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Aufmacher Klasse 1. Oktober 2025

Lieferando-Rider kämpfen gegen moderne Tagelöhnerei

von Gerhard Klas

Lieferando galt in der Branche lange als Vorzeigeunternehmen. Der Großteil der Fahrer ist direkt fest angestellt und es gibt Betriebsräte an mehreren Standorten. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Im Juli kündigte Lieferando an, 2000 fest angestellte Kuriere zu entlassen und stattdessen auf Fleetlery und weitere Subunternehmer zu setzen.

Am 29.August 2025 versammelten sich rund 60 Lieferando-Beschäftigte in Potsdam. Auf der Tagesordnung stand nichts weniger als ihre berufliche Zukunft.
»Das ist unsere letzte Chance, bei Lieferando für faire Bedingungen zu kämpfen«, rief ein Fahrer in den Saal. »Lieferando kündigt uns, um über Subunternehmen noch billiger zu werden«, erklärt Merle, Mitglied des Betriebsrats und des Lieferando Work­ers Collective (LWC), gegenüber labournet.tv. die Situation. Dort müssten die Fahrer:innen »ohne Vertrag, ohne Mindestlohn, ohne Krankengeld und Urlaub« arbeiten, »sämtliche Arbeitsrechte« gingen verloren.
Angst und Wut treibt viele Fahrer:innen in Berlin, Potsdam und anderen Städten um. Der Konzern plant, bis Ende 2025 rund 2000 Stellen abzubauen. Der Standort Potsdam soll ganz geschlossen werden. Offiziell begründet die Geschäftsführung den Schritt mit dem Ziel, »agiler« zu werden. In den Ohren der Betroffenen klingt das zynisch: Agil sein heißt für sie: Verlust ihres Arbeitsvertrags, ihres festen Einkommens, ihrer Rechte. Nicht nur in Berlin kommen viele Fahrer:innen aus Südasien und sind verschuldet. Häufig studieren sie, vor allem an Privatuniversitäten, die hohe Studiengebühren von bis zu 12.000 Euro im Jahr verlangen.
Besonderes Misstrauen richtet sich gegen die Firma Fleetlery, deren Arbeitsweise für Lieferando offensichtlich Vorbild ist. Lieferando, aber auch Volt, Uber Eats etc., können Fleetlery nutzen, um Lieferaufträge an Kuriere vermitteln zu lassen. Laut eigener Website bietet Fleetlery Apps, Schnittstellen, Flottenmanagement und eine Auswahl von Kurieren. Auftraggeber schicken über eine »Schnittstelle« Bestellungen an Fleetlery; Fleetlery verteilt sie dann an Fahrer:innen, die mit der Fleetlery-App arbeiten. Auf der Seite »Kurier werden« wirbt Fleetlery mit Festanstellung, Bonus, Kilometergeld usw. Auch verschiedene Vertragsformen werden dort genannt – Vollzeit, Teilzeit, Werkstudent usw.
In der Praxis jedoch, so berichten Fahrer:innen, werden Aufgaben an weitere Subunternehmen weitergereicht. Dort müssen Neulinge teils 50 bis 500 Euro bezahlen, um Zugriff auf die App zu erlangen. Vom ersten Gehalt werden die Summen abgezogen, die Arbeitszeit wird bar und informell vergütet. Wer sich nicht ständig einloggt, riskiert, aus der App entfernt zu werden – ohne Kündigung, denn es gibt keinen Vertrag.

Löhne in bar
Die Berliner Zeitung spricht von einem drohenden »Pay-to-Work«-System. Arbeitsrechtler Martin Bechert, der die Versammlung in Potsdam begleitete, fasst es drastisch: »Es geht hier um die Frage, ob man noch ein legales Arbeitsverhältnis hat – oder ob man in die Illegalität getrieben wird.«
Reporter des ARD-Politikmagazins Kontraste und von rbb24-Recherche konnten solche Vorgänge beobachten: An einem Juliabend wurden etwa 70 Lieferkuriere zu einem geheimen Treffpunkt in Berlin-Neukölln gelotst. Dort sollten sie auf offener Straße teils stundenlang in Kleingruppen warten. Dann kam ein Kleinwagen mit großen Mengen Bargeld, die ein Mann schließlich in Briefumschlägen an die einzelnen Fahrer verteilte.
»Es handelte sich mutmaßlich um die Auszahlung von Lieferkurieren, die für den Subunternehmer Fleet­lery Bestellungen für Lieferando ausfahren«, so die Reporter. Zu dem Bargeld seien keine Quittungen oder Rechnungen ausgestellt worden, wie zugespielte Chatverläufe und Aussagen mehrerer Fahrer belegen. »Wie unter solchen Umständen Steuern oder Sozialabgaben entrichtet werden, ist unklar«, so ihr Resümee.
Eindringlich schildert Horst, Familienvater und Fahrer aus Berlin, die Konsequenzen. »Noch haben wir Planbarkeit, noch wissen wir, was am Monatsende kommt. Aber wenn wir zu Subunternehmern gezwungen werden, wissen wir nicht einmal mehr, ob wir die Miete zahlen können.« Er fordert: »Ganz Deutschland müsste streiken, nicht nur Hamburg oder Potsdam.«
Tatsächlich legen seit Juli Lieferando-Fahrer:innen in mehreren Städten ihre Arbeit nieder – in Köln, Leverkusen, Bonn, Dortmund, Hannover, Göttingen, Braunschweig, Mainz, Frankfurt am Main, Offenbach, Anfang September in Dresden, wo wie in Potsdam die ganze Lieferando-Zentrale, genannt HUB, geschlossen werden soll.
»Damit entfällt in den Augen von Lieferando auch die Daseinsberechtigung des Dresdner Betriebsrats«, erklärt die zuständige Gewerkschaft NGG-Ost. »Denn an allen Standorten, an denen es keine HUB gibt, stellt Lieferando die Existenz von Betriebsräten gerichtlich in Frage – die Verfahren dazu laufen noch«, so die NGG. »Es ist daher davon auszugehen, dass die Schließung von HUBs nicht nur wirtschaftliche Ziele verfolgt, sondern gezielt Mitbestimmung verhindern soll.«
Insgesamt plant Lieferando 34 seiner Standorte zu schließen, laut Freitag sind darunter elf Standorte mit einem Betriebsrat. Sogenannte »Flottenpartner« wie Fleetlery stehen in den Startlöchern.

Tarifverträge statt Subs
In Potsdam vergleicht ein Kollege aus der Türkei die Praktiken mit Zuständen der Tagelöhnerei in den 1950er Jahren in ?stanbul. Er beschreibt den immensen Druck, der auf den Fahrer:innen lastet.
»Ich hätte nie gedacht, so etwas 2025 in Deutschland zu erleben«, sagt er. Andere warnen, dass Essen bereits jetzt von Fahrer:innen ausgeliefert wird, die krank fahren müssen, weil sie sonst nichts verdienen.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) unterstützt die Aktionen der Lieferando-Fah­rer:innen. Sie fordert einen Stundenlohn von 15 Euro, Zuschläge für Nacht-, Abend- und Wochenenddienste, ein 13.Monatsgehalt, vollständige Bezahlung der Heimfahrt nach Schichtende und vertraglich gesicherte Mindeststunden.
Der Protest richtet sich gegen eine grundsätzliche Abwertung der Arbeit. Lieferando betont, man zahle bereits zwischen 14 und 17 Euro pro Stunde und sehe keinen Bedarf für einen Tarifvertrag. Fahrer:innen widersprechen: Effektiv blieben nach Abzug der Kosten oft deutlich weniger. Wer sein Fahrrad reparieren oder ein Smartphone ersetzen muss, zahlt drauf. Die Fahrer:innen wollen Tarifverträge und reguläre Festanstellungen. »Wir wollen Beiträge zahlen, Urlaub haben, im Krankheitsfall abgesichert sein«, sagt ein Fahrer, »das ist kein Luxus, das ist Normalität.«
Die Gewerkschaft NGG fordert Sozialtarifverhandlungen und droht mit neuen Warnstreiks, sollte Lieferando weiter ganze Standorte still­legen und die Kolleg:innen in die Scheinselbständigkeit treiben. »Ich möchte nicht arbeiten, wenn ich krank bin – aber ich werde dazu gezwungen sein«, fürchtet ein Fahrer auf der Versammlung in Potsdam.
Klar ist: Die Fahrer:innen kämpfen um Tarifbindung, um verlässliche Jobs und um ihre Würde. »Wir sind die Gesichter von Lieferando, wir fahren jeden Tag durch die Stadt«, so eine Fahrerin am Ende der Versammlung. »Wir lassen uns nicht einfach abschalten wie eine App.«

Am 27.September fand in Berlin eine Streikversammlung des Lieferando Workers Collective statt.

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