Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Buch 1. Juli 2025

von Ayse Tekin

Migrantische Kämpfe gegen Ausbeutung und Rassismus. Hrsg. Nihat Öztürk et al. Berlin: Die Buch­macherei, 2025. 472 S., 22 Euro

Ford in Köln ist immer noch ein Betrieb mit vielen Migrant:innen oder Menschen mit Migrationshintergrund. Am 14.Mai war dort ein 24-Stunden-Streik. Auf der IG-Metall-Seite im Internet stand danach: »Erstmals seit 100 Jahren waren die Beschäftigten von Ford in Köln im 24-Stunden-Streik für ihre Zukunft.«

Vor zwei Jahren wurde noch an einen Streik erinnert, der vor 50 Jahren ebenfalls bei Ford in Köln stattfand. Der ehemalige IG-Metall- und heutige DGB-Chef von Köln, Witich Rossmann, und andere, vor allem die Arbeiter, die daran beteiligt waren, haben in verschiedenen Veranstaltungen darüber erzählt und versucht, eine späte Bilanz zu ziehen.
Aber dieser Streik, der als »Wilder Streik« oder auch als »Türkenstreik« diffamiert wurde, zählt offenkundig immer noch nicht als »Ford-Streik«! Was stimmt ist, dass die IG Metall zu diesem Streik damals nicht aufgerufen und ihn nicht unterstützt hat.
Das Buch Migrantische Kämpfe gegen Ausbeutung und Rassismus zeigt, dass migrantische Kämpfe stattgefunden haben und stattfinden. Das Besondere an ihm sind die Artikel, in denen die Wechselwirkung in der Beziehung zwischen Migrant:innen und Gewerkschaften geschildert wird. Damals war es in Großbetrieben oft üblich, dass gleichzeitig mit dem Arbeitsvertrag auch der Eintritt in die Gewerkschaft unterschrieben wurde. So wurden Migrant:innen sofort Gewerkschaftsmitglieder. Damals befürchteten die Gewerkschaftsführungen, die »ausländischen Arbeiter« könnten als »Lohndrücker« eingesetzt werden. Der ehemalige Gewerkschaftssekretär der IG Metall, Nihat Öztürk, schreibt in seinem Beitrag zum Buch aber: »[S]eit Beginn der Anwerbung 1955 [ist] kein Fall bekannt, dass sich die Arbeitsmigranten als Streikbrecher oder Lohndrücker instrumentalisieren ließen.«

Wer erinnert was?
Streiks zählen in Deutschland nur dann, wenn eine Gewerkschaft dazu aufruft, und sie darf nur dann aufrufen, wenn ein Tarifvertrag gekündigt ist. Streiks sind nicht wie in anderen Ländern als Protestform erlaubt. Das ist in der Türkei, in Italien und in Griechenland anders. Die Streiks um das Jahr 1973 herum sollten auch vor diesem Hintergrund beurteilt werden.
Im Jahr 1970 hatten die Arbeite­r:innen in der Türkei z.B. durch zwei Tage Streik eine Gesetzesänderung verhindert, die für die ­Gewerkschaften eine Verschlechterung bedeutet hätte. Diese Erfahrung der türkischen Ford-Arbeiter mit organisiertem Kampf stand gegen das Selbstverständnis von Gewerkschaft und Betriebsrat als »Ordnungsfaktoren«.
2023 fand in Düsseldorf eine Tagung mit dem Titel »Gelingende und misslingende Solidarisierungen – 50 Jahre spontane Streiks« statt. Für alle, die daran nicht teilnehmen konnten, ist das Buch eine gute Ausarbeitung der Diskussionen dieser Tagung. Aber auch diejenigen, die damals dabei waren, werden sich über die neuen Formen der Erinnerungskultur in der »migrantischen« und »deutschen« Arbeiterbewegung freuen. Denn auch unser Sicht ist davon beeinflusst, wie wir Arbeitskämpfe und/oder Proteste wahrnehmen und uns mit ihnen solidarisieren.
Der Beitrag »Streikrevue 73/93/23« fragt treffend: Wer erinnert was? In diesem Zusammenhang werden die Aufstände Anfang der 70er Jahre, Werksbesetzung und Hungerstreik der Kali-Arbeiter:innen in Ostdeutschland 1993 und die Streiks 2023 im ÖPNV und im öffentlichen Dienst, aber auch die meist von migrantischen »Unsichtbaren« getragenen Proteste in Lieferdiensten, Logistikbereich, Fleischverarbeitung oder auch bei der Ernte auf den Feldern zusammen analysiert. Das ist die »andere Arbeiterbewegung«, wie Karl Heinz Roth schon 1974 geschrieben hat.

Das »Wir« erweitern
Über den Ford-Streik 1973 gibt es immer noch unterschiedliche Ansichten: Die Beteiligten sind von einschneidenden Ereignissen gezeichnet. Einige konnten sie verarbeiten, andere versuchen immer noch, die Ablehnung, gar Bekämpfung durch ihre Kollegen am Band zu verstehen. In dem Buch kommen beide Sichtweisen zur Sprache. Das ist sehr wichtig, weil die Kämpfe immer noch nicht Teil der »offiziellen« Erinnerungskultur der Gewerkschaften sind.
Auch zu anderen Streiks wie bei Pierburg in Neuss oder Hella in Lippstadt kommen Beteiligte und Verantwortliche in Interviews zu Wort. Und der Beitrag »Erweiterung des Wir« lädt dazu ein, das Wort »Solidarität« zu überdenken.
Gern wird die Solidarität in der Ferne gesucht, mit der berühmten, fast auf jeder Kundgebung gehörten Parole: »Hoch die internationale Solidarität!« Ja, das tut auch not, aber gerade kritische Gewerkschafter:innen müssen in eigenen Strukturen aufmerksamer werden für die Bedingungen der »anderen Arbeiterklasse«. Das Buch bietet eine gute Gelegenheit, die Vergangenheit mit anderen Augen zu sehen, aber auch dafür, die Zukunft anders zu gestalten.
Die eindeutige Empfehlung, besser: Anordnung, ist: das Buch kaufen, sich einlesen, mitdenken, mitfühlen!

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