Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2025

Fünf Flüchtlingshelfer stehen in Polen vor Gericht
dokumentiert

In Hajnowka, im nordöstlichen Zipfel Polens nahe dem Bialowierza-Urwald, fand am 28.Januar vor dem Bezirksgericht die erste Anhörung im Prozess gegen fünf Aktivisten statt. Sie sind angeklagt »Beihilfe zum rechtswidrigen Aufenthalt auf dem Hoheitsgebiet der Republik Polen« geleistet zu haben.

Ihnen wird vorgeworfen Migranten mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt zu haben. Der Staatsanwalt beantragte, das ganze Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen, das Gericht kam dem teilweise nach. Bei der Befragung der Angeklagten durch den Staatsanwalt ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen.
Die nächste Anhörung wird im April oder Mai 2025 stattfinden. Die Angeklagten werden von Rechtsanwalt Rados?aw Baszuk verteidigt und vom Szpila-Kollektiv (ein feministisches Kollektiv, das u.a. weniger privilegierte Personen unterstützt) und der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte unterstützt. An dem Prozess nehmen auch Vertreter von Organisationen teil: die Vereinigung für juristische Intervention, Freie Gerichte und der Oberste Rat der Rechtsanwälte. Vor dem Gebäude gab es Proteste, unter ihnen war auch die Regisseurin Agnieszka Holland.

Was war passiert?
Am 22.März 2022 hatte die Grenzpolizei eine Gruppe von vier Personen festgehalten, die einer irakischen Familie mit sieben Kindern und einem sie begleitenden Ägypter geholfen haben. Sie waren dabei, mit Autos diese Leute, die hungrig und erschöpft und durchgefroren waren, in die nächste Stadt zu bringen. Die Helfer hatten bereits seit längerem Migrant:innen im Grenzbereich mit Essen, Kleidung usw. geholfen.
Sie kamen in Untersuchungshaft und wurden am nächsten Tag mit dem Vorwurf konfrontiert, illegale Grenzübertritte organisiert zu haben, wofür ihnen acht Jahre Gefängnis drohten. Der Richter hob die Untersuchungshaft auf. In diesem Zusammenhang wurde eine Hausdurchsuchung bei einer fünften Person, einer Einwohnerin, durchgeführt, bei der sich die erschöpften und durchgefrorenen Migranten ausgeruht hatten.
Die in Hajnowka geborene Kulturanthropologin Ewa Moroz-Keczyns­ka erklärte im Prozess: »Mein ganzes Leben lang habe ich mich bemüht, ein guter Mensch zu sein, und jetzt stehe ich vor Gericht, weil ich anderen Menschen geholfen habe! Ich bin selbst Mutter, und ich wüsste nicht, wer beim Anblick einer Mutter mit einem kranken Kind wegsieht. Ich erwähne das nur, damit Sie es wissen, weil wir als Einwohner Dinge sahen, die die Medien nicht gezeigt haben, weil sie nicht dort waren.
Und lassen Sie es mich so sagen: Da all diese Menschen bereits in der Wildnis waren, was hätten wir da tun sollen? Wir konnten helfen oder nicht. Wir wissen aus der Erfahrung unserer Geschichte, dass es Werte gibt, die niemals verletzt werden sollten, und dass der Moment, in dem das Mitgefühl aufhört, der Anfang vom Ende ist. Und deshalb haben viele einfache, aber sensible Bürger geholfen.
Wenn es ein Verbrechen ist, jemandem das Leben zu retten, wie würden wir dann eine Handlung nennen, mit der wir direkt dazu beitragen, dass jemand stirbt? Im März 2022 lag die Verantwortung für die Gesundheit, das Leben und die Sicherheit von Fremden mit Kindern allein auf den Schultern von uns Bewohnern und Freiwilligen.
Und ausgehend von dieser Einstellung möchte ich eine Welt schaffen, in der Platz für alle ist, auch für die Unterprivilegierten, für die einfachen Menschen, unabhängig von ihrer Religion und ihrer Hautfarbe. Das ist es, was ich mir für meine Kinder und alle anderen wünsche.«

Abenteuerliche Begründung
Die Anklage stützt sich jetzt auf §264a(1) des Strafgesetzbuchs, der lautet: »Wer einer anderen Person in der Absicht, einen finanziellen oder persönlichen Vorteil zu erlangen, den Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Republik Polen ermöglicht oder erleichtert und damit gegen das Gesetz verstößt, wird mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.« Der Staatsanwalt interpretiert dies jetzt so, dass den Migranten Vorteile verschafft wurden!
Aktivist:innen, die Menschen in Not helfen, wird mit einer solchen Beugung des Begriffs »Vorteil« Gewinnsucht unterstellt, um sie abzuschrecken und zu entmutigen. Die Hilfe für Migrant:innen an der Grenze zu Weißrussland von den Behörden wird sowohl von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) als auch von der derzeitigen Koalition nicht gern gesehen.
Die jetzige Regierung hat Schießbefehl an der Grenze zu Belarus erteilt. Dabei sind die Chancen, die Sümpfe von Bialowierza und dann noch die Grenzzäune zu überwinden, gering.
Im Mai/Juni stehen die Präsidentschaftswahlen an. Der Spitzenkandidat der Bürgerplattform hat das Kindergeld für Geflüchtete ins Spiel gebracht. Es sollen nur noch die Kinder die 800 Zloty erhalten, deren Eltern arbeiten. Die alleinstehenden ukrainischen Mütter von kleineren Kindern, deren Väter an der Front kämpfen oder gefallen sind, also nicht.
Die Bürgerplattform wird unruhig, sie hat alle Vorhaben eingefroren, um der Opposition keinen Raum für große Demonstrationen zu geben. Vor allem die vielen jungen, mutigen Frauen Polens, die mit ihrer Wahlbeteiligung geholfen haben, dass die PiS abgewählt wird, sind sehr enttäuscht. Nichts hat sich bewegt, Frauen können nicht selbst darüber bestimmen, was mit ihrem Körper geschieht.
Was würde passieren, wenn der PiS-Kandidat die Wahlen gewinnt? Die Regierungskoalition, die sich schon selbst im Weg steht, würde blockiert. Es käme zu Neuwahlen und zur Neuauflage der PiS-Regierung. Orbán, Meloni, LePen, Weigel, und wie sie alle heißen, können sich freuen. Und die anderen können rechts »überholen, ohne sie einzuholen«.

Quelle: https://oko.press/. (Übersetzung: Norbert Kollenda.)

In der Polnischen Presseschau (PPS) 224 findet sich ein ausführlicher Bericht über die polnisch-ukrainische Auseinandersetzung um die Massaker im Zweiten Weltkrieg und die Erinnerungskultur darum. Die PPS wird von Norbert Kollenda zusammengestellt und enthält aktuelle kritische Artikel über Polen.

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