Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
Arbeitswelt 1. Juli 2025

Der schleichende Abschied vom Achtstundentag
von Tobias Michel

1918 jagten die aufständischen Soldaten und Matrosen nicht nur den deutschen Kaiser ins Exil. Als eine ihrer ersten und wichtigsten Forderungen wurde der Achtstundentag gesetzlich verankert. Nur fünf Jahre später weichte eine Große Koalition im Reichstag diesen Schutz auf und ließ den Zehnstundentag zu. Heute gibt es an dieser Grenze kein Halten mehr.

Im Frühjahr 2025 raufte sich die schwarz-rote Regierung zusammen. Sie will manches anpacken. Ihr Koalitionsvertrag lässt nichts Gutes ahnen: Die Arbeitszeiten sollen »flexibler« gestaltet und Überstunden auf »freiwilliger« Basis möglich werden. Natürlich im »Dialog mit den Sozialpartnern«, unter Berücksichtigung der »hohen Standards im Arbeitsschutz« und der »geltenden Ruhezeitregelungen«.
Diesen Phantasien wird in besinnungslosen Betrieben bereits vorgegriffen.
Vor einigen Jahren entdeckten zunächst die Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen, dann auch die Ver.di-Tarifabteilung den »freien« Willen. Die Idee der »freiwilligen Übernahme zusätzlich betrieblich veranlasster Dienste« rutschte in einige Tarife mit konfessionellen Trägern. Der Dialog der Bundesarbeitsministerin mit diesen »Sozialpartnern« könnte sich also bei der Umsetzung des Koalitionsvertrages als die geringste Hürde erweisen.
Aber was bedeutet »Freiwilligkeit«? Wir dürfen auf den Arbeitsmarkt. Dort handeln wir unsere Arbeitskraft ganz frei – wir sind weder Sklaven noch Fronarbeiter. Wer nichts anderes zu verkaufen hat als diese Arbeitskraft, will sie verkaufen. Wir sind gezwungen, uns einem Arbeitgeber zu unterwerfen. Dieser Zwang erscheint so natürlich wie etwa das Naturgesetz der Schwerkraft. Auf dem Arbeitsmarkt beginnt und endet unsere Freiheit.
Arbeitsrechtler nennen die gegenseitige Übereinkunft – zwischen uns und dem Arbeitgeber – einen Vertrag. Wir schließen ihn »freiwillig« und machen uns zum Knecht. Mal braucht es da die Schriftform, mal genügt für die Einwilligung unsere ausdrückliche Zustimmung. Meist genügt bereits das stille Einvernehmen.
Wer sich vorbehaltslos auf eine betriebliche Arbeitszeitregelung einlässt, stimmt ihr zu. Dazu gibt es ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Die CDU-SPD-Koalition strebt womöglich solch ein Geschenk für die Arbeitgeber an. Können diese bald all denen die tägliche Arbeitszeit verlängern, die nicht zu widersprechen wagen?
Wir übernehmen willig eine Arbeitsaufgabe, fügen uns in ein Team ein, in soziale Regeln, in das größere Ganze, die betrieblichen Abläufe. Das Direktionsrecht der Arbeitgeber tritt dabei oft zurück. Clever überlassen sie es den Vorgesetzten und den Einzelnen, das zwingend Erforderliche zu erkennen.
Sie sollen nützlich und profitabel werden. Der freie Wille der Alleingelassenen verendet als deren Einsicht in die betrieblichen Notwendigkeiten. Sie telefonieren am späten Abend, um für den Folgetag überraschende Personallücken zu stopfen. Sie beruhigen spätabends Klienten, die in eine Krise geraten. Sie formulieren selbst die Ziele im Arbeitsbereich und versuchen, die gesetzten Vorgaben zum Monatsende zu erfüllen.

Im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie?
Die schwarz-rote Koalition beschwört ihre Treue zum Unionsrecht. Die EU-Richtlinie 2003/882 durchlöchert den Schutz der abhängig Beschäftigten in Artikel 17: falls »die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann«. Viele Arbeitgeber scheren sich wenig um Pflichten zur Aufzeichnung der Arbeitszeit. Sie messen nicht. Wer sich nicht kümmert, braucht sich nicht sorgen.
Seit 2010 begründet Artikel 31 II der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – im Zusammenspiel mit der EU-Richtlinie – unseren unmittelbaren Anspruch auf mindestens elf Stunden tägliche Ruhezeit. Jeder Werktag dauert – ab der ersten Arbeitsaufnahme – 24 Stunden. 24 Stunden minus elf Stunden – all das beschränkt die werktägliche Arbeitszeit auf 13 Stunden. Allerhöchstens. In den Dienstplänen – etwa in Krankenhäusern … stolpern wir dagegen über XXL-Schichten mit bis zu 24 Stunden, meist in Verbindung mit Bereitschaftsdienst. Die werktägliche Ruhezeit verschwindet.
Nach EU-Recht gilt auch für die Nachtarbeit mit erheblicher Belastung: höchstens acht Stunden. In Deutschland ist diese Vorschrift nur kläglich verankert. Über §6 Abs.1 Arbeitszeitgesetz greifen die Leitlinien (»die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit«). Folgerichtig schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): »Lange Schichten von mehr als acht beziehungsweise zehn Stunden sind unbedingt zu vermeiden, da diese die mit der Nachtarbeit verbundenen Risiken, vor allem hinsichtlich des Auftretens von Unfällen … durch die lange Expositionsdauer verschärfen.«
Lange Schichten – das gilt auch für Bereitschaftsdienste.
Muss im Nachtdienst in der Notaufnahme, im Heim oder Rettungsdienst gedreht, gehoben und getragen werden? Stresst die Herausforderung durch nächtliche Alleinarbeit? Ist sie mit der Gefahr verbunden, pausenlos durchzuarbeiten? Das will die Regierung nicht festlegen. Auch die Betroffenen selbst können darüber nicht mehrheitlich abstimmen. Geht es um die Achtstundennacht, dann können betriebliche Interessenvertreter:innen initiativ werden und mit Hilfe von Dienstvereinbarungen Grenzen ziehen.

Corona und ein Massenversuch
Während der Coronapandemie brach die Versorgung in vielen Intensivabteilungen und Altenheimen zusammen. Die Arbeitsministerien reagierten hektisch. Sie schlugen die Bremsen am Wagen weg. Ihre Verordnungen erlaubten den Arbeitgebern Höchstbelastungen: bis zu zwölf Stunden werktäglich für ihr Personal.
»Freiwillig« wechselten viele Teams versuchsweise in den Zwei-Schicht-Betrieb – trotz Atemschutzmasken, Kittelpflicht und Überlastung mit Beatmungspatienten. Erschöpft kehrten die allermeisten binnen weniger Wochen zu den überkommenen Arbeitsmodellen zurück. Denn XXL-Schichten entfesseln die Anzahl von Hygienefehlern und die Arbeitsunfähigkeit beim Personal. Der Arbeitspsychologe Friedhelm Nachreiner berichtete damals über den Zusammenhang zwischen der Dauer der Arbeitszeit und Gesundheitsgefahren: »Die Ergebnisse belegen, dass die vom BMAS erlassene Covid-19-Arbeitszeitverordnung unter Arbeitsschutzgesichtspunkten dysfunktional ist und zu einer erheblichen Schwächung des Arbeitsschutzniveaus bei den Betroffenen führt.«
Die »hohen Standards im Arbeitsschutz wahren«: Die neue Regierung will »wahren«, was es noch gar nicht gibt. Die Messlatten beim Arbeitsschutz sind hierzulande recht dünn und biegsam. Sie fallen regelmäßig hinter europarechtliche Standards zurück. Der Achtstundentag ist eine Ausnahme. Über 150 Jahre haben Arbeiter:innen für ihn gestritten. Das verwurzelt sich tief.
Diesen Achtstundentag hängten die Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen sorglos in ihr Säurebad. Sie erlaubten den Betrieben die Verlängerung auf »bis zu zwölf Stunden«.

Kurs halten
Da klopfen durchaus Kolleginnen oder ganze Stationsteams aus Kranken- und Pflegeeinrichtungen an unsere* Tür, die auf die Verlängerung ihrer Schichten drängen. Etwa weil sie andernfalls noch einen sechsten Tag in einer Woche im Dienstplan fürchten – tatsächlich wollen viele Arbeitgeber einen sechsten Kalendertag mit fünf Schichten, obwohl genau das unzulässig ist. Oder weil jede Nachtschicht gleich zwei Arbeitstage berührt, und deshalb zu »Minusstunden« führt. Kolleginnen verwechseln manchmal solche, durch die Arbeitsorganisation der Chefetage hausgemachten Probleme mit ihren eigenen.
Überstunden, Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst verkürzen die Freizeit empfindlich. Wieder mehr Freischichten durch verlängerte Schichten – das wirkt verführerisch. Mit zunehmender Dauer der Schichten sinkt deren Produktivität – das ahnen aufgeklärte Arbeitgeber. Aber mit 12-Stunden-Schichten lassen sich unkomplizierte Dienstpläne basteln.
So gerät die Mitarbeitervertretung (MAV) gehörig unter Druck. Soll sie den Langschichten einzelner zustimmen – weil diese darum betteln? Soll sie diese Ungeheuerlichkeiten auf ganze Teams ausdehnen?
Es gibt keine Patentrezepte. Aber ein Tabu: Keine Schichtverlängerung im Zusammenspiel mit einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit! Überstunden, Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst schließen jede Form von XXL-Schichten aus.
In Artikel 8 der EU-Arbeitszeitrichtlinie steht: Nicht nur Gesetze oder Tarifparteien können Arbeitsplätze gegen XXL-Schichten sperren. MAVs, Betriebs- und Personalräte können selbst tätig werden und mit Dienstvereinbarungen XXL-Schichten und damit erhebliche gesundheitliche Risiken für ihre Kolleg:innen ausschließen.

*Berät und unterstützt unter schichtplanfibel.de Belegschaften und deren Interessenvertretungen.

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.