Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Zur Person 1. Juli 2025

Der Fotograf Sebastião Salgado
von Marina Hoffmann

Ein junges Mädchen mit verschmiertem Gesicht schaut mit stiller Skepsis in die Kamera. In ihren großen, ernsten Augen spiegeln sich Licht und Schatten.
Eine Herde Rentiere zieht durch eine karge Eislandschaft – eine Einheit aus Individuen, deren Farben ineinander übergehen, strömt in die gemeinsame Richtung durch die Kälte.
Ein halbnackter Mann greift den Lauf des Gewehres, das ein anderer Mann in Uniform auf ihn richtet. Er redet auf sein Gegenüber ein. Die rechte Hand hält er auf sein Herz. Der Uniformierte erwidert nichts. Um sie herum andere Menschen, die sie beobachten.
Was hier etwas umständlich beschrieben werden muss, hat ein Mann gesehen und fotografiert: Sebastião Salgado.

Ein Friedensfotograf
»Kann fotografieren ein Akt des Friedens sein?« Mit dieser Frage leitete der Filmregisseur Wim Wenders seine Laudatio ein, als Salgado 2019 der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen wurde. »Kann die Fotografie friedensfördernd sein, wenn Fotos ›geschossen‹ werden?«
Wenders meint: Ja, denn Salgados Bilder »entwaffnen, sie stiften Verbindung, Nähe und Empathie«. Frieden, so führt der Regisseur aus, habe seine Bedeutung verloren. Krisen hätten sich in den Vordergrund gedrängt: Klima, Vertreibung, Armut, Hunger.
»Es kann keinen Frieden ohne soziale Gerechtigkeit und ohne Arbeit geben, es kann keinen Frieden ohne Anerkennung der Menschenwürde geben und ohne die Beendigung der unnötigen Umstände von Armut und Hunger, und es kann keinen Frieden geben, ohne dass wir die Schönheit und Heiligkeit unserer Erde achten.«
Die Grundpfeiler des Friedens schwanken, es gibt zu viel, was ihn bedroht. Sebastião Salgado nutzt seine Kameras, um in körnigem Schwarz-Weiß von Frieden und vor allem von seiner Notwendigkeit zu zeugen. Seine Sprache ist das Licht.

Leben und Werk
Sebastião Ribeiro Salgado Jr. wird im Februar 1944 in Brasilien geboren. Sein Vater, ein Viehbauer, hofft, dass sein einziger Sohn Anwalt wird. Dafür verkauft er viel Holz von den Bäumen auf seinem Grundstück. Sebastião beginnt ein juristisches Studium, wechselt aber zur Wirtschaftswissenschaft. 1968 verlässt er die Universität mit einem Master.
In dieser Zeit heiratet er Lélia Deluiz Wanick, die ihn fortan unterstützt.
Die beiden vertreten linke Ideen, weshalb sie 1969 vor der Militärdiktatur ins Exil nach Paris fliehen. Dort arbeitet Sebastião bei der International Coffee Organization, die ihn nach Afrika schickt. Im Gepäck zufällig Lelias Kamera. Nach einigen weiteren Reisen kündigt er seinen Job. Durch die Fotografie fühlt er sich näher am Realen, am Wichtigen.
Als Fotograf wartet Salgado nicht auf den perfekten Moment, sondern macht immer wieder Aufnahmen. Im Durchschnitt füllt er 10 bis 12 Filmrollen pro Tag. Er fängt einzigartige Momente ein, die doch so alltäglich sind, weil er sich nah herantraut. Die Bilder sind schön, auch wenn das Gezeigte oft Angst, Schock oder Trauer auslöst. Sie sind in gewisser Weise überfordernd, weil in einigen so viel geschieht. Er beschreibt seine Fotografie als militant und sich selbst als Sozialfotografen.
Sein erstes Fotobuch, dem viele weitere folgen werden, erscheint 1985 unter dem Titel Other Americas. Das Buch enthält die Themen, mit denen er sich immer wieder auseinandersetzen wird: Arbeit, Menschen und Landschaften. Bevor die körperliche Arbeit von Maschinen und Computern übernommen wird, möchte Salgado sie festhalten und wertschätzen. Sechs Jahre arbeitet er an seinem Werk Workers. An Archaeology of the Industrial Age. Als er Feuerwehrleute während einer Ölkatastrophe fotografiert, wird er herzlich empfangen. Er ist beliebt, sieht sympathisch aus, er scheint zu lieben, was er tut. So beschreibt es wenigstens Matthew L. Wald in einem Artikel von 1991. Salgado küsst das Objektiv einer seiner drei Kameras, macht den Arbeitenden Geschenke.
Sebastião Salgados Bilder wirken komponiert, als hätte er lange auf ein Bild gewartet. Oft zeigen sie unerträgliches Leid von Hungerkatastrophen, Flucht und Krieg, weshalb er immer wieder kritisiert wird. So als würde er Armut oder Flucht ausbeuten und Hilfe unterlassen.
Salgado reist immer wieder in Krisengebiete, um von Leid zu zeugen. Seine Bilder sind getragen, oft schwer – so wie die große Not, die Arbeit oder die Flucht, um zu überleben, die er abbildet. So wie die Geschichten der Menschen davon abhängig sind, dass sie jemand erzählt.
Wie ein Künstler arbeitet er nach eigenem Ermessen und nach eigener Planung. Andere Fotojournalisten haben wenig Zeit, sich auf die Motive einzulassen. Salgado nimmt sich Zeit, vergräbt sich in die Arbeit der anderen. »Pictures are not taken but given«, sagt er.
Salgado reist durch die ganze Welt, fotografiert in über hundert Ländern. Seine Bilder buhlen nie um Mitleid, sondern zeigen die Würde der Menschen, humanisieren die nackten Zahlen, die uns doch nichts sagen. Die Menschen in seinen Bildern drücken Stolz, Angst, Erschöpfung, Leere aus.
Der 6.April 1994 ist für Salgado ein wichtiges Datum. Eine Rakete schießt ein Flugzeug in Kigali (Rwanda) ab, an Bord die Präsidenten von Rwanda und Burundi. Ihr Tod löst einen Bürgerkrieg aus, in dem bis zu einer Million Menschen sterben. 200.000 Menschen müssen fliehen, aber nur 35.000 überleben. Am Ziel ihrer Flucht breitet sich Cholera aus. Überall Erschöpfte, Kranke und Hungernde, überall der Tod. Salgado erzählt voller Trauer, wie ein Mann sein totes Baby in eine Grube wirft, ohne das Gespräch mit einem anderen Mann zu beenden.

Abkehr vom Leid
Diese Erlebnisse machen ihn krank. Salgado wendet sich vom Fotografieren ab und zieht zurück auf die Farm in Brasilien, wo er aufwuchs. Aber das Land ist durch die übermäßige Viehhaltung geschwächt und verödet, der Grundwasserspiegel gesunken. Seine Ehefrau Lélia kommt auf die Idee, den Urwald wiederherzustellen. Zusammen gründen sie 1998 das Instituto Terra.
Die 2,5 Millionen gepflanzten Bäume sind ihr größtes Projekt.
Während Salgado die Hoffnung für seinesgleichen verliert, findet er sie in all den anderen Lebewesen. Viele der Pflanzen, die er und seine Frau pflanzen, gibt es nur in dem wiederbelebten Atlantischen Regenwald. Allein 172 Vogelarten, 33 Säugetierarten sowie eine Vielzahl an Insekten und Reptilien sind zurückgekehrt. Tausend Kleinbauern helfen mit und profitieren von mehr Trinkwasser, Artenvielfalt und besserem Klima. Seit 1998 ist dieser regenerierte Regenwald privates Reservat des Naturerbes und damit rechtlich geschützt.
Ab diesem Zeitpunkt fotografiert Salgado Tiere, Landschaften und auch wieder Menschen. Er will zeigen, welche Schönheit es gibt auf der Welt, dass es sich lohnt, sie zu schützen. Er besucht indigene Stämme, bspw. im Amazonasregenwald und am Nordpol. Er verbringt so lange Zeit mit ihnen, bis sie ihm vertrauen, ihn akzeptieren.
Die Natur muss geschützt und wiederhergestellt werden, glaubt er. Denn ein Baum ist die einzige »Maschine«, die es schafft, Luft und Wasser aufzubereiten. Am 23.Mai 2025 stirbt Salgado in Paris.

Sebastião Salgados Bilder sind zeitlich nicht zu verorten, sie zeigen Leid und Schönheit auf der Erde. Weil er selbst nicht besonders privilegiert aufwuchs, konnte er allen Menschen auf Augenhöhe begegnen. Seine Bilder übertragen universelle menschliche Gefühle und Bedürfnisse. Wir spüren und verstehen sie beim Betrachten. Wer versteht, kann in Aktion treten, um zu schützen.
Zeit seines Lebens rückte er menschliche Notstände ins Licht, von katastrophalen Geschehnissen in Afrika, harter Arbeit oder schwindender Natur. Mit seinem Blick auf Wälder, Tiere und vor allem Menschen beeinflusste er bis zu seinem Tod den öffentlichen Diskurs. Einem solchen Blick können wir trauen.

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