Demokratie überwinden, bevor sie sich abschafft!
von Jörg Bergstedt
Das »Demokratie« genannte, politische System, in dem wir leben, hält nicht, was es verspricht. Von Volksherrschaft keine Spur. Aber was muss sich ändern: das Versprechen einer Herrschaft des Volkes oder die Mechanismen, die ihr entgegenstehen? Jörg Bergstedt versucht eine Antwort.
Die Unzufriedenheit mit der Demokratie wächst. Die Angst, sie zu verlieren, auch. Volksherrschaft ist ein Paradox: Je schlechter sie läuft, desto heißer der Wunsch nach ihrem Verbleib, desto größer die Kundgebungen zu ihrer Rettung, desto häufiger die Vorschläge für Neuerungen – aber bitte nur im Rahmen der Demokratie und mit nachdrücklichem Gelübde zu ihr.
Parteien von links bis ganz rechts, Medien, NGOs und sogar die regelmäßig überhaupt nicht demokratisch organisierten Konzernzentralen überbieten sich in Verlautbarungen voller Sorge um die Zukunft der Demokratie. Sie rufen wahlweise zur ihrer Rettung, Verteidigung oder Weiterentwicklung auf – und denunzieren sich gegenseitig, genau das nicht zu wollen.
Förderprogramme löschen die letzten Widersprüche aus: Nur wer auf die Demokratie schwört, bekommt Geld. Rabiater geht es außerhalb des Landes zu: Fremde Regierungen, die den Herrschenden nicht passen, werden als »undemokratisch« diffamiert, verdrängt oder im »humanitären Einsatz« weggebombt.
Das Dilemma lässt sich schlüssig erklären, sogar recht einfach hinsichtlich der Einigkeit beim Zustand der Demokratie. Sie ist schlicht darin begründet, dass es wirklich nicht gut läuft. Zwischenstaatliche Konflikte bis zu blutigen Schlachten, wachsende Ungleichheit zwischen arm und reich, Zerstörung der Umwelt, Diskriminierungserfahrungen im Alltag und die ständige Aufrüstung staatlicher Machtapparate statt gesellschaftlicher Befriedung sind auch und gerade in demokratischen Systemen an der Tagesordnung.
Dass dennoch an der Idee der im Deutschsprech so bezeichneten »Volksherrschaft« festgehalten, ja sie geradezu als Rettung wahlweise gegen die Probleme und sogar gegen das Böse in der Welt angerufen wird, liegt an einem fatalen Analysefehler. Vieles dessen, was an den aktuellen Verhältnissen in demokratischen Ländern kritisiert wird, ist nämlich keine Wirkung undemokratischer Einflüsse von außen, sondern eine Folge der Demokratie und ihrer systemischen Fehler selbst.
Wer jedoch die Demokratie als beste Gesellschaftsform glorifiziert und auftretende Probleme stets auf einen Mangel an Demokratie zurückführt, bleibt auf diesem Auge blind. Fraglos gibt es Missstände, die aus nichtdemokratischen Systemen und Denkweisen in die Demokratie hineinwirken. Sie zu entdecken und Lösungen zu finden, ist wichtig, aber eben nur die eine Seite der Medaille. Die andere, nämlich die aus der Demokratie selbst entstehenden Probleme, bleibt dem Fanblock der Demokratie aufgrund seiner Betriebsblindheit verborgen.
Früher Fortschritt, heute Bremse
Zunächst ein Lob der Demokratie. Sie war und ist gegenüber allen autoritären Regimen ein Fortschritt, stellte deshalb in der Vergangenheit immer wieder eine berechtigte Hoffnung auf mehr Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung dar – und tut das auch heute noch in autokratischen Ländern und in der Wirtschaft, an der das demokratische Zeitalter bislang weitgehend vorbeigegangen ist. Dass die Einführung von Demokratie immer wieder das Ziel von Demonstrationen und Aufständen ist, überrascht daher nicht.
Schwieriger wird es schon bei den konkreten Zielen, die mit solchen Protesten verbunden waren und sind. Meist geht es um Freiheit und um freie Wahlen. Ersteres ist jedoch kein originär demokratisches Merkmal. Freiheit zum Beispiel in Form der Wahrung der Menschenrechte kann es auch außerhalb von Demokratien geben (so etwa in Liechtenstein), umgekehrt können sie in Demokratien mit Füßen getreten werden, wie es unter anderem die Türkei zeigt.
Wahlen sind hingegen integraler Bestand von Demokratien. Die in sie gesetzten Hoffnungen wurden bislang aber eher verfehlt. Selten konnte eine Partei oder Person, die Wahlen gewann, ihre Zustimmungsraten lange halten. In vielen Demokratien wechseln sich wenige Parteien ab.
Nach der Enttäuschung über die Gewählten erringen die anderen die Regierungsgewalt, dann wiederholt sich das Spiel und die Vorherigen kehren zurück an die Hebel der Macht. Verändern tut all das wenig, mitunter gar nichts. Der Ausbau von Macht und Profit schreitet fort.
Für all das wird ständig über Gründe und Lösungsmöglichkeiten diskutiert. Doch eines gerät als Ursache und kompatible Grundlage von Herrschaft und Kapitalismus nie in Verdacht: die Demokratie. Läuft es schlecht, folgt ein Regierungswechsel. Läuft es sehr schlecht, heißt die Losung: »Neuwahlen jetzt!«
Die Demokratie bietet den Unzufriedenen eine integrale Perspektive: statt Systemwechsel nur Personalwechsel. Von dem machen die Wähler:innen auch regen Gebrauch. Doch die Probleme bleiben, zusammen mit der Blindheit, dass es die Demokratie selbst ist, die viele der Probleme erzeugt. Das liegt an ihrer inneren Struktur.
Grenzen, Einheitsbrei und Elitenbildung
Kern jeder Demokratie ist ihr »demos«. Das ist die Gesamtheit der Menschen, die abstimmungsberechtigt sind. Die Grenzziehung des Dazugehörens ist willkürlich und kein Akt der Menschen selbst, sondern einer höheren Macht, die die Grenze festlegt. Sie kann eng gezogen sein wie in den alten attischen Demokratien (Griechenland), wo nur ein kleiner, rein männlicher Anteil der Bevölkerung den »demos« bildete.
In modernen Nationen heißt dieser »Volk«. Es sind die Staatsangehörigen, meist mit weiteren Einschränkungen nach Alter, Gesundheitszustand usw. Das Innen und Außen ist konstitutiv für die Demokratie. Es gibt immer Menschen, die nicht dazugehören.
Die, die dabei sein dürfen, sind es auch nicht als Individuen, sondern nur als Gesamtheit. Individualität und Eigenart gehen verloren. Es regiert formal die Mehrheit, praktisch aber eher der Durchschnitt oder, da Menschen in Massen sehr leicht durch eingängige Parolen beeinflussbar sind, die am deutlichsten vernehmbare (»lauteste«) Stimme. Das leistet dem Populismus Vorschub.
Am Ende steht der Wettbewerb einfacher Losungen und Lösungen, von Aufrüstung im Inneren und nach außen über nationale Gesinnung bis zu Abschiebungen, neuen Strafvorschriften und Milliardengeschenken an Konzerne und Reiche in der Hoffnung, dass die Nachrichten vom wachsenden Bruttosozialprodukt das Elend überstrahlen.
Diese Probleme gelten für jede Demokratieform. Verschärft werden sie durch Wahlen. Die sollen frei und gleich sein, doch in der Realität verschaffen Ämter und Privilegien denen, die ohnehin mehr Reichweite durch Geld, Prominenz oder Pöstchen haben, viel bessere Chancen, erst auf Wahllisten ganz vorne und dann auch in einflussreichen Ämtern zu landen.
Wahlen machen diejenigen, die schon bevorteilt sind, noch stärker. Demokratie ist daher nie eine Gesellschaft, die von unten lebt, vielmehr schwankt sie zwischen Aristokratie und Oligarchie, je nachdem, ob eher Bildungsgrad und gute Beziehungen oder schlicht das Geld die Hierarchien bestimmen.
Die Rettung vor dem Autoritären
Auf demokratischen Wegen weiterzumachen, wird in autoritäre Systeme führen, da der Staat (oder in gesellschaftlichen Subräumen die jeweiligen Apparate) immer mehr zusammenschweißende Propaganda oder sogar Gewalt aufwenden muss, um den konstruierten »demos« zusammenzuhalten, Identität zu vermitteln und, meist das wirksamste Mittel, die Hetze gegen die nicht Dazugehörenden zu verschärfen.
Daraus entsteht am Ende ein autoritäres System. Die Alternative steckt im genauen Gegenteil: Betonung der Vielfalt, Verzicht auf die Grenzziehung zwischen innen und außen, Stärkung von Kommunikation und Kooperation.
Abstimmungen und Wahlen, Kernelemente der Demokratie, erfordern die klare Grenze zwischen denen, die dazugehören, und denen, die draußen bleiben. Kleine Experimente, die mögliche Richtungen für Alternativen aufzeigen, gibt es schon.
Bürger:innenräte werden gelost, setzen sich repräsentativ zusammen. Niemand in ihnen käme auf die Idee, sich als Vertretung des »Volkes« zu bezeichnen. Sie diskutieren auf Augenhöhe und ohne Zwang sich einigen zu müssen. Die Ergebnisse sind bestechend, werden aber durch die demokratischen Herrschaftssysteme ignoriert.
Weitere Beispiele, die Hoffnung machen können, existieren. Sie alle führen zur Erkenntnis: Die Demokratie rettet nicht vor dem Fall ins Autoritäre, sondern bereitet diesen vor. Sie war ein Fortschritt. Nun steht sie diesem im Weg. Sie wird sich verabschieden, so oder so.
Kämpfen wir darum, dass Emanzipation, Gleichberechtigung und der Abbau von Zerstörung, Ausbeutung und Hierarchien den Weg bestimmen. Stehenbleiben, das Festhalten am Status quo, ist keine Option. Mit einem mutigen, inhaltlich gefüllten »Vorwärts statt rückwärts« lässt sich dem rechten Populismus eine Perspektive entgegensetzen, die all diejenigen wieder mitnimmt, die mit der aktuellen Lage unzufrieden sind, sich aber in einer erschreckend hilflosen Weise trotzdem an den Jetzt-Zustand klammern.
Eine attraktive Zukunftsperspektive jenseits des Festhaltens am gleichzeitig bejammerten Grau der Demokratie durch eine wachsende Menge, die – sich ohnmächtig fühlend – mit der Stimmabgabe für rechte Populist:innen oder dem Treten nach Schwächeren ihren Frust oder ihre Ängste zu kompensieren versucht, böte endlich eine Alternative, die nicht nur so heißt.
Der Autor ist langjähriger Umweltaktivist und Publizist. Er lebt in der Projektwerkstatt Reiskirchen/Saaßen.
Jörg Bergstedt: Die Demokratie überwinden, bevor sie sich selbst abschafft – zum Schlimmeren. Reiskirchen: SeitenHieb-Verlag, 2025 (https://demokratie-ueberwinden.siehe.website).
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.
Kommentare als RSS Feed abonnieren