Vorbeugende Staatsschutzdebatte
von Matthias Becker
»Unfassbares« soll sich in der Silvesternacht abgespielt haben, »schockierende Szenen« eines »Böllerkriegs«, wie es ihn »in dieser Qualität noch nicht gab«. So heißt es bei Welt, Süddeutscher, Tagesschau und in den Talkshows. »Gewalttäter« haben mit ihren »Silvesterkrawallen« »den Staat herausgefordert«. Politiker und Journalisten zeigen sich betroffen: »Woher kommt die Gewalt?«
Die Bewohner der Viertel, wo die Armen und Zugewanderten leben, stellen sich eine andere Frage: Woher die plötzliche Empfindsamkeit? Jedes Silvester kommt es zu bewusster Selbst- und Fremdgefährdung und zu Vandalismus, werden Polizisten mit Feuerwerkskörpern und Flaschen beworfen. Selbst Brandstiftung und Barrikaden aus Mülltonnen sind nichts Neues.
Volksfest und Gewalt passten immer schon gut zueinander. Das Fest bietet eine Gelegenheit, um Aggressionen auszuleben, ob bei einem Weinfest in der Provinz, beim Oktoberfest oder eben an Silvester in einer Großstadt. Dass etwas üblich ist, macht es natürlich nicht besser und schon gar nicht gut. Menschenverachtung darf nicht beschönigt oder verharmlost werden. Manche Hobbypyrotechniker nehmen schwere Verletzungen von anderen in Kauf, zielen bspw. mit Raketen in geöffnete Fenster, auf Passanten oder die Feuerwehr: »Doch nur Spaß!« Rituale der Dominanz, wie ein Autorennen in einem Wohnviertel, mischen sich möglicherweise bei dem ein oder anderen mit der Wut auf die Verhältnisse. Im Vordergrund steht der Wunsch, alles in die Luft zu sprengen, ohne Gnade und ohne Unterschiede.
Bei Bertolt Brecht heißt es: »Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flußbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.« Junge Menschen sehen einer langsamen, aber anhaltenden Verarmung entgegen, die sie mit besonderer Anstrengung ausgleichen sollen. Sie sehen miserablen Arbeitsverhältnissen entgegen, einem ausgehöhlten Sozialwesen und heruntergewirtschafteten öffentlichen Diensten, einer ruinierten Umwelt – einer beängstigenden Zukunft. Niemanden kann es wundern, dass sich ihre Frustration irgendwie, irgendwo Bahn bricht, auch wenn es abstoßend aussehen mag.
Die Lebensverhältnisse und Zukunftsaussichten der jungen Generation tauchen in der Debatte nicht auf, sollen nicht auftauchen. Man befürchtet, die Randalierer würden die staatliche Autorität herausfordern, statt einfach nur die Sau rauszulassen. Auf Herausforderungen reagiert die politische Klasse zunehmend nervös.
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