zusammengestellt von Norbert Kollenda
In Polen wird derzeit weiterhin viel über Geflüchtete geschrieben und polemisiert. Positiv sticht die jüngste Aussage von Bischof Rys hervor. Doch in der Gesellschaft brodelt es – und eine Wissenschaftlerin warnt, dass Fremdenfeindlichkeit inzwischen in der Mitte angekommen ist. Außerdem heißt es Abschied nehmen von Andrzej Duda. Der Blick richtet sich auch auf den Zustand der Regierungsparteien. Und schließlich geht es um die Schlesier, die in der Wehrmacht dienten – und deren Nachfahren keine Nazis sind. (Norbert Kollenda)
Kardinal Rys ruft zu Respekt gegenüber Geflüchteten auf
OKO.press, 21. Juli 2025
Grzegorz Wojciech Rys, der Bischof von Lódz, gilt im Vergleich zu vielen seiner Amtskollegen als offen und reformorientiert. Früh stellte er sich auf die Seite von Migrant:innen – wohl nicht zufällig wurde er von Papst Franziskus zum Kardinal ernannt. Die traditionsreichen Diözesen Krakau und Wroclaw gingen dagegen leer aus. (Norbert Kollenda)
In einem Brief an die Gläubigen seiner Diözese ruft Kardinal Rys dazu auf, Geflüchteten und Migrant:innen gemäß der katholischen Soziallehre zu begegnen:
Wenn ihr euch entscheidet, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen – besonders wenn es um Migrant:innen und Geflüchtete geht –, dann tut es in tiefer Einheit mit der wahren Lehre Christi und der Kirche. Seid ihr dazu nicht bereit, dann habt wenigstens den Mut zu schweigen und nicht noch Öl ins Feuer zu gießen.
Der Brief war seit dem 17. Juli online, wurde jedoch erst nach seiner Verlesung in den Kirchen am 20. Juli breiter wahrgenommen. Darin betont Rys:
Die katholische Soziallehre sagt ganz klar, dass jeder Mensch das Recht hat, den Ort zu wählen, an dem er leben möchte – und dort in seinen Überzeugungen, seiner Kultur, Sprache und Religion respektiert zu werden. Das Christentum ist keine Stammesreligion, sondern – wie es das Konzil lehrt – ein Zeichen der Einheit der gesamten Menschheit.
Rys betonte, seine Worte seien keine politische Stellungnahme, sondern ein Appell, zu den kirchlichen Lehren im Umgang mit Geflüchteten zurückzukehren.
Feindbild Deutschland – wie politischer Frust kanalisiert wird
studioopinii, 25. Juli 2025
Nach dem Zweiten Weltkrieg war für Polen klar: Der Feind sind die Deutschen. In der Ära Gomulka – von Oktober 1956 bis Dezember 1970 Erster Sekretär der PZPR – kam das Attribut „ewig“ hinzu. Historisch nicht besonders akkurat, doch wie bekannt, schreibt der Führer die Geschichte.
Jaroslaw Kaczynski übernahm dieses Schema von Gomulka – und man muss zugeben, er hatte damit Erfolg. Denn obwohl Deutschland im Laufe der Jahre zu einem immer freundlicheren Nachbarn wurde, obwohl die polnische Wirtschaft in erstaunlichem Maß von der Zusammenarbeit profitierte – so sehr, dass sich deutsche Unternehmer zeitweise bei Angela Merkel beschwerten, Polen dränge sie in vielen Bereichen aus ihrem eigenen Markt und verzeichne eine positive Handelsbilanz – ließen sich viele Pol:innen einreden, der Deutsche sei der Feind, der nur darauf warte, ihnen alles zu nehmen.
Eine gedankenlose Herde, geführt von einem Hirten – es ist so viel einfacher, einen gemeinsamen Feind zu benennen. Man muss nichts können, nur denjenigen hassen, auf den der Anführer zeigt. Jaroslaw Kaczynski, der selbst nicht viel kann (und das ist noch milde formuliert), aber von einem krankhaften Machtstreben besessen ist, beherrscht diese Kunst perfekt. Über die Jahre hat er nahezu zur Perfektion gebracht, Menschen zu täuschen. Das Schema ist stets dasselbe: Man präsentiert jemanden oder etwas, das nach Ansicht des Führers für all ihr Unglück verantwortlich ist, und ruft dazu auf, dagegen zu kämpfen – im Gegenzug verspricht man ewiges Glück. Zumindest bis zur Suche nach dem nächsten Feind.
Rechte lancieren Falschmeldungen
OKO.press, 31. Juli 2025
In Polen schüren Rechte und extreme Rechte seit Monaten die Stimmung gegen Geflüchtete, indem sie das Thema politisch instrumentalisieren. Sie warnen vor einer angeblichen „Flut illegaler Einwanderer“ und stellen Migrant:innen als Bedrohung dar – häufig auf Grundlage von Falschmeldungen.
So schrieb Marek Jakubiak, ehemaliger rechtsextremer Präsidentschaftskandidat, auf X:
Heute um etwa 4:50 Uhr hat die polnische Polizei in Sosnowiec einen Ingenieur mit einer Machete erschossen. Er ging aggressiv auf sie zu.
Den Begriff „Ingenieure“ benutzt die Rechte abfällig für Menschen mit dunklerer Hautfarbe, die sie als Migranten einstuft. Ein TV-Kommentator sekundierte:
Sosnowiec. Es hat begonnen. Gestern hat Tusk etwas über Toleranz gegenüber Ausländern gesagt. Sie werden uns vernichten, wenn wir diesen Zustrom illegaler Migration nicht stoppen.
Die Polizei stellte klar: Der Mann sei Pole, kein Migrant. Er habe keine Ausweispapiere bei sich gehabt, weshalb seine Identität zunächst überprüft werden musste. Die Behörde bittet darum, „solche tragischen Ereignisse nicht zu nutzen, um die Öffentlichkeit bewusst in die Irre zu führen“.
Die jüngste Anti-Einwanderer-Kampagne in Polen sendet eine offen rassistische Botschaft: Ein Migrant – und damit eine Bedrohung – ist jemand, der nicht weiß ist, und ein Pole könne nur weiß sein. Neu sei das nicht, sagt Dr. Margaret Ohia-Nowak vom Institut für Sozialkommunikations- und Medienwissenschaften der UMCS:
Bereits nach 1989 traten Skinheads, Hooligans und Neonazis offen auf, und rassistische Aggressionen nahmen im öffentlichen Raum zu. In den 1990er Jahren verstärkten sich fremdenfeindliche Haltungen im Zuge der neu gewonnenen Freiheiten, des Kapitalismus und der Orientierung am Westen.
Zu Beginn der 2000er Jahre hat sich das Klima liberalisiert, die Vision eines modernen, multikulturellen Europas überwog – zumal viele Pol:innen selbst als Arbeitsmigrant:innen in den Westen gingen. Rassismus blieb damals weitgehend eine Domäne extremistischer Gruppen, die etwa am Unabhängigkeitstag Parolen wie ,Polen ganz weiß’ skandierten.
Mit der humanitären Krise 2015 änderte sich die Lage: Die Rechte nutzt die Gelegenheit, offen ihre nationalistischen, fremdenfeindlichen und weiß-supremacistischen Wurzeln zu zeigen. Die Rhetorik schwankte zwischen einer angeblichen ,Invasion’ von Terroristen, der Verbreitung von Krankheiten und islamfeindlichen Tönen. Inzwischen ist Radikalität kein Randphänomen mehr – viele übernehmen die Argumente der extremen Gruppen, ohne sich selbst als rassistisch zu betrachten.
Abschied von Duda – verlorene zehn Jahre
Przeglad, 4. August 2025, Autor: Robert Walenciak
Das Ende von Andrzej Dudas Amtszeit als Präsident ist ein zutiefst bedauerliches Schauspiel. Zehn Jahre lang musste man mit ansehen, wie ein Mann ohne besondere Fähigkeiten und ohne Rückgrat, aber mit einem grotesken Selbstvertrauen in seine vermeintliche Kompetenz, ein Amt ausübte, dem er sich niemals hätte nähern sollen – eine Qual, garniert mit einem bitteren, memetauglichen Lächeln. Über seiner gesamten „Präsidentschaft“ lag der Schatten einer seiner ersten Amtshandlungen: die Begnadigung von Kaminski und Wasik im Jahr 2015, die er 2024 – nach dem rechtskräftigen Urteil in ihrem Fall – mit einer weiteren Begnadigung bekräftigte. Über diese peinlichen und kompromittierenden Entscheidungen ist bereits viel berichtet worden.
Im letzten Monat seiner Zeit im Präsidentenpalast griff Duda erneut zu diesem Privileg und begnadigte politische Freunde und Parteikollegen. Diesmal investierte er in die politische Nähe zum PiS-Nachfolger Robert Bakiewicz, einem offen auftretenden PiS-Faschisten. Bakiewicz war verurteilt worden, weil er die Aktivistin Katarzyna Augustynek, besser bekannt als „Babcia Kasia“, von der Treppe einer Kirche gestoßen hatte. Gazeta Wyborcza berichtete:
Es geschah während einer Frauenprotestaktion in Warschau im Jahr 2020 – einer von vielen, die nach der Verkündung der Änderungen des Abtreibungsgesetzes durch das Verfassungsgericht ausgebrochen waren. Nationalistische Kreise mobilisierten sich damals, um die Kirchen gegen die Protestierenden zu ‚verteidigen‘. Bakiewicz und seine Leute bewachten an diesem Tag den Eingang zur Heilig-Kreuz-Kirche in der Krakowskie Przedmiescie in Warschau. Die protestierenden Frauen wurden mit Gewalt entfernt. ‚Babcia Kasia‘ war nicht die einzige Aktivistin, die verletzt wurde.
Bakiewicz, einer der Organisatoren der Unabhängigkeitsmärsche, bei denen rechtsextreme, faschistische und rassistische Parolen skandiert und Aggressionen offen zur Schau gestellt werden, tarnt diese Aktionen gern als fromme Pilgerfahrten katholischer Familien mit Kindern. Er ist ein direkter Nutznießer der PiS-Subventionen für alles, was fremdenfeindlich, hasserfüllt und pseudopatriotisch ist. Er verkörpert – oft mit zu einer Grimasse des Hasses verzogenem Gesicht – das „braune Polen“: ein kämpferisches, aggressives Polen, das immer häufiger und ungestraft agiert. Mit seiner Begnadigung billigt Andrzej Duda nicht nur die faschistische Gewalt, er stellt sie faktisch außerhalb des Gesetzes. Dass der promovierte Jurist Duda vom Recht nichts versteht, hat er in beiden Amtszeiten hinreichend bewiesen. Diese Geste jedoch ist noch etwas anderes: der Versuch, Akzeptanz bei den Extremsten der Extremisten zu finden – in einer Zeit, in der der Begriff der politischen Rechtsextremität längst im politischen Mainstream verharmlost wird. Die wachsende Atmosphäre des pogromartigen Hasses auf „die Anderen“ endet niemals von selbst – wir erleben bereits Vorfälle mit eindeutig pogromartiger Dynamik und entsprechendem Drehbuch. In dieses Szenario fügt sich unser zufälliger Präsident nahtlos ein, der gerade die politische Bühne verlässt. Er will weiter mittanzen – und es kümmert ihn nicht, dass er damit in einer militant auftretenden Truppe marschiert. Wo sonst sollte er Zuflucht finden? Er deutet an, dass er nach dem Scheitern seiner außenpolitischen Ambitionen zumindest polnischer Ministerpräsident werden wolle – ein bescheidener Mann, der sich seiner Vorzüge bewusst ist.
Ein Kommentator bei der Krytyka Polityczna, spottet:
Duda versucht sich in einer neuen Erzählung, in der Rolle des strengen Vaters der Nation, der Richtern mit der Hinrichtung droht und gleichzeitig Bakiewicz begnadigt. Nur endet dieses Schauspiel des universitären Faulpelzes, dessen Gebrüll eher amüsiert als erschreckt, am 6. August.
Die Zukunft dieses politischen Versagers, verwöhnt vom luxuriösen Leben in einer gläsernen Palastblase, sieht ohnehin wenig rosig aus. Der Kommentator schreibt weiter:
Wäre die PiS noch in der Krise, könnte Dudas Popularität trotz allem ein Trumpf sein. Doch die PiS ist auf dem Vormarsch, und Duda wird nicht gebraucht – ja, er könnte sogar schaden, weil er Nawrocki ungewollt etwas von seinem Glanz nehmen würde. Wahrscheinlich weiß er das selbst. Und Kaczynski, der es liebt, seine Untergebenen zu demütigen, könnte ihm ein noch viel schlimmeres Schicksal bereiten als Tusk einst Schetyna. [Tusk hatte Schetyna nach seiner Rückkehr aus Brüssel kurzerhand den Vorsitz der Bürgerplattform entzogen – Norbert Kollenda]
Der „Dritte Weg“ auf der Kippe
https://krytykapolityczna.pl/, vom 9. Juli 2025
Entgegen der medialen Hysterie hat das von Holownia initiierte Spiel durchaus Logik. Der Vorsitzende von Polska 2050 drängt sich nicht nur innerhalb der Koalition nach vorne und droht Tusk mit dem Sturz seiner Regierung, sondern signalisiert den Wähler:innen auch, dass er weiterhin eine echte „dritte Option“ sein will – und nicht bloß eine Kopie der Bürgerplattform (PO).
Selbst die größten Optimisten verlieren inzwischen den Glauben, dass die Regierungskoalition bis 2027 etwas beschließen kann, das nicht wie eine PiS-Light-Version wirkt, sondern tatsächlich die eigenen Wahlversprechen umsetzt. Diese Lähmung dauert bereits seit über einem Jahr an, und die verlorene Präsidentschaftswahl hat die Misere der Regierung sowie den beschleunigten politischen Niedergang nur noch deutlicher gemacht.
Immer mehr Politiker spüren das nahende Ende der „Koalition des 15. Oktober“ und versuchen, sich aus dieser Zwickmühle zu befreien – oder zumindest das Blatt zu wenden. Einer von ihnen ist Szymon Holownia, der ursprünglich nicht als Alternative zur PiS, sondern zu Tusk gedacht war. Er sollte den echten „Dritten Weg“ verkörpern und so enttäuschte Tusk-Wähler wieder ins demokratische Lager zurückholen. Doch Holownia und seine Polska 2050 sind weit zurückgefallen – und es sieht so aus, als könnten sie bei der nächsten Wahl nicht einmal mehr in den Sejm einziehen.
Koalitionspartner zwischen Eitelkeit, Ehrgeiz und Eigenwillen
studioopinii, 29. Juli 2025
Seit Wochen sind ihre Namen in aller Munde – und das meist in wenig schmeichelhaften Zusammenhängen. Was dachten sich diese koalitionären Abweichler bisher eigentlich? Dass in einem Vierergespann jedes Pferd in eine andere Richtung laufen kann? Wir werden sehen, was der Teufel nach dieser groß angekündigten, lange im Voraus avisierten, aber nur schleppend vorbereiteten Regierungsrekonstruktion bringt. Die schwierige pränatale Phase ist nun beendet, und das Konstrukt startet mit einer vorsichtigen, aber mehrköpfigen Führung in eine unsichere Zukunft.
Über Donald Tusk ließe sich stundenlang reden: über seine autokratischen, bisweilen demagogischen Neigungen, über seine lähmende Handlungsunfähigkeit, die aus übermäßig vorsichtiger Kalkulation resultiert, und über sein Schwanken zwischen klaren Entscheidungen und lähmender Unentschlossenheit. Unter dem Druck von Umfragen, massiver Expertenkritik und hasserfülltem Spott der Opposition treibt er die Dinge plötzlich auf die Spitze – ohne Rücksicht darauf, ob er dabei einige Köpfe im Team verliert, vielleicht gerade jene, denen es an Ehre oder auch nur einem Mindestmaß an Anstand fehlt. Auf einmal gibt er den Risikofreudigen. Kein Spaßmacher mehr? Ein Erpresser?!
Holownia (Chef von Polska 2050 und Marschall des Sejm) ist ein Unruhestifter – ein Feuerwehrmann-Pyromane sozusagen: Er steht als Erster und Opfersbereitester am Brandherd, um zu löschen, verschwindet jedoch bei den geringsten Verdachtsmomenten sofort im Nebel der Unklarheit. Selbst wenn er zur Räson gebracht wird – sei es durch den Verzicht auf die Durchsetzung persönlicher Pläne und eigener Lösungen oder durch das Aufgeben jeder Rechtfertigungshaltung – wirkt er wenig glaubwürdig.
Kosiniak-Kamysz (Chef der PSL und Verteidigungsminister) gleicht einem Langstreckenschwimmer, der unermüdlich zwischen dem „heiligen“ Bauernbeton und dem liberalen Kern der Mutter-Koalition hin- und herzieht. Er hat bereits eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Wenn ihm die Kräfte schwinden, zeigt er es nicht und gibt nicht auf – doch niemand weiß, wie lange er noch durchhält oder ob ihn der militärische Drill inzwischen völlig vereinnahmt hat.
Die breit aufgestellte Linke wiederum ist kaum ernst zu nehmen: ein kurzatmiger Mischmasch aus allerlei Vielfalt. Aus Vernunft hat sich ihr Skipper in die koalitionäre Schaluppe als Ruderer eingekauft. Zufrieden wirkt er dabei nicht, zu groß ist das Getöse, zu hoch der Prestigedruck. Ein Teil der radikaleren Kapitäne ist über Bord gegangen. Insgesamt ist das kein Vorteil, eher ein Ballast, der zusätzlich für Gärung sorgt. Czarzasty, Chef der Neuen Linken, trägt hier ein sichtlich unglückliches Gesicht bei einem schlechten Spiel.
Alle – ob geschmäht oder gelobt – beteuern unermüdlich ihren Willen zum Teamspiel. Doch ob sie wenigstens die Ruder in die Dollen setzen können, geschweige denn wirklich rudern – das bleibt offen.
Die wahren Erben des Faschismus
Dariusz Zalega, Journalist, passionierter Erzähler der Geschichte Oberschlesiens, 22. Juli 2025
krytykapolityczna.pl
Rückblickend auf die Septemberkampagne 1939 – den Abwehrkampf gegen den deutschen Aggressor – muss man feststellen: Es dient allein schon der historischen Aufklärung, dass mehr ehemalige Bürger Polens in der Wehrmacht, der Luftwaffe oder der Kriegsmarine dienten als Polen in den polnischen Streitkräften. Die meisten hatten keine Wahl – sie wurden eingezogen. Deshalb ist die Affäre um die Danziger Ausstellung „Nasi chlopcy“ („Unsere Jungs“) ein großer Bluff – angeheizt von einem aufgemotzten Nationalismus jener, die gewohnt sind, von öffentlichen Geldern zu leben.
In Oberschlesien haben wir Ähnliches erlebt, wenn auch in kleinerem Maßstab – hier hatte fast jede Familie jemanden in deutscher Uniform. Von der Veröffentlichung der Bücher von Alojz Lysko, über das Theaterstück „Mianujom mnie Hanka“ („Sie nannten mich Hanka“, schlesisch) und das Buch „Kajs“ („Irgendwo“, schlesisch) von Zbyszek Rokita bis hin zu den wissenschaftlichen Arbeiten von Professor Ryszard Kaczmarek über Schlesier in der Wehrmacht – all das haben wir durchlebt, ohne die Geschichte ändern zu können.
200.000 Schlesier in feldgrau – wer waren sie wirklich?
Nach der Eingliederung der sogenannten „Deutschen Gebiete“ wurde Katowice 1940 Hauptstadt der neuen Provinz Oberschlesien. Ein unerwünschter Teil der polnischen Bevölkerung sollte umgesiedelt werden, während die Schlesier „in den Kreis der deutschen Gemeinschaft zurückkehren“ sollten. Über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung – vorwiegend im Dabrowaer Becken – sollte noch entschieden werden.
Im März 1941 begann die Aktion „Deutsche Volksliste“, in die sich die deutsche Bevölkerung eintragen sollte. Unter den Schlesiern, die 1920 nach Polen gekommen waren, herrschte eine große Enttäuschung über den polnischen Staat. Die Stärke Deutschlands, unerfüllte materielle Bedürfnisse und die Angst vor Repressionen führten dazu, dass sich die Oberschlesier massenhaft eintragen ließen. Innerhalb von zwei Jahren stand die Hälfte der Bevölkerung – 1,29 Millionen Menschen bis Ende 1943 – auf dieser Liste.
Appelle, sich eintragen zu lassen, kamen nicht nur aus Berlin, sondern auch von der polnischen Exilregierung in London und der katholischen Kirche. Beide fürchteten, dass sonst die „pro-polnischen Elemente“ deportiert würden.
Die Eintragungen wurden in vier Kategorien unterteilt:
- I und II: aktive und passive Mitglieder der deutschen Minderheit in Polen vor dem Krieg,
- III: besonders beliebt, umfasste 73 % der Personen deutscher Herkunft,
- IV: 4 % pro-polnische „Verdächtige“.
Wer sich nicht eintragen ließ, wurde oft umgesiedelt. Die Wehrpflicht galt auch für Angehörige der Gruppe III – obwohl sie nicht dieselben Rechte wie „echte“ Deutsche hatten. So konnte es vorkommen, dass der Sohn an der Front kämpfte, während der Vater im KZ saß.
Mindestens 200.000 Schlesier dienten in deutschen Uniformen. An der Front erlebten sie dasselbe Schicksal wie andere Soldaten der deutschen Kriegsmaschine: Einige wurden zu Kriegsverbrechern, andere schlossen sich später dem Widerstand an – in Frankreich, Jugoslawien, der Slowakei oder Italien. Die meisten wollten einfach nur überleben – wie es eben in Zeiten der Entmenschlichung und Apokalypse namens Krieg üblich war.
Kriegserinnerungen und vergessene Verbrechen aus den Familienalben
Die Erinnerung der Schlesier an den Krieg unterscheidet sich stark von der im übrigen Polen. Im Grunde begann der Krieg hier erst im Januar 1945 mit dem Einmarsch der Roten Armee. Bis dahin war Oberschlesien vor Luftangriffen des Dritten Reichs geschützt.
Während im Dabrowaer Becken Galgen errichtet wurden, in der Gestapo-Zentrale in Katowice das Fallbeil fiel und in Auschwitz-Birkenau die Schornsteine qualmten, schien Oberschlesien wie eine Oase des Friedens. An den Krieg erinnerte man sich hier vor allem dann, wenn die Nachricht vom Tod eines Onkels oder Sohnes von der Ost- oder Westfront eintraf.
Nach dem Krieg sorgte das dominierende Narrativ aus Warschau dafür, den „Wehrmacht-Opa“ zu verschweigen. Im schlesischen Milieu entwickelte sich gar eine gewisse Mythologisierung – man verdrängte, dass die eigenen Großväter an schrecklichen Taten beteiligt gewesen sein könnten.
Jan Grabowski, Autor des ausgezeichneten Buchs „Auf dem Posten. Die Beteiligung der polnischen Polizei und Kriminalpolizei an der Vernichtung der Juden“, erinnert daran, dass viele deutsche Gendarmen im Generalgouvernement – mitverantwortlich für Verbrechen – aus Schlesien stammten.
Am 22. Februar 1946 wurde in Polen das erste Todesurteil nach dem Krieg vollstreckt: Im Gefängnis von Katowice wurde Karol Kurpanik aus Fryna (heute Nowy Bytom) gehängt. Er war Berufssoldat der polnischen Armee, diente dann in der Waffen-SS und schließlich von Januar 1942 bis Januar 1945 als Mitglied der Lager-SS in Auschwitz-Birkenau. Dort war er an der Rampe eingesetzt, schickte Kranke, Alte und Kinder in die Gaskammern und schlug auf jene ein, die zu fliehen versuchten.
Deutsche Verbrecher hatten viele Komplizen
Niemand will Hitlerdeutschland von seiner Schuld für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, einschließlich des Holocaust, entlasten. Aber viele Nationen setzen sich mit der Tatsache auseinander, dass auch ihre eigenen Bürger an den Nazi-Verbrechen beteiligt waren – darüber schreiben Niederländer, Franzosen und vor allem deutsche Historiker.
Hier lohnt es sich, auf eine Behauptung polnischer „Turbopatrioten“ einzugehen: Es habe keine polnischen Freiwilligenverbände der Waffen-SS gegeben. Das stimmt – aber nur, weil Hitler sie nicht wollte. Hätte er anders entschieden, hätten sich problemlos Freiwillige aus den Kreisen der polnischen extremen Rechten gefunden.
Dass Antideutschsein kein Hindernis für mörderischen Antisemitismus war, zeigen Beispiele wie die tschechischen Faschisten der Gruppe Vlajka, die nach dem Münchner Abkommen 1938 einfach vom Antideutschtum zum Antisemitismus übergingen. In Polen wäre ein ähnlicher Wandel möglich gewesen.
Faschistische Matrix: Heute keine Uniform, sondern nationalistischer Hass
Die aktuelle Hysterie gegen Geflüchtete zeigt, wie leicht Menschen – oft anfangs durchaus sympathische – auf die schiefe Bahn geraten, die letztlich zu Gewalt gegen „die Anderen“ führt.
Die meisten Schlesier trugen damals zwangsweise feldgraue Uniformen – zweifellos hätten sie lieber gearbeitet, gefeiert oder Kinder großgezogen. Die wahren Erben der faschistischen Bewegung sind heute jene, die zu Pogromen aufrufen oder sie bereits organisieren. Sie tun das aus eigenem Antrieb, mit Stolz und Freude – oder, wie im Falle mancher Politiker, für Geld, Macht und Applaus.
Dariusz Zalega – Journalist, Historiker, Dokumentarfilmer und Organisator kultureller Veranstaltungen. Autor von „Chachary. Ludowa historia Górnego Slaska“ („Chachary. Volkshistorie Oberschlesiens“). Sein früheres Buch „Slask zbuntowany“ („Rebellisches Schlesien“) war für den Geschichtspreis der POLITYKA nominiert. Er betreibt die Fanseite „Zbuntowany Slask“ („Rebellisches Schlesien“) und das Lokal Rebel Garden (direkt vor dem Eingang zum Zoo in Katowice; Darek spricht neben Polnisch auch Französisch).
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