Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Buch 1. Juni 2025

Über frühzeitliche Gleichheit und weibliche Schöpfungskraft
von Nele Johannsen

Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am ­Anfang der ­Geschichte. Berlin: Reprodukt, 2025. 256 S., 29 Euro

Stellen wir uns eine Menschheitsgeschichte vor, in der nicht Macht und Konkurrenz, sondern Empathie und Kooperation das Überleben sichern – und in der der Frauenkörper kein Objekt der Begierde und Kontrolle darstellt, sondern Ausdruck schöpferischer Kraft ist.

Eine solche Geschichte verbildlicht die österreichische Comiczeichnerin Ulli Lust in ihrer neuen Graphic Novel. In zwölf Kapiteln illustriert sie eine Vergangenheit, die sich nicht in Schulbüchern findet, dafür aber umso mehr im archäologischen Material schlummert. Lusts These: Dieses Material zeigt uns eine andere Frühzeit. Eine, in der Frauen als Jägerinnen, Schamaninnen und Gestalterinnen eine zentrale Rolle spielten – und der Begriff »Mensch« nicht automatisch »Mann« bedeutete.
Bereits das Cover lässt vermuten, wohin die Reise geht: Zwei frühzeitliche Menschen klettern in eine Höhle, deren Eingang eindeutig an eine Vulva erinnert. Der Weg in die Geschichte führt durch den weiblichen Körper – daraus macht Lust kein Geheimnis. Sie erzählt mit Schalk, gelassenem Zorn und Forscherinnendrang, und vermischt Sachwissen mit Anekdoten, Theorie mit Bildwitz. Entstanden ist daraus ein anthropologischer Sachcomic, der seine Lesenden humorvoll und geistreich in den Alltag frühzeitlicher Menschen entführt und der sich nur schwer aus der Hand legen lässt.
Den Ausgangspunkt der Erzählung bilden alltägliche Situationen aus Lusts Kindheit und Jugend – etwa wie sie lernte, nicht über ihre »Lulu« zu sprechen (und wenn überhaupt, hieße es »Scham«). Von dort aus springt sie weit in der Zeit zurück, zu Fundstücken wie der Venus vom Hohle Fels – einer mehr als 40.000 Jahre alten Frauenfigur mit betonten Genitalien. Weshalb war das erste geschnitzte Bild der Menschheit ein Frauenkörper – und warum scheuen wir uns bis heute, ihn anzuschauen, ohne zu erröten? Lust stellt fest: Die frühzeitliche Frau musste ihre »Scham« nicht verstecken – sie hatte keine.
In ihrer Graphic Novel zieht Lust eine Linie von diesen urzeitlichen und immer wieder auftretenden Skulpturen zu einer möglichen, weiblich-zentrierten Frühgesellschaft. Ihre These: Die Frau war einst das Idealbild des Menschen – nicht der Mann, wie bisher angenommen. Die Fähigkeit der Frauen, Leben zu geben, stand im Mittelpunkt von Ritualen, Vorstellungen und künstlerischem Ausdruck – der Umbruch zur patriarchalen Ordnung kam erst später.
Lust plädiert zudem für ein grundsätzlich anderes Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenleben: Nicht Aggression und Dominanz, sondern Empathie und Kooperation seien zentrale Prinzipien früher menschlicher Gruppen gewesen, und hätten damit das Überleben gesichert. Dass das gängige Geschichtsbild der Frühzeit dem nicht entspricht, ist für Lust keineswegs Zufall: »Geschichte wurde von Männern geschrieben!«, heißt es an einer Stelle. Mit Blick auf die zahlreichen Frauenfiguren lässt sie ihre Protagonistin im Comic (sich selbst) spekulieren: »Ich würde wetten, die meisten Figurinen wurden von Frauen gemacht. Wenn Männer die Ikonografie entwickelt hätten … würde es mehr Figurinen mit gespreizten Beinen geben.«
Ihr Comic basiert auf umfangreicher Recherche, auf die im Anhang verwiesen wird. Grabfunde, anthropologische Studien und Vergleiche mit heutigen indigenen Gesellschaften. Dennoch bleibt die Darstellung persönlich und wird stellenweise mit erfundenen Sequenzen ergänzt. Wenn ihre frühzeitlichen Figuren miteinander sprechen, tun sie dies mit Humor, Trotz und Selbstironie.
In ihren Ausführungen folgt Lust keinem linearen Erzählstrang. Die Zeit springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Orte und Zeitebenen überlagern sich, und wer den roten Faden sucht, wird manchmal beim Lesen innehalten müssen. Doch das Fragmentarische ist keinesfalls ein Mangel, sondern Methode: Lust beschreibt Geschichte als Netz, nicht als Linie.
Besonders gut gelungen ist Lust das Verhältnis von Text und Bild. Obgleich der Band mit seinen 256 Seiten recht umfangreich ist, liest er sich mühelos, was insbesondere Lusts Können zu verdanken ist, Sachinformationen in erzählerische Szenen und spannende Illustrationen einzubetten.
Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte ist der erste Teil eines auf zwei Bände angelegten Projekts. Der zweite Band, Die Frau als Mensch in der Eiszeit, soll 2026 erscheinen. Schon jetzt wurde der erste Teil für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert – als erster Comic überhaupt! Das ist nicht nur ein Erfolg für die Autorin, sondern auch ein Signal: Geschichte darf auch gezeichnet, hinterfragt und neu erzählt werden – aus weiblicher Perspektive, mit Witz, Zärtlichkeit und Zorn.

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