Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
Aufmacher 4 1. September 2025

Israels Staatsdoktrin musste im Land erst durchgesetzt werden

Gespräch mit Iris Hefets

In Wien fand vor wenigen Wochen ein jüdischer Antizionismus-Kongress statt, über den in Deutschland so gut wie gar nicht berichtet wurde. „Judentum ist nicht Zionismus – Schluss mit der Instrumentalisierung jüdischer Identität für Völkermord und Unterdrückung“, forderten dort Rabbiner, Shoah-Überlebende, Intellektuelle und Aktivist:innen.

Iris Hefets sprach dort auf dem Panel „Vom Stolz zur Verleugnung: Arabische Jüdinnen und Juden und ihre Integration in der arabischen Welt“.

Iris Hefets ist im Vorstand des Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in ­Nahost.
Mit ihr sprach Ayse Tekin.

In diesem Sommer fand der erste Jüdische Antizionistische Kongress statt, obwohl die Idee des Antizionismus genauso alt ist wie der Zionismus. Was hat euch dazu bewogen, jetzt einen solchen Kongress zu organisieren?

Die Idee entstand, nachdem der Palästinakongress in Berlin durch die Polizei schikaniert wurde und letztlich nicht so wie geplant stattfinden konnte, weil er von der Polizei abgebrochen wurde. In Wien gab es im gleichen Jahr den ersten Palästinakongress. Dabei entstand die Idee, auch im Rahmen des Kongresses, einen antizionistischen Kongress durchzuführen.

Das ist natürlich auch eine Art von Identitätsfindung, weil es Antizionist:innen gibt, die sonst sehr unterschiedlich sind.

Es gibt Antizionist:innen, die religiös und orthodox sind. Aus dieser Perspektive sagen sie, der Staat Israel dürfte gar nicht existieren. Juden dürften sich nicht im Rahmen eines Staates organisieren. Das könne erst passieren, wenn der Messiah kommt, aber nicht vorher.

Dagegen gibt es die religiösen Nationalist:innen, die in Israel faktisch herrschen. Diese Strömung sagt, der israelische Staat selbst sei die Erlösung, er wäre der Messiah. Das ist ein sehr großer religiöser bzw. theologischer Streit.

Es gibt Antizionist:innen, die sagen, sie seien nicht ausdrücklich Antizionist:innen, sondern Bundist:innen, also besondere Sozialist:innen, die ihre Rechte in den Ländern verwirklichen wollen, in denen sie leben. Es gibt auch die Kommunist:innen, die sagen, wir sind organisiert, aber nicht als Juden, wir organisieren uns als Internationalist:innen, egal, wo wir leben. Die Bundist:innen haben ihre jüdische Identität beibehalten, im Unterschied zu den Kommunist:innen.

Nach der Gründung von Israel gab es viele Juden und Jüdinnen, die nicht Zionist:innen waren, aber auch nicht Antizionist:innen. Zum Beispiel Juden und Jüdinnen, die nicht in Europa gelebt haben. Die nicht durch die europäische Aufklärung und den europäischen Nationalismus gegangen sind. Sie waren halt Juden, die in ihren Ländern gelebt haben. Sie waren weder Zionist:innen noch Antizionist:innen, weil die nationalistische Idee bei ihnen gar nicht existierte.

Nachdem Israel entstanden ist, gab es hier wirklich viel Arbeit, um diese Menschen zu Zionist:innen zu machen – etwa die Juden und Jüdinnen, die damals aus dem Irak oder Marokko und auch aus dem Jemen nach Israel gekommen sind – also damals nach Palästina. Sie kamen vielleicht aus religiösen Gründen, aber nicht, um in einem religiös-nationalen Staat zu leben.

Es entstand also eine Art Indoktrinierung der Jüdinnen und Juden aus all diesen Ländern. Teilweise wurden sog. „Migrationsabkommen“ geschlossen, etwa zwischen der irakischen und der israelischen Regierung, um Jüdinnen und Juden nach Israel zu bringen. Sie wurden dann in Israel indoktriniert, oder sozialisiert – das kann man unterschiedlich sehen. Sie wurden zu Zionist:innen gemacht.

Das geschah aber auch unter Jüdinnen und Juden, die im Ausland lebten und nicht nach Israel emigrieren wollten. Daran hat Israel sehr hart gearbeitet, in allen jüdischen Gemeinden und darüber hinaus. Die Staatsideologie wurde auch in die Sonntagsschulen, in die Communities gebracht, damit wurden die Leute sozusagen zum Zionismus konvertiert.

Es gibt jetzt eine neue Generation, die sich dagegen auflehnt. Ich bin zum Beispiel in einer stockzionistischen Familie aufgewachsen und habe dann langsam entdeckt, was das für meine Identität bedeutet, für mich, für meine Familie, meine Umgebung. Dann habe ich den Zionismus als Ideologie aufgegeben. Daher bin ich Antizionistin, weil ich Antirassistin bin.

Hat der Kongress diese Identitätsfindung ermöglicht?

Ich finde, zu wenig. Das ist natürlich auch ein Prozess. Zum ersten Mal sind da Menschen aus Südafrika, aus Frankreich, aus den USA, aus Großbritannien, Irland zusammengekommen. Da trifft man sich in verschiedenen Formen.

War euer Ziel als antizionistische Bewegung, den Jüdinnen und Juden, die gegen die Netanyahu-Regierung sind, eine Heimat anzubieten?

Nicht gegen die Person Netanyahu, sondern gegen den Zionismus. Es ist egal, ob es Ben Gurion, Golda Meir oder Netanyahu ist. Diese Ideologie ist eine rassistische Ideologie. Das ist Kolonialismus. Das ist der Zionismus, wie er sich entwickelt hat.

Es gab verschiedene Strömungen, aber spätestens seit 1948 sprechen wir von der Durchsetzung des Zionismus als eines puren Kolonialismus, der auf ethnischer Säuberung aufbaut. Wir hoffen auf eine Heimat für Jüdinnen und Juden, die dagegen sind. Israel ist mittlerweile klar ein Apartheidstaat geworden, egal, wer diesen Apartheidstaat führt.

Auf dem Kongress hat der Historiker Ilan Pappé betont, der Kongress spreche in erster Linie Europäer:innen an. Er betont, dass sie im Endeffekt zu dieser Idee verholfen haben, aus den zionistischen Ideen einen Staat zu machen. Teilst du die Aussage?

Das ist richtig. Europa hat damit schon ein Problem. Aber das eigentliche Problem, über das wir jetzt reden, ist Rassismus, Kolonialismus, Apartheid – das passiert heute in Israel gegenüber bestimmten Personengruppen.

Heißt das, dass ihr dort keine Ansprechpartner:innen findet? Oder weshalb konzentriert ihr euch während des Krieges jetzt auf Europa?

Europa hat Israel nicht nur damals unterstützt – auch jetzt. Ich persönlich denke, dass eine Änderung nicht aus Israel heraus kommen kann. Deshalb unterstützen wir auch die BDS-Bewegung (Boykott–Divestment–Sanktionen).

Wir denken, jetzt muss Druck von außen kommen. Deshalb sprechen wir die Mächte an, die das zionistische Projekt unterstützen. Europa ist der Haupthandelspartner für Israel. Wenn der Handel ausgesetzt wird, muss sich Israel ändern. Der Staat, also die Struktur dieses Staates, muss sich dann ändern.

Es gibt in Israel auch Linke, die versuchen gegen den Mainstream anzugehen. Es gibt sogar welche, die mit Palästinenser:innen zusammenarbeiten. Ist an eine Zusammenarbeit mit denen gedacht?

Ja, aber das ist eine sehr kleine Gruppe. Im Laufe der Zeit ist sie immer kleiner geworden. Sehr, sehr klein, leider. Sie muss auch nicht nur gegen die israelische Regierung kämpfen, sondern mittlerweile auch gegen die europäischen Regierungen, die ihr die Gelder streichen, sie nicht einladen. Natürlich wird diese Gruppe kleiner; hinzu kommt, dass viele Israelis Israel verlassen.

Wie soll es weitergehen? Was habt ihr beschlossen außer Vernetzung?

Es gibt schon einen Plan. Im nächsten Jahr wird es einen Kongress in Irland geben. Da werden dann auch mehr die heute marginalisierten Positionen über Antizionismus auf die Tagesordnung kommen. Diesmal war der Kongress mehr von der aktuellen Politik Israels und dem Genozid geprägt. Zu Zeiten eines Genozids kann man keinen Kongress machen, der sich nur mit jüdischer Identität befasst.

Wäre ein Antikriegskongress dann angebrachter als dieser Identitätskongress?

Dazu wurde er schließlich auch. Ich persönlich fand es zu viel Antikriegskongress und zu wenig Identitätskongress. Ich fand es männerlastig und daher war es auch kämpferischer.

Es gibt in dieser Szene natürlich auch solche, die sagen, wir machen hier jetzt keine Identitätspolitik, was ich schade finde, weil ich glaube, es geht auch um Identitätsfindung. Er sollte auch eine Heimat für Jüdinnen und Juden sein, damit die sich nicht allein fühlen.

Zu uns von der Jüdischen Stimme kommen sehr viele Juden, die oft nicht so aktiv sind, aber sie sagen: Ich kann mit meinen Familienmitgliedern gar nicht sprechen. Ich kann in meiner Community gar nicht sprechen. Ich brauche Menschen, mit denen ich reden kann, wo ich das Gefühl habe, ich bin nicht verrückt, wenn ich gegen einen Genozid bin.

Da spürt man mittlerweile auch die Auswirkungen von anderen Demonstrationen und Antikriegsaktionen.

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Folgende HTML-Tags sind erlaubt:
<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>


Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.


Kommentare als RSS Feed abonnieren