›Es muss eine Auseinandersetzung geben‹
Ayse Tekin im Gespräch mit Muriel González Athenas
Das Weltbild des Kanzlers ist das Problem, wenn er vom »Stadtbild« redet. Er zementiert den Weg nach rechts. Er stellt aufgrund von äußeren Merkmalen Menschen unter Pauschalverdacht. Die Stadtgesellschaften sollten das nicht auf sich sitzen lassen und dagegen vorgehen.
Muriel Alejandra González Athenas ist Historikerin, z.Z. an der Universität Innsbruck. Sie flüchtete aus Chile mit ihrer Familie nach Köln, hat hier studiert und im Frauengeschichtsverein gearbeitet. Sie hat u.a. die Kölner Migrantifa mitgegründet.
Meine Reaktion auf die Äußerung von Herrn Merz war: »Nicht ernst nehmen, das ist Blödsinn, was er redet.« Aber viele haben es ernst genommen und es gab viele Reaktionen. Was war dein Gefühl?
Ich habe die Aussage sehr ernst genommen. Er öffnet damit einen Diskursraum, den es bis dahin so nicht gab. Wenn der Bundeskanzler etwas sagt, hat das Gewicht. Selbst wenn er das hinterher wieder zurückgenommen oder halb relativiert hätte, was er nicht getan hat, hat er damit bestimmte Diskurse möglich gemacht und anderen Leuten die Möglichkeit gegeben, genauso zu reden und zu denken. Damit hat er ihnen Recht gegeben in dem rassistischen Vorurteil, alle Migrant:innen seien kriminell.
Man könne die Migrant:innen mehrheitlich an ihrem Äußeren erkennen, das ist es, was die Aussage so gefährlich macht. Es gibt ja schon in der Gesellschaft das Vorurteil, dass Migrant:innen kriminell seien. Vor allem Migranten, also Männer. Er hat ja noch hinterhergeschoben: Fragen Sie mal Ihre Töchter.
Natürlich, wenn man nicht gefühlsmäßig, sondern politisch reagiert, hast du vollkommen recht. Er hat eine Grenze überschritten. Und er hat viel Aufmerksamkeit erregt. Er meinte die Personen, als würden sie tatsächlich das Stadtbild terrorisieren. Da gibt es ganz andere, die das Stadtbild terrorisieren. Denken wir an die Morde an Migrant:innen, an die NSU-Morde und ähnliche, auch an misshandelte Obdachlose oder Homosexuelle.
Statistisch gesehen werden kriminelle Taten mehrheitlich von Deutschen verübt. Rassistisch motivierte rechte Gewalt ist zudem tödlicher, verbreiteter und körperlicher gegen andere Menschen, sie impliziert insgesamt wesentlich mehr Gewalttaten. Bei Migrant:innen hingegen werden auch Verstöße gegen Asylverfahren, Rechtswidrigkeiten im Anerkennungsverfahren usw. zu kriminellen Taten dazugezählt.
Wenn du vom problematischen Stadtbild sprichst, dann zur Aussage, erst »die Töchter schützen«, übergehst und dann dazu stellst, dass Personen gemeint sind, die keinen sicheren Aufenthaltstitel haben und nicht arbeiten, dann ist der Schritt nicht weit, wer als nächstes dran ist: Nach den Migrant:innen kommen die Erwerbslosen.
Merz wollte einen Diskursraum öffnen: kriminelle Ausländer:innen, kriminelle Migrant:innen, die sieht man auf der Straße. Von denen gibt es zu viele. Sie machen unsere Straßen unsicher. Das ist eine ganz klare rechte Strategie überall auf der Welt. Das war sie auch schon in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten.
Der Diskurs ist: »Wir erleben gerade die Spaltung der Gesellschaft, das müssen wir verhindern. Schuld sind die Migrant:innen, die Erwerbslosen, auch gerne jetzt mal die Rentner:innen, die Antifa, die Linken, die Feminist:innen usw.« Sogenannte Ausländer:innen und Migrant:innen, die sich nicht anpassen, gehörten auch in den 80er und 90er Jahren dazu. Das macht für Merz und für viele andere rechte Diskurse die Spaltung aus. Und das ist gefährlich!
Das sehe ich auch so. Nicht umsonst wurde der Vergleich zu einem Goebbels-Zitat aus dem Jahr 1941 gezogen: »Sie [die Juden] verderben nicht nur das Straßenbild, sondern auch die Stimmung.« Und Kohl hat in den 80er Jahren davon gesprochen, dass »das Boot voll ist«. Wir wissen, was dann in den 90er Jahren passiert ist. Mit den Geflüchtetenheimen hat es angefangen. Dann kamen Anschläge auf Wohnhäuser von Migrant:innen und Brandanschläge auf einzelne Personen auf der Straße, die zum Tod geführt haben. Zuletzt die zehnjährige Odyssee, wo man nicht wusste, wer hinter den Morden steckt, bis das mit dem NSU rauskam.
Wir sind mittendrin. Merz bereitet nicht etwas vor, er zementiert den Weg.
Merz hat dann natürlich hinterher geschoben, dass Deutschland Fachkräfte braucht. Er handelt nach dem Nützlichkeitsprinzip.
Das ist so verletzend und so rassistisch und kolonial. Er will einfach Leute, die sich ausbeuten lassen.
Dieses Land hat immer noch nicht gelernt, dass Menschen kommen, wenn man Arbeitskräfte ruft. Das ist 55 Jahre her, dass Max Frisch diesen Satz formuliert hat.
Es geht nicht darum, dass irgendetwas zu verstehen, sondern um rein strategische Äußerungen, mit denen man am rechten Rand gerade gut fischen und mit viel Populismus viele Stimmen bekommen kann.
Die vergangenen Wahlen haben gezeigt, dass diese Strategie nicht viel bringt. Die Leute wählen das Original. Für mich ist es eher eine Wegbereitung von zukünftigen Koalitionen. Derzeit liegen beide – CDU und AfD – laut Umfragen auf dem gleichen Niveau von 26 Prozent. Das wäre bei der nächsten Wahl quasi die nächste Koalition. Was tun wir jetzt dagegen?
Eine Bewegung formieren, das heißt auf Mikroebene sehr viele Bündnisse eingehen, aktiv die Bündnisse suchen. Und ja, selbst in unseren eigenen Communities. Wir müssen Masse auf die Straße bringen mit Gewerkschaften, FLINTA*verbänden, NGOs, Gemeinden und unsere Sichtbarkeit erhöhen.
Langfristig müssen wir uns um mehr Bildung kümmern. Dieser Staat hat sich bildungsmäßig kaputtgespart. Das heißt, die Kinder kriegen eine bestimmte Art von Bildung schon gar nicht mehr, weil es gar keine Zeit, gar kein Geld, gar kein Personal dafür gibt. Bildung macht dich zu einem kritischen Menschen, zu einem antirassistisch und antisexistisch denkenden Menschen. Deswegen haben die Rechten gar kein Interesse daran, Schulen zu fördern und streichen die Gelder immer bei der Wissenschaft.
Brauchen wir eine neue Studierendenbewegung, braucht es mehr Studierende im Stadtbild?
Die politisierten Studierenden werden zurzeit ziemlich kriminalisiert. An ganz vielen Universitäten ist beispielsweise die Organisierung von Diskussionsräumen zum israelischen Krieg verboten worden, es wurden keine Räume zur Verfügung gestellt. Sie wurden von den Universitäten ausgeschlossen. Dozent:innen wurden von Direktorinnen und Dekanen zur Ordnung gerufen.
Mit diesem ganzen antipalästinensischen Diskurs hat sich der sowieso schon vorhandene, vor allem antimuslimische Rassismus und Kolonialismus an den Universitäten noch weiter ausgebreitet. Selbst Wissenschaftler:innen, die aus den Postcolonial Studies stammen und sich sozusagen wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen, sind unter Druck geraten. Es hat Entlassungen gegeben.
Dieser Diskurs und die Verbote funktionieren ja nur, weil alle sie mittragen und dann auch darin kreativ werden. Aber wir wissen schon lange, dass dieser Diskurs in Deutschland nicht wirklich der Bekämpfung von Antisemitismus dient, sondern dazu, sich als Gutmensch, emanzipierte Deutsche, moderne Deutsche vorzustellen, die nicht antisemitisch sind. Rassismus kann auf diese Weise ungefiltert verbreitet werden, weil es ja nur vorgeblich um Antisemitismus geht.
Nachdem die Universitäten auf Trab gebracht worden sind, will man jetzt woanders aufräumen! Das zeigt, dass wir Gegenöffentlichkeit erzeugen müssen. Nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch real. Was ist deine Empfehlung für die Stadtgesellschaft?
Es geht natürlich nicht nur online, deswegen sage ich, wir müssen auf die Straße und Bündnisse suchen. Wir müssen mit den Medien besser umgehen, denn das ist genau das, was der rechte Populismus macht. Es hat ja den Aufschrei der sog. Töchter gegeben, das ist eine weiße deutsche Bewegung, aber gut, dass sie auf die Straße gehen, und ich finde es auch gut, dass sich Schauspielerinnen zusammentun und reagieren.
Aber alle anderen müssten halt auch aufstehen und sagen: Was redest du für einen Scheiß? Wer bist du, der aus einem Elfenbeinturm so redet? Geht auf die Straße, in die Fabriken, die Krankenhäuser, in die Altenheime und schaut, wer da arbeitet! Es muss einen Auseinandersetzungsprozess geben. Der globale Kapitalismus hat die Leute so individualisiert, dass das kollektive Sich-Organisieren ganz schön viel Überwindung kostet.
Wir müssen sichtbarer sein, auf der Straße, aber auch in den Social Media. Es gibt sehr gute Contentcreators im Netz, aber noch zu wenige. Auch eine Bubble hat Wirkung.
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