Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Kolumne Ingo Schmidt 1. September 2025

Mandels revolutionärer Optimismus scheint aus der Zeit gefallen zu sein
von Ingo Schmidt

Vor 30 Jahren starb Ernest ­Mandel. Aus der Zeit gefallen. Umgeben von linker Melancholie behielt er seinen revolutionären Optimismus bis an sein Lebensende bei. Dabei waren es in der Zeit die Liberalen, die Grund zum Optimismus hatten. Mit der am 1. Januar 1995, ein halbes Jahr vor Mandels Tod, gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) nahm ihr Traum eine institutionelle Form an, die heute, 30 Jahre später, zum Symbol des Scheiterns geworden ist.

In einer von Sanktionen, Zöllen und bilateralen Handelsverträgen dominierten Welt wirkt die Idee globalen Freihandels nun ebenso aus der Zeit gefallen wie Mandels revolutionärer Optimismus in den 1990er Jahren. Gilt dies auch für seine theoretischen Arbeiten?

In seinem 1972 erschienen Buch Spätkapitalismus hatte Mandel erklärt, weshalb ein zwischen 1914 und 1945 von Kriegen, Krisen, Revolutionen und Konterrevolutionen geschüttelter Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg einen beispiellosen Aufschwung hinlegen konnte. Er hatte aber auch – korrekt wie sich bereits zwei Jahre später herausstellen sollte – das Ende dieses Aufschwungs vorausgesagt. Und daran die Prognose zunehmender imperialistischer Rivalitäten zwischen Europa, Japan und den USA sowie eines Aufschwungs der Klassenkämpfe von unten geknüpft.
Tatsächlich führten die Weltwirtschaftskrise 1974/75, die massive Inflation im Gefolge des Vietnamkriegs und die iranische Revolution 1979 zu einem politischen Kurswechsel der amerikanischen Eliten. Unter dem Banner des Neoliberalismus eröffneten sie einen Klassenkampf von oben und konnten sich dadurch gegenüber Europa und Japan, die während des Nachkriegsaufschwungs zu ökonomischen Rivalen der USA geworden waren, als politische Führungsmacht behaupten.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 erlaubte die Globalisierung des neoliberalen Klassenkampfs von oben, insbesondere nachdem sich die KP Chinas auf die politischen Kommandohöhen des Landes zurückzog und die chinesische Ökonomie in den Weltmarkt einklinkte.

Die lange Welle des neoliberalen Aufschwungs
Freilich sahen sich die Strategen und Ideologen des Neoliberalismus nicht als Klassenkämpfer, sondern als Vollstrecker eherner Gesetze des Marktes und der Natur. Anknüpfend an Schumpeters Prophezeiung im Jahr 1950, ganz am Anfang der langen Nachkriegsprosperität, die Bürokratisierung von Staat und Unternehmen werde den Innovationsgeist von Unternehmen ersticken, der in der Vergangenheit mit der Erfindung und Verbreitung neuer Technologien für lange Wirtschaftsaufschwünge gesorgt habe, propagierten seine intellektuelle Erben in den 80er Jahren die Befreiung des Unternehmertums von bürokratischen Fesseln.
Internet und Personal Computer, letztere massenproduziert in den Billiglohnländern des Südens, insbesondere in China, galten ihnen in den 90er Jahren als Ausweis eines effizienten Weltmarkts, der Innovationen im Westen, vor allem natürlich den USA, und Massenproduktion im Süden ansiedelt. Mandel teilte Schumpeters kritische Sicht auf die Bürokratie, doch er hoffte – vergeblich – auf eine antibürokratische Revolution in Osteuropa.
Lange Wellen werden Mandel zufolge durch schwere Niederlagen der Arbeiterbewegung möglich. Diese führen zu einem Anstieg der Profitrate und der Investitionen. Im Laufe des Aufschwungs setzt sich das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate wieder durch, der Aufschwung erlahmt. Die Kapitalisten müssen sich dann entweder mit stagnierenden Profiten abfinden oder sie durch eine Klassenoffensive wieder in die Höhe treiben.
So geschah es seit den 80er Jahren. Diese neoliberale Welle der Akkumulation, die gegenüber der Nachkriegsprosperität schwach ausfiel, aber den durchschnittlichen Wachstumsraten früherer langer Aufschwünge entsprach, konnte oder wollte Mandel nicht sehen. Noch unmittelbar vor seinem Tod bestritt er, dass ein neuer Aufschwung eingesetzt habe.
Dessen besondere Merkmale werden dafür im Anschluss an Mandels Analysen des Nachkriegsaufschwungs deutlich. Das gilt besonders für den Aufstieg multinationaler Konzerne und die damit verbundene Internationalisierung der Produktion.

Internationalisierung und Imperialismus
Obwohl er die Internationalisierung der Produktion empirisch wahrnahm, hielt er an den Theorien fest, die Lenin und Bucharin in einer Zeit entwickelt hatten, als Kapitalexporte den Aufbau nationaler Industrien in anderen Ländern, damals vor allem den USA, sowie koloniale Infrastrukturen finanzierten, aber keine grenzüberschreitenden Lieferketten hervorbrachten. Es war die Zeit der staatskapitalistischen Trusts und der Kolonialreiche mit je eigenen industriellen Zentren und Agrarprodukte bzw. Rohstoffe produzierenden Peripherien.
Sie endete jedoch bereits während des Nachkriegsaufschwungs, als US-Konzerne, später gefolgt von europäischen und japanischen Konkurrenten, mit ihren Niederlassungen am Aufbau eines Imperialismus ohne Kolonien wirkten. Zwar gab es eine regionale Konzentration von Produktion und Handel in Nordamerika, Westeuropa und Japan (der Triade), aber die »Eigentumsketten« der multinationalen Konzerne lagen quer zu den regionalen Schwerpunkten ökonomischer Aktivität.
Der McKinsey-Vordenker Kenchi Ohmae knüpfte in den 90er Jahren an diese Verbindung der Konzentration von Produktion und Handel die These, Staaten würden im globalisierten Weltmarkt absterben. Damit lag er genauso daneben wie Mandel mit seiner Annahme, die regionale Konzentration werde zu imperialer Konkurrenz zwischen den Polen der Triade führen.
Mandel unterschätzte die Sonderstellung der USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur, wie Großbritannien vom Beginn der industriellen Revolution bis ins späte 19.Jahrhundert, Werkstatt der Welt, waren, sondern mit dem Dollar das Weltgeld kontrollierten und zugleich die technologische und militärische Führungsmacht waren. Verglichen damit waren Europa und Japan nicht mehr als wettbewerbsfähige Produktionsstandorte.
Anders, als Mandel glaubte, übersetzten sich steigende Weltmarktanteile dieser Standorte nicht in imperiale Macht. Obwohl die Führungsmacht USA mit der von ihr gestalteten Nachkriegswirtschaft in den 70er Jahren in eine Krise geriet, konnten sie ihre Führungsrolle seit den 80er Jahren wieder herstellen. Sie gaben ihre Stellung als Werkstatt der Welt auf und bauten Lieferketten auf, die Innovationen und Marketing in den Metropolen mit standardisierter Massenproduktion in den Peripherien verbanden – ein Produktionsmodell, das deutlich profitabler war als die staatskapitalistischen Trusts aus den Zeiten Lenins und Bucharins.
Zugleich wurden die USA zu einem Nettoimporteur von Kapital, machten damit Produzenten aus aller Welt vom US-Markt abhängig und akkumulierten Schulden, von denen klar ist, dass sie nicht zurückgezahlt werden.
Imperialistische Führung, die auf Kapitalimporten basiert, unterscheidet sich seit den 80er Jahren radikal von der Kombination aus Kapitalexporten und kolonialen Eroberungen, in der Lenin, zusammen mit der Herrschaft des Monopolkapitals, im frühen 20. Jahr­hundert die Grundlage imperialer Macht sah.
An die Stelle rivalisierender Kolonialmächte ist ein Jahrhundert später der Widerspruch zwischen dem US-amerikanischen Staat und der internationalen Produktion getreten.

Protektionismus und Populismus
Innerhalb der USA führte dieser Widerspruch zu Konflikten zwischen den Kräften, die die amerikanische Dominanz im kapitalistischen Weltsystem in ein multilaterales Institutionengefüge einbetten und dadurch absichern wollen, und solchen, die Amerika über die Globalisierung stellen. Für erstere steht Bill Clinton, für letztere George W. Bush. Die von Bush befohlenen Invasionen in Afghanistan und den Irak wurden als Krieg gegen den Terror dargestellt, waren aber vor allem eine Demonstration US-amerikanischer Staatsmacht gegen den Multilateralismus. Europa und Japan wurde damit ihre untergeordnete Stellung vorgeführt.
Barack Obama und Joe Biden haben Bushs America-First-Politik etwas diplomatischer verkauft, aber in der Sache fortgesetzt, seit sich China von einer verlängerten Werkbank in ein Land mit eigenen Innovationskapazitäten entwickelt hat – eine Herausforderung, auf die auch Obama und Biden mit protektionistischen Maßnahmen reagiert haben. Donald Trump betreibt die America-First-Politik offen, nicht nur gegenüber China, auch gegenüber den BRICS-Staaten und den nominellen Partnerstaaten der NATO.
Er nutzt die weiter bestehende Stärke der USA dazu, einen größeren Teil des weltweit geschaffenen Mehrwerts in die Taschen amerikanischer Kapitalisten fließen zu lassen, sich selbst eingeschlossen. Es sind die gleichen Kapitalisten, die seit den 80er Jahren für Wut, Abstiegsängste und Elend in den amerikanischen Mittel- und Arbeiterklassen gesorgt haben.
Die Hoffnungen, die Teile dieser Klassen in Trump setzen, werden enttäuscht werden. Denn die Politik des America First untergräbt die Grundlagen, auf denen die amerikanische Vorherrschaft bis heute beruht.
Die multipolare Welt, die infolge der protektionistischen Wende in den USA entsteht, ist kein politisches Projekt. Sie beschreibt einen labilen Zustand, der, wenn es gut läuft, Spielräume für linke Bewegungen schafft. Wenn es schlecht läuft, verschärft er Klimakrise und Krieg bis zum Ende der menschlichen Zivilisation. Ein etwas anderes Ende der Geschichte, als es sich Francis Fukuyama vorgestellt hat.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.

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