom 1. Juni hat nicht bewirkt, dass diejenigen, die gestohlen und betrogen, Verwandte und Freunde in Führungspositionen staatlicher Unternehmen gehievt und Millionen Zloty für ihre Leute abgezweigt haben, plötzlich zu vorbildlichen Bürgern mutiert wären.
So könnte man es jedoch fast meinen, wenn man sieht, wie sie mit weiß-roten Fahnen durch die Straßen marschieren und sich als Patrioten inszenieren. Sie wollen wieder an die Spitze – und nach acht Jahren an der Macht stehen die Chancen auf ein Comeback gut. Denn das Kurzzeitgedächtnis der Wählerinnen und Wähler spielt ihnen in die Hände.
Hinzu kommt: Die Unfähigkeit der Regierungskoalition übertrifft noch das, was Trzaskowskis Stab im Wahlkampf abgeliefert hat. Diese Gemeinschaft der gegenseitigen Selbstbeweihräucherung stolpert so sehr über die eigenen Füße, dass mit ihnen an Bord niemand eine Wahl gewinnen kann.
Das PiS-Lager, verbrüdert mit der Konfederacja, hat nur knapp gewonnen – dank einer Wahlkampagne, die von denselben Leuten organisiert und finanziert wurde, die zuvor den Staatsapparat kontrollierten. Es war ein verzweifelter, aber hochmotivierter Einsatz. Denn: Hätte Nawrocki verloren, hätten Gerichte und Staatsanwaltschaften ihre Ermittlungen beschleunigt.
Einige Hundert Personen aus dem engen Umfeld der PiS – bis in die höchsten Parteikreise – wissen ganz genau, wie ernst die gegen sie erhobenen Vorwürfe sind. Doch nach dem Wahlsonntag konnten sie aufatmen: Sie haben jetzt einen Präsidenten, der sie schützt. Und er ist ihnen diesen Schutz schuldig – ohne die Unterstützung dieser Gruppe von Sponsoren hätte Nawrocki die Wahl nie gewonnen.
Im Gegensatz zur PiS, die sich darauf vorbereitet hatte, das Wahlergebnis im Falle eines Siegs von Trzaskowski anzufechten, erkenne ich den Wahlausgang an – trotz erheblicher Vorbehalte gegenüber der betrügerischen und schmutzigen Kampagne, die Nawrockis Team geführt hat.
Noch vor wenigen Monaten hätte sich niemand vorstellen können, dass ein Kandidat so weit von den Anforderungen und Maßstäben entfernt sein könnte, die ein Präsident erfüllen sollte – nicht einmal in den Reihen der PiS. Man erinnere sich nur an die Reaktionen vieler Parteipolitiker auf Kaczynskis Entscheidung, Nawrocki ins Rennen zu schicken.
Jeder Kandidat, den Kaczynski für geeignet hält, ist für Polen der denkbar schlechteste. Seit zwanzig Jahren erleben wir, wie der PiS-Chef alle außerhalb seines nicht gerade brillanten Hofstaats rein instrumentell behandelt. Nun wird er versuchen, die Regierungskoalition zu spalten. Doch an Stelle der Konfederacja wäre ich auf der Hut – ich glaube, sie wird bald Ziel perfider Angriffe Kaczynskis werden.
Und Nawrocki? Ich weiß, wer er ist und was er getan hat. Ich weiß, wie gerne er von öffentlichen Geldern lebt.
Die Aufgabe der Medien ist es, die Bürger umfassend über ihren Präsidenten zu informieren. Stellen wir uns also auf die Seite der Wahrheit – und jener, die wissen: Auch ein neuer Präsident kann nicht reinwaschen, was an Schuld und Korruption auf dem alten System lastet.

Antworten auf die Frage: Wird Präsident Nawrocki PiS-Straftäter begnadigen?

Przeglad, 9. Juni 2025

Michal Wawrykiewicz, Rechtsanwalt und Mitglied des Europäischen Parlaments:

Ich gehe davon aus, dass viele PiS-Aktivisten, denen die schwerwiegendsten Verstöße gegen die Verfassung vorgeworfen werden, nun genau das von Präsident Nawrocki erwarten: ein Ende der Verfahren. Aber Fakt ist, dass die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen weiterführen und Anklage vor Strafgerichten erheben wird – und diese Gerichte entscheiden dann über Schuld und Strafe. Natürlich kann der Präsident am Ende sein Begnadigungsrecht ausüben. Doch wie sich Karol Nawrocki in ein paar Jahren verhalten wird, möchte ich heute nicht vorhersagen. Anstelle der Beschuldigten wäre ich mir da nicht allzu sicher.

Dr. Tomasz Kowalczuk, Politologe, Philosoph und Literaturwissenschaftler an der Universität Warschau:

Karol Nawrocki wurde zwar als Kandidat von Jaroslaw Kaczynski und seiner Partei ins Rennen geschickt und schließlich auch gewählt, doch aus generationeller und politischer Sicht gehört er nicht zu den Kreisen, die Kaczynski – und das von ihm geprägte politische Lager rund um den Warschauer Stadtteil Zoliborz – schätzt. Im Gegenteil: Die Milieus, aus denen Nawrocki stammt, hat Kaczynski stets mit Verachtung betrachtet. Über Nawrockis eigene politische Absichten wissen wir bisher wenig, doch vieles spricht dafür, dass er der Konfederacja nähersteht als der PiS. Sein Wahlsieg stärkt de facto die nationalistische Fraktion rund um Krzysztof Bosak [rechtsextremes Mitglied der Konfederacja, Anm. d. Red.]. Nawrocki muss der PiS gegenüber also keine Loyalität zeigen – entscheidender für eine mögliche zweite Amtszeit könnten die Stimmen der Wählerschaft der Konfederacja sein. In diesem Kontext könnten etwaige Begnadigungen Teil von taktischen Verhandlungen im Hintergrund werden. Zugleich stellt sich die Frage, ob das Regierungslager um Donald Tusk überhaupt gewillt ist, eine juristische Aufarbeitung ernsthaft anzugehen – und wenn ja, in welchem Umfang.

Dr. Mateusz Zaremba, Politologe, Universität SWPS in Warschau:

Ich sehe kaum eine Möglichkeit, die juristische Aufarbeitung grundsätzlich zu verhindern. Tatsächlich verfügt Nawrocki lediglich über ein einziges Instrument: das Begnadigungsrecht. Dieses kann jedoch erst im Stadium der Urteilsverkündung – oder während eines laufenden Prozesses – zum Einsatz kommen. Selbst dann müsste er damit sehr vorsichtig umgehen. Andrzej Duda etwa machte früh in seiner Amtszeit davon Gebrauch und setzte damit eine Karte aufs Spiel, die leicht als Ausdruck von Klientelpolitik wahrgenommen werden konnte. Auch Präsident Aleksander Kwasniewski nutzte dieses Recht – allerdings erst gegen Ende seiner zweiten Amtszeit – und zog sich damit den Unmut der Öffentlichkeit zu. Die Nutzung des Begnadigungsrechts ist also stets eine Gratwanderung, die stark vom politischen Gespür und der Stimmung in der Bevölkerung abhängt. Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte es am Ende doch deutlich weniger Begnadigungen geben, als man zunächst befürchtet.

Holownia kommt ins Spiel

OKO.press, 05. Juni 2025

Szymon Holownia (Parlamentspräsident) übernahm am Montag, dem 2. Juni, die politische Initiative. Nur einen Tag nach der Stichwahl kündigte Donald Tusk an, im Sejm ein Vertrauensvotum für seine Regierung zu beantragen – und das bereits bei der nächsten Sitzung. Holownia erfuhr davon nicht direkt, sondern über Journalisten während einer Pressekonferenz. Die Ankündigung nannte er eine „theatralische Geste“, mit der die Koalition Geschlossenheit demonstrieren wolle. Er fügte hinzu:

Aber wir müssen diese Reihen aus einem bestimmten Grund schließen.

Offenbar verärgert ließ Holownia durchblicken, dass seine Abgeordneten noch überlegen würden, ob sie die Regierung tatsächlich unterstützen. Noch am selben Tag kündigte er ein persönliches Gespräch mit Tusk an.

Die Parteichefs Tusk, Holownia, Czarzasty und Kosiniak-Kamysz hatten sich bereits für den Abend zu einem Treffen verabredet. Doch Ministerpräsident Tusk hatte seine Ansprache da längst aufgezeichnet. Ein Regierungsmitglied von Polska 2050 lachte verärgert: Tusk müsse die Rede wohl noch einmal aufnehmen – nach dem Gespräch mit Holownia.

Ein anderer Politiker aus den Reihen von Polska 2050 kommentierte:

Das war Erpressung. Tusk hat uns wieder gesagt: Ihr müsst tun, was ich will.

Innerhalb der Koalition ist man sich einig: Der größte Verlierer ist derzeit Tusk – die besseren Karten haben momentan seine Koalitionspartner.

2020 war Holownia mit dem Versprechen angetreten, den erbitterten Dauerstreit zwischen PO (Bürgerkoalition) und PiS zu beenden. Er kündigte an, die Gesellschaft zu einen und Politik mit Weitblick zu machen – nicht nur bis zur nächsten Wahl, sondern „für Generationen“. Sein Thinktank „Strategie 2050“ entwickelte seither eine Reihe beachtlicher Reformvorschläge, etwa zu den Staat-Kirche-Beziehungen oder zur Gesundheitsversorgung.

Nach den Wahlen 2023 trat Holownias Partei dennoch in die Regierung unter Donald Tusk ein – obwohl er diesen zuvor scharf kritisiert hatte. Von den pro-sozialen Versprechen blieb wenig übrig. Und Holownia selbst, der mit dem Format „Sejmflix“ zwischenzeitlich mediale Aufmerksamkeit erlangte, konnte in der parlamentarischen Praxis bislang keine nennenswerten Erfolge vorweisen.

Der Angriff auf Tusk, als berechtigte Regierungskritik getarnt, ist aus taktischer Sicht eine Rückkehr zu Holownias ursprünglichem Kurs: eine Alternative sowohl zur PiS als auch zur PO zu etablieren. Schon 2020 hatte er ein feines Gespür für die gesellschaftliche Stimmung – und die ist heute deutlich anti-Tusk. Auch die Verschiebung der Vertrauensabstimmung passe ins Bild. Es heißt, Holownia würde Tusk „eine Woche lang grillen“. Doch wozu?

Ein führender Regierungspolitiker von Polska 2050 berichtet:

Unsere Wähler wandern zu Mentzen ab.

Ein anderes Regierungsmitglied aus Holownias Umfeld fügt hinzu:

In weniger als zwei Jahren ist die Plattform wieder zu dem geworden, was sie 2015 war. Dabei hatte sie versprochen, genau das zu verhindern.

Bei Polska 2050 ist man überzeugt: Jetzt gilt es, hart mit Tusk zu verhandeln – um den Wähler:innen zu zeigen, dass es eine Alternative gibt. Andernfalls werde diese weiter in der Konfederacja gesucht.

Zugleich kämpft Holownia um sein politisches Überleben. Seine Partei steckt in der Krise, und sein eigenes Wahlergebnis – 4,99 Prozent – hat ihn zum Gespött gemacht. Nur gemeinsam mit der PSL hatte man es 2023 auf 14,4 Prozent gebracht. Nun muss er sich beweisen – auch, um die Abgeordneten bei sich zu halten, die mit Zweitmandaten ins Parlament eingezogen sind. Denn genau diese werden bald von der Konfederacja und der Bürgerplattform umworben – oder sind es längst.

Was Männer fürchten, was Frauen verteidigen

OKO.press, 05. Juni 2025

Männer schützen ihren Körper vor dem Krieg, Frauen ihre körperliche Selbstbestimmung – etwa bei Schwangerschaftsabbrüchen. Trotz der weit verbreiteten Narrative über eine „Geschlechterkluft“ bei den Wahlen schrumpft diese Kluft. Männer wählen Mentzen und Nawrocki nicht zwangsläufig, weil sie Nationalisten sind – sondern weil ihnen versprochen wird, dass sie nicht an die Front müssen.
Darüber, wie Männer und Frauen wählen – und über die Tricks der rechten Populisten – spricht OKO.press mit der Soziologin Dr. Katarzyna Wojnicka.

OKO.press: Nach jeder Wahl hören wir einen ähnlichen Satz Frauen würden anders wählen. Seit Jahren gilt das Verhältnis von Wahlbeteiligung und Parteipräferenzen bei Männern und Frauen als zentraler Analyseansatz. Diesmal gewann Karol Nawrocki unter den Männern deutlich (55,5 zu 45,5 Prozent). Rafal Trzaskowski hingegen gewann unter den Frauen zwar, aber nicht mit großem Vorsprung (52,8 zu 47,2), obwohl die Wahlbeteiligung in dieser Gruppe sehr hoch war. Besonders die erste Runde hat gezeigt, dass vor allem junge Männer gerne rechtsextreme Gruppierungen unterstützen. Was ist ausschlaggebend für diese Unterschiede?

Seit rund 30 Jahren untersuchen Studien die unterschiedlichen Wahlpräferenzen von Frauen und Männern – mit einem klaren Muster: Frauen neigen eher zu liberalen oder linken Parteien, während Männer häufiger rechte oder rechtsextreme Parteien unterstützen. Diese Tendenz wurde zunächst vor allem im westlichen Europa, in Skandinavien und den USA erforscht. In Polen begann die Debatte zwar später, doch inzwischen zeigt sich: Wir unterscheiden uns kaum von anderen Ländern.
Noch vor zwei Jahren hätte ich gesagt: Die Unterschiede im Wahlverhalten von Männern und Frauen sind deutlich. Doch meine aktuelle Masterarbeit zeigt, dass sich dieser Abstand immer weiter verringert – und es in Europa bald kaum noch eine Geschlechterkluft bei der Wahl rechter und rechtsextremer Parteien geben dürfte, wenn sich der Trend fortsetzt.
In Polen ist die Unterstützung für Grzegorz Braun [rechtsextremer Politiker und Verschwörungsideologe, Anm. d. Red.] zwar weiterhin klar männlich dominiert. Doch Slawomir Mentzen und sein Umfeld – also die Konfederacja – werden zunehmend auch für Frauen akzeptabel und in naher Zukunft womöglich sogar attraktiv.
Trotzdem: Noch ist die Rechte, vor allem die extreme Rechte, männlich geprägt. Das zeigte auch der Wahlkampf, der stark auf Unsicherheiten und Bedrohungsgefühle setzte. Im Mittelpunkt standen Krieg, Migration und wirtschaftliche Sorgen – klassische ‚Männerthemen‘.
Ich halte das Gefühl der Unsicherheit – und das Bedürfnis, eine Kraft zu finden, die uns vor Gefahren schützt – für entscheidend bei dieser Wahlentscheidung. Dabei ist wichtig zu unterscheiden: Es gibt reale Bedrohungen, wie die russische Aggression. Und es gibt Herausforderungen, die von den Medien oder der Politik als Bedrohungen inszeniert werden. Migration zum Beispiel ist eine Herausforderung – aber keine unmittelbare Gefahr. Dennoch eignet sie sich hervorragend für rechte Narrative.
Erstaunlich ist, dass auch liberale Kreise diese Erzählungen übernommen haben. Die Bürgerkoalition (PO) etwa hat die Aussetzung des Asylrechts beschlossen. Dabei wissen wir aus vielen Studien, dass die Übernahme rechter Narrative liberalen Parteien keine Stimmen bringt – im Gegenteil. Doch offenbar sind diese Erkenntnisse in vielen Wahlkampfzentralen bis heute nicht angekommen.
In der Politik gewinnt derzeit weniger die Wahrheit, sondern zunehmend die Rhetorik – insbesondere die der Verteidigung. Wir erleben einen historischen Moment, in dem das Narrativ der Bedrohung zentrale Bedeutung hat, auch wenn es nicht auf Fakten basiert. Karol Nawrocki verkörpert dabei ein klassisches Bild männlicher Stärke: entschlossen, durchsetzungsfähig, zur Not bereit, Gewalt einzusetzen. Dieses Bild spricht nicht nur Männer an – auch eine bestimmte Gruppe von Frauen findet zunehmend Gefallen an der Verteidigungserzählung. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass weder ‚die Männer‘ noch ‚die Frauen‘ homogene Gruppen sind – auch das geht in vielen Diskussionen unter.
Die Argumentation in dieser Wahlkampagne stützte sich insbesondere auf erfundene Gefahren im Zusammenhang mit Migration. Dabei hätte man eine realitätsnähere Geschichte erzählen können: dass Migrant:innen bei gelungener Integration keine Bedrohung darstellen, sondern eine Chance für eine Gesellschaft in demografischer Schieflage – uns fehlen Arbeitskräfte, uns fehlen Beitragszahlende. Doch niemand versuchte, der rechten Erzählung substanziell etwas entgegenzusetzen.
In den sozialen Medien liest man oft, junge Männer seien Nationalisten, weil sie Mentzen wählen. Ich halte das in den meisten Fällen für falsch. Die Menschen stimmen nicht für ein komplettes ideologisches Paket, sondern für Kandidaten, die – zumindest auf dem Papier – ihr zentrales Anliegen vertreten. Für viele junge Männer in Polen ist das wichtigste Thema die Angst vor einem Kriegseinsatz und davor, ihr Leben zu verlieren. Genau hier hat Mentzen angesetzt: In seinen sozialen Medien hat er sehr deutlich versprochen, junge Menschen vor einer Einberufung zu schützen – eine Botschaft, die tief sitzende Ängste adressiert hat.

OKO.press: Eines der Hauptthemen der Konföderation – und gegen Ende des Wahlkampfs auch von Nawrocki aufgegriffen – war die angebliche Zensur durch progressive Kräfte: politische Korrektheit, Gender, linke Ideologien, die angeblich die Bürger bevormunden. War das aus Ihrer Sicht ein zentraler Faktor oder eher ein ideologisches Randthema für ein spezielles Milieu?

Meiner Meinung nach ist das eher ein Versuch, auf der aktuellen Situation in den Vereinigten Staaten aufzubauen, wo der Kulturkrieg gerade seinen Höhepunkt erreicht. Natürlich gibt es auch in Polen Menschen, die auf solche Parolen ansprechen – aber das ist kein Thema, das die breite Masse mobilisiert. Für die meisten jungen Männer ist derzeit vor allem eines entscheidend: Sie wollen nicht in eine Lage geraten wie ihre Altersgenossen in der Ukraine. Ganz einfach.
Ich glaube, das Thema Krieg ist enorm wichtig, wird aber bislang kaum offen diskutiert. Für Frauen waren es früher die reproduktiven Rechte, die als Verteidigung ihrer körperlichen Integrität wahrgenommen wurden – jetzt ist es für Männer der Krieg. Auch das ist letztlich eine Frage von Lebensschutz. Für mich ist das eine analoge Entwicklung. Und ganz grundsätzlich: Die Unterschiede zwischen den Wahlentscheidungen von Frauen und Männern – die übrigens zunehmend schrumpfen – deute ich nicht als Geschlechterkampf.
Der Staat hat in dieser Frage ganz klar versagt. Ich bezweifle, dass irgendjemand bei der nächsten Wahlkampagne noch daran glauben wird, wenn erneut versprochen wird, dass das Abtreibungsrecht endlich liberalisiert wird. Viele haben schon diesmal nicht daran geglaubt, aber sie haben der Regierungskoalition dennoch eine Chance gegeben. Doch diese Gruppe wird mit der Zeit immer kleiner, weil die liberal-linken Parteien für sie keine glaubwürdige Garantie mehr darstellen, ihre Versprechen auch wirklich umzusetzen. Und wenn es kein politisches ‚Produkt‘ gibt – also kein konkretes Angebot –, dann gibt es auch keinen Diskussionsraum mehr.

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