Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2016

«Polizei und Justiz müssen in dieser Frage sensibler werden»
Gespräch mit Behshid Najafi (Agisra)

Unter den Frauen, die in der Sylvesternacht sexuell angegriffen wurden, waren mit Sicherheit auch Migrantinnen. Sie müssen sich doppelt und dreifach bedroht vorkommen: durch die Gewalt der unmittelbaren Täter, aber auch durch die Gewalt der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sie jetzt wieder zum Vorwand nimmt, Ausländer, insbesondere Asylbewerber, pauschal zu kriminalisieren und die Asylgesetze zu verschärfen. Wie erleben sie diese Situation?
Wir haben dazu BEHSHID NAJAFI befragt. Sie ist eine der beiden Geschäftsführerinnen des Vereins Agisra e.V. Agisra ist eine Migrantinnenselbstorganisation aus Köln, es gibt diesen Verein seit 23 Jahren. Sie bezeichnet sich als autonome, feministische Informations- und Beratungsstelle von und für Migrantinnen, Flüchtlingsfrauen, schwarze Frauen und all diejenigen, die von Rassismus betroffen sind. Ihre Ziele sind u.a. eine Interessenvertretung für Migrantinnen einzurichten, Selbsthilfepotenziale zu bündeln und Forderungen an Politik und Gesellschaft zu formulieren. Ihre Einsatzgebiete sind weit gestreut: häusliche Gewalt, Frauenhandel, Zwangsverheiratung, Genitalbeschneidung gehören ebenso dazu wie Hilfe für Frauen auf der Flucht – immer noch wird sexuelle Gewalt nicht als Fluchtgrund anerkannt! – und Unterstützung von Frauen gegen rassistische Gewalt.

Haben die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht aus Ihrer Sicht eine neue Qualität oder sind sie Ausdruck eines Sexismus, dem wir Frauen in Deutschland üblicherweise begegnen?
Ich glaube, es ist eine neue Qualität.

In welcher Hinsicht?
Da sind drei Sachen zusammen gekommen, die sonst einzeln vorkommen: Da war erstens eine kriminelle Bande unterwegs, die auch Diebstahl begeht; zweitens war die Polizei nicht anwesend, um den Frauen zu helfen; und drittens war da eine Masse von betrunkenen Männern.

Ist denn die Tatsache, dass die Polizei nicht wirklich anwesend war oder jedenfalls mit viel zu wenig Kräften für Frauen in solchen Situationen etwas Neues?
Nein, aber die Zusammensetzung der drei genannten Komponenten war neu. Die einzelnen Komponenten sind immer wieder vorgekommen, aber die drei zusammen, das war neu.

Stellt das aus Ihrer Sicht eine neue Bedrohung dar, mit der wir rechnen müssen?
Nein. Ich denke nicht, dass eine neue Bedrohung da ist – wenn alle drei genannten Komponenten wieder zusammen kommen würden, dann ja, aber ich hoffe, dass das nie wieder vorkommt.

Haben migrantische Frauen in der Silvesternacht anders reagiert als deutsche Frauen?
In bezug auf diese Nacht weiß ich es nicht, bis jetzt hat sich keine bei mir gemeldet. Auch andere Beratungsstellen mit denen wir in einem Arbeitskreis kooperieren, haben gesagt, dass bislang keine Frauen zu ihnen gekommen ist, die in der Silvesternacht am Dom waren. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Migrantinnen oder Flüchtlingsfrauen nicht dabei gewesen sein sollen, Köln ist ja eine Großstadt.

Bedeutet das vielleicht, dass sie sich noch weniger als deutsche Frauen trauen, Anzeige zu erstatten?
Ich vermute, alle Frauen haben sich zuerst nicht richtig getraut. Nachdem viel darüber geredet wurde und die Anzeigen jeden Tag und jede Woche mehr wurden, hat sich das geändert. Vermutlich haben viele von ihnen es anfänglich nicht so ernst genommen, das kennen wir auch vom Karneval. Auch da nehmen Frauen solche Übergriffe oft nicht ernst, die Polizei natürlich genausowenig. Viele denken, oh, wenn ich jetzt zur Polizei gehen, das macht die ganze Nacht kaputt, dann kommen so viele Fragen und man weiß nicht mal, was dabei rauskommt. So verzichten sie oft darauf, Anzeige zu erstatten. Wir wissen ja, dass die Polizei anfänglich das Ganze verharmlost hat und meinte: Ach, die waren ja betrunken. Wir hoffen, dass das in Zukunft nicht mehr vorkommt, die sexuellen Übergriffe ernstgenommen werden und die Polizei die Frauen nicht wegschickt.

Habt ihr denn migrantische Frauen ermutigt, darüber zu reden?
Natürlich, in einer Stellungnahme schrieben wir, dass dies ein Anlass sein soll, dass darüber geredet wird und die Betroffenen ernstgenommen werden und auch die Öffentlichkeit das ernstnimmt und bekämpft. Wir sagen den Frauen immer wieder, dass sie das ernstnehmen sollen, aber manchmal ist es so schwierig, dass das nur in schwerwiegenden Fällen getan wird.

Ich denke, migrantische Frauen werden jetzt doppelt bedroht: durch die sexuellen Übergriffen, die aus jeder Ecke kommen können, und zugleich durch Rechtsextreme, die jetzt Bürgerwehren aufstellen und Migranten angreifen. Wie geht ihr damit um?
Migrantische Frauen sind dreifach betroffen, denn die Politik hat die Ereignisse zum Vorwand genommen, um das Asylrecht zu verschärfen, das betrifft Flüchtlingsfrauen sehr direkt. Wir versuchen in dieser Situation, Frauen einzeln zu unterstützen und wir machen Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit um kundzutun, dass wir das nicht in Ordnung finden.

Gibt es denn jetzt Bestrebungen seitens der Frauenorganisationen, sich zusammenzutun und Pläne zu entwickeln, wie Frauen besser geschützt werden können?
Ja. Die Gleichstellungsstelle in Köln hat uns alle nach unseren Pläne für Karneval gefragt und angeregt, dass wir zusammen kommen und Pläne besprechen, wie wir uns für Karneval aufstellen wollen. Das war etwas kurzfristig. Wir müssen aber längerfristig zusammenkommen, um darüber zu beraten, wie Frauen sich schützen können. Kurzfristig wurde zumindest ein Beratungs- bzw. Infopunkt eingerichtet.
Wir sind als Beratungsstelle seit 23 Jahren hier am Heumarkt – eines der Zentren im Karneval –, viele Frauen kennen den Weg zu uns oder werden von anderen Beratungsstellen zu uns vermittelt. Wir sind auch im Arbeitskreis gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Eine unserer Forderungen ist, die Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslichen Gewalt, die seit 2014 in Kraft ist, zu ratifizieren. Diese Konvention sieht die Verschärfung vieler sexueller Straftaten vor, u.a. dass das Nein einer Frau reichen muss, um festzustellen, dass eine sexuelle Handlung gegen ihren Willen an ihr begangen wurde. Der Sexualstrafparagraf in Deutschland sieht das derzeit ja nicht vor.
Deutschland hat die Istanbul-Konvention bislang noch nicht ratifiziert. Wir fordern, dass das geschieht.

Das wird noch ein Kampf werden, weil in Deutschland ganz viele (Männer) dagegen sind.
Ja, in der Konvention steht auch, dass es egal ist, welchen Aufenthaltsstatus die Frau hat, auch Frauen ohne Papiere haben demnach Recht auf Schutz.

Die öffentliche Meinung war sehr schnell dabei zu sagen, das waren Nordafrikaner, die sowieso eine andere Kultur haben und im Islam ist die Stellung der Frau eine ganz untergeordnete. D.h. es wurde zu einem Ausländerproblem gemacht und nicht zu einem Problem von Männergewalt. Was meint ihr dazu?
Wir sehen das nicht so, wir haben auch jahrelange Erfahrung, dass Gewalt gegen Frauen keine Religion kennt, keine Herkunft, keine Schichtzugehörigkeit, keinen Bildungsgrad. Aber ich kann mir vorstellen, dass es eine Rolle spielt, wenn ein dreißigjähriger Afghane hierher kommt, der nur Krieg erlebt hat, eine Situation, in der es keinen respektvollen Umgang miteinander gibt. Oder wenn Menschen aus Krisengebieten kommen, wo jahrelang Krieg und Brutalität herrscht. Ich kann das aber nicht für ganze Gruppen sagen. In bezug auf einzelne habe ich es selbst erfahren, die Frauen, die zu uns kommen, berichten uns das. Aber ich kann nicht sagen, dass das wegen des Islams ist. Die Ursache ist das Patriachat, und alle Religionen sind patriarchalisch.

Gibt es denn in Deutschland nach Nationen geordnete Statistiken darüber, wer sexuellen Missbrauch begeht?
Nein, es gibt eine Statistik über Ausländerkriminalität, die enthält aber vielfach auch nur Verstöße gegen das Ausländergesetz, gegen die Residenzpflicht beispielsweise – wir haben das immer wieder kritisiert. In bezug auf Sexualstraftäter gibt es das meines Wissens nicht, ich glaube auch nicht, dass das jetzt erhoben wird.
Beim Oktoberfest gibt eine Frauenorganisation, die den Betroffenen zur Seite steht, die haben festgestellt, dass im Jahr durchschnittlich zehn Frauen vergewaltigt werden. Darüber wird nur kaum geredet, weil das ein Imageverlust für Deutschland und für München wäre. Wenn betrunkene Männer zusammenkommen, passiert sehr viel sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Jetzt wird darüber in der Öffentlichkeit geredet, weil die Täter nichtdeutscher Herkunft sind. Für uns ist es aber ein Anlass zu sagen, ok, wir wollen, dass die Behörden, Polizei und Justiz, in dieser Frage sensibler werden und das Sexualstrafrecht geändert wird.
Ich habe zwei Jahre lang eine Frau vor Gericht unterstützt, die vergewaltigt worden war, am Ende stand Aussage gegen Aussage. Der Richter hat gesagt, im Zweifel für den Angeklagten und der Täter wurde freigesprochen – die Frau war fix und fertig. Außerdem müssen Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen viel stärker gefördert werden.

Nun ist die Tatsache, dass die Paragrafen verschärft werden, noch keine Gewähr dafür, dass sie wirklich umgesetzt werden. Das Patriarchat sitzt in den Köpfen und natürlich auch in denen von Polizisten.
Wo die Frauen gekämpft haben und es Demokratie gibt, da wird das Patriarchat ein wenig zurückgedrängt. Ich habe im Iran gekämpft, aber da ist keine Demokratie, wir wurden unterdrückt, die Frauen waren im Gefängnis und da müssen die Frauen wieder von vorn anfangen. Demokratie ist ein hohes Gut für uns, und wenn wir für Frauenrechte kämpfen, wird das Patriarchat nach und nach zurückgedrängt. Bis vor gar nicht allzulanger Zeit war häusliche Gewalt noch Privatsache, weil kein öffentliches Interesse da war. Dann mussten die Gesetze geändert werden. Dank des Kampfs der Frauenbewegung und der Demokratie, die es hier gibt, sehen wir auch Erfolge.

Vielleicht wird es auch notwendig sein, die gegenwärtige öffentliche Aufmerksamkeit dafür zu nutzen, dass die Selbstschutzmaßnahmen von Frauen verstärkt werden. Gibt es Überlegungen in diese Richtung?
Ja, solche Überlegungen gab es immer. Eine Kollegin von uns unterrichtet Wen Do, das sind Seminare zur Selbstbehauptung und Selbstverteidigung von Frauen. Frauen sollten lernen sich zu verteidigen.
Es ist aber nicht in Ordnung, dass sexistische Unterdrückung instrumentalisiert wird, um Rassismus zu schüren – und das ist leider passiert. Wir sind gegen beides, Sexismus und Rassismus, gegen jede Art von Unterdrückung.

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