Frankreichs Antwort auf Sozialkürzungen, Aufrüstung und Repression
von Bernard Schmid, Paris
Ein »Ultimatum« hatten die französischen Gewerkschaften in der vorletzten Septemberwoche dem neuen Premierminister Sébastien Lecornu gestellt. Ihn hatte Staatspräsident Emmanuel Macron nur 24 Stunden, nachdem Lecornus Amtsvorgänger François Bayrou am 8.September bei einer Vertrauensabstimmung im Parlament gescheitert war, eingesetzt.
Unter dem gemeinsamen, unterschiedlich motivierten Druck der linken und der rechten Opposition im Parlament war Bayrou durchgefallen; hauptsächlich jedoch aufgrund seines Austeritätspakets. Dieses sah Einsparungen von 44 Milliarden Euro vor, vorwiegend auf dem Rücken von Lohnabhängigen und des Gesundheitssystems.
Bayrou hatte das Paket auf einer Pressekonferenz am 15.Juli präsentiert, nachdem sein Vorgesetzter Macron am Vortag – dem französischen Nationalfeiertag – eine Erhöhung des Rüstungshaushalts von derzeit jährlich gut 30 Milliarden Euro auf rund 60 Milliarden jährlich bis 2030 angekündigt hatte.
Gewerkschaftliche Einheit
Das »Ultimatum« der Gewerkschaften erging am 19.September, einen Tag nach dem relativ gut befolgten gewerkschaftlichen »Aktionstag« mit Streiks und Demonstrationen, es lief am darauffolgenden Mittwoch (am 24.9., nach Redaktionsschluss) aus. Würde der neue Regierungschef bis dahin nicht oder auf unbefriedigende Weise geantwortet haben, werde man einen neuen Protesttermin mit Demonstrationszügen und Arbeitsniederlegungen festlegen.
Bis dahin sollte Lecornu auf die Forderungen der Gewerkschaften eingegangen sein. Im Kern laufen sie auf die Rücknahme der seit dem 15.Juli im Raum stehenden Einsparbeschlüsse bei öffentlichen Diensten, Ausgaben für Kranke und Eingriffen in die Kommunalfinanzen hinaus. An einem Punkt hatte Lecornu allerdings bereits kurz nach seiner Ernennung am 9.9. ein Einknicken signalisiert: Bayrou wollte zusätzlich noch zwei gesetzliche Feiertage im Arbeitsleben streichen, den Ostermontag und den 8.Mai, dem Jahrestag der deutschen Kapitulation 1945, der in Frankreich nach wie vor in Gedenken an die Befreiung vom Faschismus arbeitsfrei bleibt; diese Ankündigung ist nun vom Tisch. 86 Prozent der Französinnen und Franzosen aus fast allen politischen Lagern hatten die Maßnahme laut Umfragen abgelehnt.
Am Vormittag des 24.September, dem Tag des Auslaufens des gewerkschaftlichen Ultimatums, empfing Lecornu die französischen Gewerkschaftsverbände gemeinsam an seinem Amtssitz. Die Ergebnisse wurden nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe bekannt. Im Vorfeld hatten die linkeren Gewerkschaftsverbände CGT (der historisch älteste Dachverband) und Union syndicale Solidaires (ein Zusammenschluss linksalternativer Basisgewerkschaften) einen neuen Protesttermin am 30.September favorisiert. Das ging insbesondere den Gewerkschaftsdachverbänden CFDT und CFTC, rechtssozialdemokratisch (an der Spitze) bzw. christlich ausgerichtet, erheblich zu schnell.
Doppelt soviel Polizisten und Gendarmen
Acht unterschiedlich ausgerichtete Verbände – Frankreich kennt keine Einheits-, sondern Richtungsgewerkschaften – hatten sich am 19.September am frühen Vormittag im Rahmen ihres Aktionsbündnisses Intersyndicale versammelt und sich auf dieses »Ultimatum« geeinigt.
Davor hatte es im September zwei Protesttage im Abstand von einer Woche gegeben, doch sie ähnelten sich nur bedingt. Am Mittwoch, dem 10.September waren zwar viele linke Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter dem Protestaufruf Bloquons tout! (»Lasst uns alles blockieren«) gefolgt, doch war die spontane Protestwelle außerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen gestartet worden. Anders dann am Donnerstag, dem 18.September, da riefen alle fünf staatlich als »tariffähig« (französisch: représentatifs) anerkannten gewerkschaftlichen Dachverbände zusammen mit drei weiteren Gewerkschaftszusammenschlüssen zu Streiks und Demonstrationen auf.
Eines blieb dabei konstant: Die starke Mobilisierung des staatlichen Repressionsapparats. An beiden Tagen brachte der vom Rand zwischen Konservativen und Rechtsextremen kommende, mittlerweile jedoch als Parteichef der konservativen Les Républicains (LR) amtierende Innenminister Bruno Retailleau jeweils 80.000 Beamte von Polizei und Gendarmerie auf die Beine, die Zahl blieb an beiden Tagen identisch. Das waren doppelt so viele wie zur Eröffnung der Olympischen Sommerfestspiele in Frankreich im Juli vorigen Jahres.
Drohnen, zehn gepanzerte Wasserwerfer sowie 24 Panzerfahrzeuge vom Typ Centaure standen bereit – im Dezember 2018, auf dem Höhepunkt der in den ersten Wochen teilweise militant verlaufenen Proteste der »Gelbwesten«bewegung, waren es nur halb so viel gewesen.
»Wird irgendwo blockiert, lösen wie die Blockaden auf«, kündigte Retailleau schon am Mittwoch, dem 17.September martialisch an. »Zweifellos zwischen 5000, 8000 und 10.000 Personen« (doch so präzise!) »werden nur für den Krawall, nur für Zerstörung kommen«, behauptete Retailleau zu wissen. Gezielte Provokationen, um die prinzipiell im Raum stehende Drohung wahrzumachen, waren also nicht ausgeschlossen. Dennoch verlief der Tag insgesamt eher ohne Zwischenfälle, wie die Leitmedien am Abend aufatmeten.
Im Laufe des Tages waren am 18.September erheblich mehr Menschen unterwegs als acht Tage zuvor. Der polizeiliche Inlandsnachrichtendienst Renseignements territoriaux hatte im Vorfeld zunächst 400.000 Teilnehmer:innen an Protestzügen und anderen Aktivitäten angekündigt, die Zahl wurde am Ende dann von den Leitmedien (unter Berufung ebenfalls auf polizeiliche Quellen) auf 600.000 bis eine Million hochkorrigiert.
Letztendlich wurden es laut Zahlen des Innenministeriums gut 500.000 landesweit (55.000 in Paris), laut den Zahlen der CGT 1,1 Millionen. Realistisch dürften also insgesamt rund 800.000 Menschen auf rund 250 Demonstrationen unterwegs gewesen sein.
Innenminister Bruno Retailleau meldete am Abend frankreichweit 700 bis 800 Aktionen in der Form von Blockadeversuchen u.ä., gegen die die Polizei in 140 Fällen (in Paris 41) eingeschritten sei. Dazu zählte der Versuch der Blockade eines Busdepots im 20.Pariser Bezirk am frühen Morgen, aber auch das Eindringen von Eisenbahngewerkschaftern in das Wirtschafts- und Finanzministerium im Pariser Stadtteil Bercy.
Acht Tage zuvor hatte die Staatsmacht zunächst laut eigenen Angaben 100.000 Teilnehmer:innen an diversen Protestaktionen erwartet, doch am Abend des 10.September meldete Retailleaus eigenes Ministerium 197.000 Teilnehmende, die CGT sprach von 250.000. Dabei mischten sich Verkehrsblockaden, Kundgebungen, Demonstrationen, in Paris kurzzeitig auch Barrikadenbau.
Bloquons tout
Die Bewegung Bloquons tout wies dabei, als nicht ursprünglich durch die Gewerkschaften ausgelöster Protest, in einigen Punkten Ähnlichkeiten mit der Bewegung der »Gelbwesten« auf, die vor allem im Spätherbst 2018 und im Winter sowie Frühjahr 2019 Zehntausende, auf den ersten Höhepunkten bis zu 300.000 Menschen auf die Straßen brachte. Im Unterschied zu vorherigen Sozialprotesten ging diese zunächst hauptsächlich von kleineren und mittleren Städten, nicht von den urbanen Zentren aus, ihr Anlass war eine Erhöhung der Spritsteuer. Sie wies mehrere Facetten auf. In der Anfangsphase war der Protest kleinbürgerlich geprägt, er richtete sich gegen Steuern und darüber hinaus auch gegen Staatsausgaben.
Daneben stand aber eine progressive, zum Teil auch gewerkschaftsnahe Komponente, die eher Steuergerechtigkeit als eine generelle Ablehnung von Steuern propagierte. Innerhalb von zwei bis drei Monaten setzten sich eher die linken Kräfte durch, zumal militante Faschisten im Laufe der Wochen gewaltsam aus den Demonstrationen hinausgeworfen wurden, an die sich zuvor noch angehängt hatten – so im Februar 2019 in Lyon. Die Bewegung blieb jedoch bis zum Schluss heterogen.
Ähnlich war es auch dieses Mal, wobei das Spektrum der Beteiligten an den Protesten Bloquons tout dann doch im Vergleich zum Durchschnitt der »Gelbwesten« in 2018/19 urbaner, jünger, höher gebildet und linker ausfiel. Und dies, obwohl allererste Aufrufe zum Protest am 10.September durchaus eher an die rechten Äußerungen zu Hochzeiten der »Gelbwesten« anzudocken versuchten.
Bereits im Juni wurde auf steuerkritisch, rechtslastig oder auch verschwörungstheoretisch ausgerichteten Webseiten ein Protesttag am 10.9. propagiert, noch ohne dass dies ein breiteres Echo ausgelöst hätte. Insofern konnten oder wollten solche Kreise eine geistige Urheberschaft anmelden.
Allerdings wurden unmittelbar nachdem der Austeritäts-Rede von François Bayrou am 15.Juli eine Vielzahl von Protestaufrufen veröffentlicht, die einfach dieses bereits im Raum stehende Datum aufgriffen, ohne sich unbedingt über die geistigen Hintergründe der zuvor kursierenden Appelle im klaren zu sein. Schnell hat sich das dann verselbständigt, die Dynamik ist den ursprünglichen Aufrufern entglitten.
Letztendlich war es an jenem 10.September in der Praxis »der linke Flügel von Bloquons tout, der besser mobilisiert hat als der rechte Flügel«, schrieb der in Grenoble lehrende Politologe Frédéric Gonthier im Wochenmagazin Le Nouvel Obs. Ein Grund dafür lag auch in den unterschiedlichen Aktionsformen: Rechte Protestler riefen eher zum Konsumboykott auf, dazu zu Hause zu bleiben und die Kinder nicht in die Schule zu schicken, oder zum »Kartenzahlboybott, um die Banken zu ruinieren«. Linke dagegen riefen zum Demonstrieren, Blockieren und Streiken auf. Das ist nun aber viel wahrnehmbarer.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.
Kommentare als RSS Feed abonnieren