Anmerkungen zum Kommentar von Angela Klein in SoZ 11/25
von Hermann Dierkes
Den nachstehenden Leserbrief dokumentieren wir seiner Länge halber als Debattenbeitrag. Die SoZ hat sich bisher mit einer Auseinandersetzung mit Hamas zurückgehalten, weil nicht der Eindruck entstehen sollte, wir würden die palästinensische Widerstandsorganisation mit dem Terror der israelischen Regierung auf dieselbe Stufe stellen. Nachdem nun aber eine Atempause eingetreten ist, wie prekär auch immer, wird ein kritischer Rückblick auf das Geschehen notwendig sein.
d.Red.
Wieder einmal ist mir negativ aufgefallen, dass die SoZ mit dem Thema Gaza zu sparsam und zunehmend fragwürdig umgeht. Es handelt sich immerhin um Völkermord, das schlimmste Verbrechen dieses Jahrhunderts, an dem auch Deutschland als Komplize beteiligt ist. Auch als Monatszeitung müsste die SoZ ganz anders gewichten, dabei wichtige Ereignisse wenigstens kurz reflektieren, sich Forderungen oder Initiativen aus der Solidaritätsbewegung aufgeschlossen zeigen usw.
Ich nenne nur die Forderung nach Aufnahme von Schwerverletzten in deutsche Krankenhäuser, was inzwischen etliche Länder – darunter sogar Italien – machen, die deutsche Regierung aber ablehnt, die Forderung nach Freilassung der verschleppten und gefolterten Krankenhauspersonale, wirksamer Sanktionen gegen den Terror in der Westbank und ständigen Landraub, Anprangern der Zustände in den israelischen Foltergefängnissen und sofortige Freilassung der Verschleppten und Inhaftierten, darunter wichtiger politischer Persönlichkeiten wie Marwan Barghouti.
Was offensichtlich unterbelichtet ist, ist die ständige und systematische Auseinandersetzung mit der verheerenden, komplizenhaften Nahostpolitik der deutschen Regierung und der EU (Ablehnung von Waffenstillstand, anhaltende Unterstützung des Völkermords – des schlimmsten Verbrechens in unserem Jahrhundert – Blockade von wirksamen Sanktionen usw.). Steht der Hauptfeind nicht mehr im eigenen Land? Ich vermisse auch regelrechte öffentliche Kampagnen der ISO zum Thema Gaza/
Westbank und Nahost, aber das ist noch ein anderes Thema, auf das ich jetzt nicht eingehen kann.
Ich will mich hier auf das Thema »Hamas« (bzw. den gesamten bewaffneten Widerstand) in Gaza und der Westbank konzentrieren, weil ich der Meinung bin, dass die SoZ seit einigen Ausgaben immer fragwürdiger damit umgeht. Bisheriger Höhepunkt war der Artikel von Elfriede Müller in der Maiausgabe. Aber das scheint sich fortzusetzen. Ich stehe mit meiner Kritik übrigens nicht allein.
Frage vorab: Gibt es noch ein grundsätzliches Einverständnis, dass diese palästinensischen Organisationen, deren bedeutendste die Hamas ist – im Unterschied zu der kollaborierenden »Autonomiebehörde« in Ramallah – einen antikolonialen Befreiungskampf gegen das zionistische Israel führen, einen Kampf, der sich gegen ein auf Expansion, umfassende Unterdrückung, Vertreibung und das palästinensische Selbstbestimmungsrecht verweigerndes Regime wendet? Halten wir noch gemeinsam an der traditionellen Position fest, dass die politische – auch nichtsozialistische – Ausrichtung von Widerstand gegen koloniale Unterdrückung nicht ausschlaggebend sein kann für die Parteinahme von Linken?
Dies bedeutet nicht, dass wir den Widerstand kritiklos unterstützen. Aber unsere Kritik muss konkret und wahrhaftig sein und im Verhältnis stehen zu übergeordneten Fragen. Das ist leider in Angelas Artikel überhaupt nicht der Fall.
Etliche Aussagen der SoZ aus den letzten Monaten lassen befürchten, dass der Grundsatz »bedingungslose, wenngleich kritische Unterstützung« aufgeweicht wird.
In dem Meinungsartikel von Angela Klein in SoZ 11/25 wird den Widerstandsorganisationen unterstellt, sie »feierten« den 20-Punkte-Plan von Trump und Co. auf geradezu opportunistische Weise als »Teilerfolg auf dem Weg zur Beendigung des Leidens und als Niederlage der israelischen Politik des Völkermords«.
Angela wirft ihnen vor, sie verlören »kein Wort des Schmerzes über das reale Leiden des palästinensischen Volkes«, sie ließen »keinen Funken Nachdenklichkeit in bezug auf die Folgen der sog. Al-Aqsa-Flut erkennen«. Für sie eine »unglaubliche Anmaßung«.
Wir haben es mit diplomatischen Stellungnahmen der Widerstandsorganisationen zu tun und nicht mit (internen) politischen Analysen. Die Guerillaorganisationen sind – trotz großer Opfer und schwerer Verluste – nicht geschlagen, und die stärkste Militärmacht der Region hat ihre Kampfziele trotz absoluter technologischer Überlegenheit, allerschmutzigster, völkermörderischer Kriegsführung und massiver Unterstützung des »wertebasierten Westens« nicht durchsetzen können.
Palästina ist – zugegebenermaßen zu einem sehr hohen Preis – aus der politischen Versenkung geholt worden und steht im Zentrum der Weltpolitik. Der Kolonialstaat Israel rutscht in eine immer tiefere gesamtgesellschaftliche Krise. Er versucht, sein Scheitern in Gaza mit wachsendem Terror, Vertreibung und weiterer Annexion im Westjordanland zu kompensieren.
Der Widerstand hat sich auf den »Trump-Plan« eingelassen, nicht weil er ihn für einen Königsweg zu Freiheit und Selbstbestimmung hält, sondern weil er ihm aufgezwungen wurde, weil er weitgehend im Stich gelassen wird, Israel immer noch – auch von Deutschland – Unterstützung genießt, der Völkermord als schlimmstes Verbrechen unseres Jahrhunderts nicht verhindert wird und weil eine Atempause erforderlich ist.
Der Widerstand ist z recht nicht bereit, sich entwaffnen und deportieren zu lassen, weil er keinen Selbstmord begehen will und die Plünderung von Hilfslieferungen durch – mit Israel kollaborierenden – Banden verhindern muss. Er sagt zurecht: Solange die Besatzung andauert, brauchen wir Waffen.
Mehrmals verbreitete die SoZ, die Unterstützung des Widerstands sei rückläufig, die Ablehnung der Hamas wachse bereits seit dem Ausfall vom 7.10.23 usw. Eine glatte Fehleinschätzung! Der Widerstand geht erstens über die Widerstandsorganisationen hinaus und diese sind des weiteren nach wie vor tief verwurzelt in der Bevölkerung. Die Organisierten teilen das entsetzliche Leid und den Hunger, den Schmerz über massakrierte Zivilbevölkerung – darunter so viele eigene Verwandte und Mitkämpfer – willkürliche Gefangennahmen, Verschleppungen und Folter. Verräterische Organisationsansätze und Kollaborateure haben nur ganz geringe Chancen. Jüngste Meinungsumfragen in Gaza und der Westbank sehen stabile, sogar wieder steigende Zustimmungswerte von über 50 Prozent.
Hamas und Qatar
Wenn die SoZ-Redaktion der Meinung ist, dass der 7.Oktober nicht hätte stattfinden dürfen, weil die Opfer durch den israelischen Vernichtungskrieg zu groß sind, so sollte sie »Nägel mit Köpfen machen«. Was bleibt dann z.B. von der Pariser Kommune (30.000 Tote), der Oktoberrevolution und dem anschließenden Bürgerkrieg (3 Millionen Tote) oder der algerischen Revolution (1 Million Tote). Hätte man in all diesen Fällen »nicht zu den Waffen greifen dürfen«?
Wollen wir jetzt von blutigster Konterrevolution bis hin zu Völkermord ablenken, die Mörder entlasten, dem Widerstand die Opfer anlasten oder ihm zumindest »Mitschuld« geben, weil er die jahrzehntelange Unterdrückung und Perspektivlosigkeit nicht mehr ertragen wollte? Ich hoffe nicht, dass sich die SoZ auf dieses geschichtsrevisionistische dünne Eis begibt.
Sauer aufgestoßen sind mir auch schmähende Aussagen wie »Hamas hat einen Unterschlupf in Doha«. Politische Leiter von Hamas sind dort – und bekanntlich auch nicht sicher vor israelischen Mordanschlägen. Die militärische Leitung des Widerstands verharrt vor Ort in Gaza – und Israel versucht ständig, sie zu vernichten.
Nur zur Erinnerung: Viele wichtige antikoloniale Organisationen hatten politische Zentren im Ausland, um der blutigen Repression zu entgehen und handlungsfähig zu werden, angefangen bei der algerischen FNL der 50er und 60er Jahre, die sogar im Adenauer-Deutschland gegen das koloniale Frankreich aktiv war. Die PLO musste sich mit Arafat und Abu Jihad in den 80er Jahren nach Tunis begeben. Wer aus den damaligen Solidaritätsbewegungen hat das herabsetzende Etikett »Unterschlupf« verteilt?
Nicht nachvollziehbar ist für mich auch die Kritik im letzten Meinungsartikel, der Widerstand begrüße ausdrücklich die Rolle von Ägypten, Qatar und der Türkei – die vorgesehen sind, den Waffenstillstand zu überwachen. Und: »Kann man es deutlicher ausdrücken, dass die Hamas keine Widerstandsperspektive für das palästinensiche Volk bietet – nur eine für den eigenen Machterhalt?«
Diese Kritik halte ich für substanzlos, vorurteilsbeladen und unterstellend – oder beruht auf schlichtem Unwissen. Der Widerstand hat immer wieder erklärt, auch in den Verhandlungen in Doha und Kairo, dass er für einen dauerhaften Waffenstillstand kämpft, den Rückzug der israelischen Truppen, den Wiederaufbau Gazas und das Selbstbestimmungsrecht Palästinas erreichen will.
Er ist sich vollkommen bewusst, dass das Sich-Einlassen auf den 20-Punkte-Plan ein riskantes politisches »gambling« ist. Mit einer internationalen Garantietruppe verbindet der Widerstand die Hoffnung, dass die Bombardierungen, Zerstörungen und Massaker aufhören, internationale Medien endlich zugelassen werden, Hilfslieferungen freien Zugang haben und ungehindert verteilt werden können.
Hamas hat erklärt, dass sie aus der Verwaltung Gazas ausscheiden könnte, wenn eine palästinensische Verwaltung übernimmt. Der Widerstand hat außerdem erklärt, dass er feindselige Aktivitäten fremder Truppen als Teil der Besatzung ansieht und bekämpfen wird. Was Wunder, dass das israelische Regime das bisher strikt ablehnt und bestenfalls Militärs zulassen will, die es steuern kann wie eine Marionette und die mithelfen, das zu erreichen, was Israel nicht geschafft hat: Den Widerstand vernichtend zu schlagen.
5.11.2025
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