Rassismus ist allgegenwärtig – wir müssen uns damit auseinandersetzen, auch mit dem eigenen!
von Ayse Tekin
Geht es um Migration oder um Rassismus? Überall in Europa haben die Parteien des rechten Rands mit diesem Thema Erfolg. Die Gruppe der Migrant:innen wird zur »Mutter aller Probleme« erklärt (Horst Seehofer, 2018) und damit diskriminiert. Dabei ist nicht zu unterscheiden, um wen es geht. Gemeint sind alle, die als »fremd« einsortiert werden. Es geht nicht um »europäische Fremde«, sondern um »fremde Fremde«.
Rassismus ist keine »Vorstellung«, kein »persönlicher Irrtum« sondern – wie Mark Terkessidis in seinem Buch Psychologie des Rassismus* schreibt – eine kontinuierliche und kollektive Erscheinung der modernen Gesellschaften. Davor ist die BRD nicht gefeit, dennoch spielt im kulturellen Gedächtnis der Republik Rassismus eher in Form von Antisemitismus und Faschismus eine Rolle.
Die täglichen kleinen Anmerkungen, die manchmal absurd, manchmal bitter böse ankommen, bis zum strukturellen und institutionellen Rassismus, der die Menschen vom Kindergarten bis zum Renteneinkommen benachteiligt, werden nicht als Rassismus wahrgenommen.
»Migrant:innen« versuchen seit Anfang der 90er Jahre, ihren erlebten Rassismus sichtbar zu machen, den Diskurs zu ändern und die Wahrnehmung in der Gesellschaft zu schärfen. Sie sind in ihren eigenen Organisationen, aber auch in den bundesrepublikanischen Parteien, an Universitäten und in der Kunst-, Kultur- und Literaturszene aktiv. Sie zeigen ihre Wunden, mal mit Ironie angesichts der ihr Leben zerstörenden Angriffe, aber auch mit bitterem Ernst.
Es gibt mehrere Untersuchungen zum Rassismus, manche befassen sich direkt mit dem Thema wie der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), andere indirekt, wie die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung oder auch die Shellstudie über politische Einstellungen der Jugend. Sie tauchen manchmal in den Nachrichten und Medien auf, eventuell mit kurzzeitiger Aufregung, und verschwinden wieder.
Dann gibt es plötzlich Massenproteste gegen die Remigrationspläne der AfD und sie verschwinden wieder. Die Betroffenen, je nach Dekade definiert als Zwangsarbeiter:innen, Fremdarbeiter:innen, Ostjuden und Ostjüdinnen, Ausländer:innen, Gastarbeiter:innen, Einwanderer:innen, Immigrant:innen, Migrant:innen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit internationalem Hintergrund, migrantisierte Menschen, Persons of Color, BIPOCs bleiben mit ihren Benachteiligungen, Diskriminierungen, Ängsten zurück.
Ein paar Zahlen
Rassismus kann auf drei Ebenen beschrieben werden: Er entsteht nicht durch persönliche Probleme oder Wahrnehmungsverzerrungen. Rassismus ist eine Machtbeziehung und beruht auf historisch gewachsenen Bedingungen. Rassistisches Wissen ist Bestandteil des kulturellen Wertekanons der hegemonialen Gruppe.
Mit der kollektiven Definition der Anderen, gemäß der hegemonialen Werte, legt die Gruppe dabei auch beständig ihr »Selbst« fest. Damit hat nicht nur die Gruppe der Betroffenen ein Problem, sondern auch die Mehrheit, die diese Strukturen fördert und deren Nutznießer ist.
Fast niemand bezweifelt, dass es in Deutschland Rassismus gibt. Laut NaDiRa stimmt eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung (90 Prozent) dieser Aussage grundlegend zu. Eine Mehrheit der Bevölkerung (knapp 65 Prozent) stellt die Existenz institutioneller Formen von Rassismus nicht in Frage.
Einer großen Mehrheit der Bevölkerung ist bewusst, dass sich Rassismus subtil und unbewusst äußern kann. So stimmen z.B. 81 Prozent der Aussage zu, dass Menschen »sich auch ohne Absicht rassistisch verhalten« können. Dabei wird rassistisches Verhalten eher gegenüber jüdischen oder schwarzen Menschen vermutet.
Insgesamt gibt mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung an, selbst schon einmal Rassismus erfahren zu haben. Es kann also nicht von einem Randphänomen gesprochen werden. Befragte, die sich selbst als Angehörige rassifizierter (also potenziell von Rassismus betroffener) Gruppen bezeichnen, geben zu 58 Prozent an, schon einmal Rassismus erfahren zu haben. Dabei sind die Jüngeren stärker betroffen. Von den 14- bis 24jährigen, die einer der rassifizierten Gruppen angehören, berichten fast drei Viertel, eigene Rassismuserfahrungen gemacht zu haben. Unter denjenigen mit Hochschulreife sind es mehr als die Hälfte.
Laut Studien vom DeZIM im Rahmen des Projekts NaDiRa glaubt fast die Hälfte der Bevölkerung noch immer an die Existenz menschlicher »Rassen«, bei den über 65jährigen sind es fast zwei Drittel, unter den 14- bis 24jährigen nur knapp ein Drittel.
Vorstellungen von »kulturbedingten« bzw. »natürlichen« Rangunterschieden sind weit verbreitet. Ein Drittel der Bevölkerung bejaht, dass gewisse ethnische Gruppen oder Völker »von Natur aus fleißiger [seien] als andere«, während über ein Viertel glaubt, dass »bestimmte Kulturen viel besser [seien] als andere«.
Rassismus in der politischen und kollektiven Wahrnehmung
Rassismus ist in der Mitte der Gesellschaft zu verorten und kann nicht nur als ein Problem des rechten Rands betrachtet werden. 60 Prozent der Befragten aber meinen, dass Rassismus in erster Linie von Rechtsextremen ausgeht. Mehr als ein Drittel (35 Prozent) der Bevölkerung verortet ihn vor allem in den USA.
Das ist nichts anderes, als die Verantwortung vom eigenen »Ich« wegzuschieben. Angesicht der Stärke der rassistischen Parteien, deren Vorstellungen und/oder Lösungsvorschläge von anderen übernommen werden, kann mit Rassismus nicht länger wie bisher umgegangen werden. Dazu kommt die Vorstellung, die Gesellschaft würde nicht mehr »politische Korrektheit« brauchen, diese würde gar die Meinungsfreiheit einschränken.
Aus dem gleichen Grund wird auch der Rassismusdiskurs abgelehnt. Ein gängiger Vorwurf ist, die Betroffenen seien hypersensibel. Was ja auch stimmt, wer soll denn sonst dafür sensibel sein? Den gleichen Vorwürfen waren und sind andere Gruppen in der Gesellschaft, allen voran die Frauen, die für ihre Rechte gekämpft haben, auch ausgesetzt.
Die rassistischen Anschläge seit den 90er Jahren haben ein politisches Bewusstsein vom Rassismus in der deutschen Gesellschaft geschaffen. Das gab es aber auch schon davor, als solche Anschläge noch nicht als rassistische bezeichnet wurden, sowie danach, nach der Serie rassistisch motivierter Morde in den 2000er Jahren. In der Vergangenheit wurde vor allem über »Ausländerfeindlichkeit« und »Fremdenhass« gesprochen und »Rassismus« als Begriff häufig vermieden.
Nun ist das anders, aber offizielle Regierungsstellen und zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung veröffentlichen sehr unterschiedliche Zahlen über Todesopfer rassistischer und rechtsextremer Gewalt. Die Gruppe, die Objekt dieser Erfahrungen ist, reagiert unterschiedlich.
Es gibt lautstarke Proteste einiger Organisationen, aber auch einzelner Personen in der Öffentlichkeit. Es gibt Frust, wohin Deutschland sich entwickelt. Es gibt eigene »Remigrationspläne« in andere Länder oder in das Land der Eltern. Es gibt auch eine Gruppe, die meint, dass Deutschland genug Migrant:innen hat und genug für sie getan hat.
Das ist kein Phänomen nur in Deutschland. In Frankreich wählen auch Migrant:innen die Partei Rassemblement National, in den Niederlanden koaliert die rechtsliberale VVD unter der Führung der Tochter kurdischer Migrant:innen mit der PVV von Geert Wilders. Politik wird als ein Ergebnis von Kompromissen präsentiert. So ist niemand von rassistischen Denkschablonen befreit.
*Mark Terkessidis: Psychologie des Rassismus. Wiesbaden 1998.
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