An den Rand notiert
von Rolf Euler
Was tun, wenn die Redaktion einer politischen Zeitung in den Ferien ist und nicht nur der Rand verwaist? Verreisen!
Gut, reisen mit der Bahn ist angesagt. Nostalgische Gefühle angesichts einiger Dampflokomotiven, die als Museumsstück hinter oft verfallenden Kleinstadtbahnhöfen herumstehen. Schon weniger Nostalgie kommt auf, wenn sich in Bayern oder Thüringen einspurige Gleise durch die Berge ziehen, und dort dann Dieseltriebwagen ihren Qualm in die freundliche Landschaft pusten.
„…und der Landschaft ist es recht“, textete Erich Kästner in den 1920er Jahren über die Wochenendvergnügen mit den damals noch seltenen Autos. Der Landschaft mag es eher nicht „recht“ sein – sie hat nichts zu sagen angesichts der mangelnden Investitionen der Deutschen Bahn seit Mehdorns Zeiten. Elektrifizierung von „Nebenstrecken“? Warum, wir fahren doch Schnellstrecke mit ICE und grünem Strom!
Ok, das machen wir auch. Also aus dem Süden kommend – der DB-Zug aus Zürich wird in Schaffhausen mit viertelstündiger Verspätung gemeldet, „aus vorheriger Fahrt“. Dann: Eingleisigkeit! Keine Baustelle – auf dieser Verbindung nach der Schweiz gibt es streckenweise nur ein Gleis!
Der hilfreiche Zugbegleiter sagt durchs Mikrofon: „Wir haben demnächst die Eingleisigkeit geschafft und hoffen, dann normal fahren zu können!“ Für den Anschluss in Stuttgart gibt es geplant eine knappe halbe Stunde. Die schafft der Zug dann: eine Minute vor Abfahrt unseres ICs rollt er in den Kopfbahnhof.
Weil gerade auf dem Nebengleis kein Zug hält, schaffen wir es um Kinderwagen, Kofferschlepper und Fahrradwartende herum und rennen in der nicht trügenden Hoffnung, dass der Anschlusszug verspätet auf dem anderen Bahnsteig abfährt.
Das Gewusel auf dem alten Stuttgarter Bahnhof erzeugt schon deswegen nostalgische Gefühle, weil man sich nicht vorzustellen vermag, wie es nach der irgendwann erfolgenden Einweihung des Tiefbahnhofs möglich sein soll, diese Menschenmengen bei dann acht Gleisen auf den Rolltreppen, Fahrstühlen, Bahnsteigen zu bewegen.
Wer einmal – möglicherweise mit Fahrrädern – in Großstädten zur Ferienzeit oder am Wochenende umgestiegen ist und weiß, dass die Bahn in wenigen Jahren 30 Prozent mehr Personen befördern will, der muss die Stuttgart-21-Pläne als kompletten Irrsinn beurteilen.
Allein der Stau von zwei Familien mit Kinderwagen, anderen mit drei großen Koffern und weiteren Menschen mit Fahrrädern vor den Aufzügen der Deutschen Bahn, die von jedem nur einen Teil mitnehmen können, erzeugt Umsteigewahnsinn, wenn eine Verspätung Eile nötig machen sollte.
Wir sind gut nach Hause gekommen. Wir hören unterwegs immer viel Kritik an der Deutschen Bahn. Wir werden trotzdem wieder mit ihr fahren – auch mit Fahrrad. Aber Spaß wie früher macht es eigentlich nur, wenn man gelassen wird und sich vielleicht einen Wunsch erfüllt: Die Stuttgart-21-Planenden werden verpflichtet, mit Familie, Kinderwagen und zwei großen Koffern jeden Tag in Stuttgart umzusteigen.
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