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Handel/Banken 1. September 2025

Ein Segen? Für wen?
Gespräch mit Antônio Andrioli

Die EU hat mit den Mercosur-Staaten – Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Bolivien – ein Freihandelsabkommen beschlossen. Es ist noch nicht in Kraft getreten, da es von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sagte bei einem Staatsbesuch in Frankreich Anfang Juni, das Abkommen sei die beste Antwort auf die unsichere Lage, die durch die Rückkehr zum Unilateralismus und Zollprotektionismus entstanden sei. Es verspricht der EU Zugang zu wichtigen Rohstoffen und Absatzmärkte für europäische Produkte.

Der brasilianische Sozialwissenschaftler Antônio Andrioli beschäftigt sich seit 2020 intensiv mit den Auswirkungen eines Freihandelsabkommen der EU mit den Mercosur-Ländern. Mit ihm sprach Ayse Tekin.

Was ist das größte Problem bei dem Freihandelsabkommen der EU mit dem Mercosur?

Der Import von mehr zollfreien Produkten aus der EU, wie sie in dem Abkommen vorgesehen sind, kann die heimische Industrie in Lateinamerika stark treffen, insbesondere in Brasilien und Argentinien. Es gibt historisch eine Kluft in der industriellen Entwicklung zwischen Europa und Lateinamerika.
Europa ist im Vergleich zu den Mercosur-Ländern in der Lage, billigere industrielle Produkte herzustellen, mit denen Lateinamerika überschwemmt wird, was den Rückgang wichtiger Teile der lokalen Industrie bewirken kann, besonders in der Auto- und Chemieindustrie. Europa wünscht sich dort einen großen Absatzmarkt für seine Produkte
Außerdem führt ein zollfreier Handel zwischen den beiden sehr ungleichen Kontinenten zu einer deutlichen Herabsetzung von Umwelt- und Sozialstandards. Die Mercosur-Länder sollen sich auf billige Agrarprodukte und Rohstoffe konzentrieren, die weniger mit Wertschöpfung und Beschäftigung verbunden sind.
Vorgesehen ist, dass Europa zollfrei Autos und Autoteile nach Lateinamerika exportiert, etwa Verbrennungsmotoren, die man in der EU bis 2035 abschaffen will. Das wäre ein Schritt zur De-Industrialisierung Lateinamerikas. Für Brasilien und Argentinien wäre das besonders schlimm, weil für sie die Produktion von Autoteilen besonders wichtig ist. Es würde noch mehr Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit geschaffen.

Würde eigentlich jemand von dem Abkommen in Brasilien profitieren?

Die gesamte Agrarindustrie in Lateinamerika würde davon profitieren, und die Großgrundbesitzer in Brasilien.
Eigentlich setzt Brasilien schon seit 500 Jahren auf Agrarexporte. 2008 hat das eine neue Stufe erreicht, weil das Land versucht hat, die damalige Wirtschaftskrise hinauszuschieben, indem die Währung entwertet wurde und die Abhängigkeit von Agrarexporten stieg. Lateinamerika ist sehr agrarisch geprägt, die EU sehr industriell. Die brasilianischen Großgrundbesitzer sehen also die Chance, noch mehr nach Europa zu exportieren, besonders Fleisch und Agrardiesel, was mit der Zunahme der Sojaproduktion zusammenhängt.
Der Export von Soja aus Brasilien ist bereits zollfrei und sogar steuerfrei. Seit 1996 haben die Brasilianer keine Exportsteuer, während die Argentinier sie noch haben. Die könnte jetzt vielleicht auch wegfallen.
Noch wichtiger ist, dass die Fleischproduktion und auch die Agrartreibstoffe stark mit Soja verbunden sind. Aus Soja wird als Nebenprodukt auch Agrardiesel hergestellt. Brasilien ist Exportweltmeister bei Soja. Wir produzieren derzeit 170 Millionen Tonnen auf einer Fläche so groß wie Schweden. Das ist zu viel und führt zu noch mehr Entwaldung und Naturzerstörung.

Was hat Europa damit zu tun?

Für die Produktion von Soja werden Pestizide aus Europa eingesetzt, die wiederum als Rückstände zurück nach Europa kommen. Damit würde die EU diese Umweltzerstörung importieren. Von den zehn am meisten verwendeten Pestiziden sind sieben in der EU nicht zugelassen. Bayer hat etwa zwölf Wirkstoffe im Einsatz, die nicht zugelassen sind, BASF dreizehn. Man kann davon ausgehen, dass rund 500 Varianten von Pestiziden in Brasilien im Einsatz sind, die in der EU nicht zugelassen sind.
Seit 2018 gibt es keine Angaben mehr über Rückstände von Pestiziden bei Soja. Bei Mangos, Limetten, Papayas usw. haben wir das alles. Die Rückstände der nicht zugelassenen Pestizide aus Südamerika steigen. Wenn sie noch dazu zollfrei hereinkommen, steigen sie weiter.
Nicht zu vergessen die Medikamente. Unser Wasser ist völlig vergiftet. Unsere Gesetze listen 27 Wirkstoffe auf, die als kontaminierend gelten. In der Region Santa Catarina und in São Paulo haben wir alle 27 gefunden. Es nützt auch nichts, wenn wir Mineralwasser kaufen, denn auch das ist verseucht. Das Wasser ist sogar eine Gefahr, wenn man duscht.
So reduziert z.B. Talowamin, das in Glyphosat vorkommt, die Oberflächenspannung eines Gewebes, damit das Glyphosat eindringen kann. Es besteht also ein klarer Zusammenhang mit Krebs. Ich bin in einer Kommission, die durchgesetzt hat, dass man das messen muss. Denn Brasilien ist darin Weltmeister, kein Land setzt mehr Pestizide ein. Eine Milliarde Kilogramm pro Jahr. Sieben Kilogramm pro Hektar. Wenn man das pro Kopf umrechnet, ist das mehr, als ein Mensch Wein im Jahr trinkt.

Unternimmt die Regierung Lula nichts dagegen?

Immerhin hat Lula es versucht. Die letzte Regierung hat es noch geschafft, das zu legalisieren, was verboten war. Die damalige Agrarministerin Tereza Cristina, auch Musa do veneno (Giftmuse) genannt, setzte das durch. Die derzeitige Opposition will sogar verbieten, dass man von agrotóxicos spricht – von Agrargiften. Als ob sie nicht mehr so schlimm seien, wenn man sie nicht mehr so bezeichnet.
90 Prozent unserer gentechnisch veränderten Pflanzen haben mit Pestiziden zu tun. Unter Präsidentin Dilma Rousseff waren 20 von 27 Wissenschaftlern in der Biosicherheitskommission für die Zulassung pestizidtoleranter Genpflanzen, egal, was kam. Unter Bolsonaro waren alle dafür. Unter Lula sind es jetzt 25.
Die meisten Mitglieder werden von Stipendien und Forschungsgeldern gesteuert. Die Hersteller sind sogar am Tag der Zulassung dabei, wenn abgestimmt wird. Die einzige Grundlage für die Zulassung sind die eigenen Studien der Konzerne. Es gibt zu Gentechnik und Pestiziden keine unabhängigen Studien.
Hinzu kommt der Schmuggel. Viele Sorten werden gar nicht kontrolliert. Zum Beispiel das Herbizid Paraquat, das mit einem erhöhten Risiko, an Parkinson zu erkranken, in Verbindung gebracht wird und deshalb verboten wurde. Das wird über die Grenze aus Paraguay illegal eingeführt.

Welche Konsequenzen hätte das Abkommen für die Kleinbauern?

Auf beiden Seiten des Atlantiks sind die Kleinbauern stark betroffen. Mehr freier Agrarhandel heißt mehr Befreiung der jeweiligen Region von den eigenen Bauern. Eine mögliche Konsequenz ist, dass die Bauern in Europa auf ihrem Fleisch sitzen bleiben. Deshalb sind sie ja dagegen, was ich gut verstehen kann. Allerdings regen sich die brasilianischen Bauern darüber auf, dass die Überschüsse der europäischen Milchprodukte zollfrei aus der EU nach Lateinamerika kommen – das wird in Europa leicht übersehen.
In Brasilien ist das Thema leider nicht so sehr in der Öffentlichkeit. Dabei stammen 60 Prozent der Milchprodukte von Kleinbauern. Kleinbauern sind für 70 Prozent der Nahrungsmittelproduktion in Lateinamerika verantwortlich. Wenn man das zerstört, führt dies auch zu mehr Armut und sozialer Ungleichheit, auch zu mehr Hunger auf dem Land.
In Europa wird stärker dagegen mobilisiert, bei uns sind die kleinbäuerlichen Strukturen im Gegensatz zu den Großbauern im Parlament wenig vertreten. Nicht zu vergessen die indigenen Völker. Aber es gibt die Landlosenbewegung, die schon lange darauf wartet, dass endlich eine Agrarreform durchgesetzt wird. Die derzeitige Regierung Lula hat dazu bedauerlicherweise keine Macht, weil sie keine Mehrheit im Parlament hat. Immerhin hat Lula einige indigene Schutzgebiete regularisiert. Aber bei der Agrarreform sind wir weit weg von den Zielen.

Wie ist der Stand der Dinge?

Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay sind dafür. Nun muss das Abkommen in Europa in jedem Land ratifiziert werden. Die Abstimmung muss einstimmig sein. Jetzt versucht man, das Handelsabkommen vom Gesamtabkommen abzukoppeln. Durch dieses Splitting würde eine einfache Mehrheit im EU-Parlament reichen. Lula will schnellstmöglich ratifizieren. Auch der argentinische Präsident ist jetzt dafür. Er will sich allerdings die Tür zu bilateralen Verhandlungen mit China oder den USA offenhalten. Er kann jetzt aber auch nicht so einfach aussteigen.
Lula versucht über die BRICS-Staaten in beide Richtungen zu steuern. Mit Mercosur will er vor allem bei den Großgrundbesitzern punkten, obwohl ihn diese nicht wählen. Aber Brasilien ist von den Agrarexporten abhängig. Was er in Kauf nimmt, ist die De-Industrialisierung. Das weiß er. Und es steht im Widerspruch zu seiner Ankündigung, mehr für den Klimaschutz und die Bekämpfung von Armut und Hunger zu tun. Doch mehr Fleischproduktion heißt mehr Entwaldung. Mehr Agrarexporte heißt mehr Hunger auf dem Land und weniger Ernährung der eigenen Bevölkerung.
Jetzt geht Lula klar in Richtung China. Bei seiner letzten Reise hat er einige Verträge unterschrieben. Über die BRICS-Staaten will er Brasilien re-industrialisieren. Er will den Weg umkehren und nennt seine Strategie »multipolar«. Dazu passt auch das Abkommen mit der EU gut, insbesondere um sich gegen außenpolitische Angriffe aus den USA zu stärken.

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