von Michael Pröbsting, 12. September 2025
Eine Antwort an Claudio Katz über die Aktualität der marxistischen Imperialismus-Theorie und der Strategie der Anti-Kriegsbewegung
Vor kurzem veröffentlichte die SoZ die Übersetzung eines Beitrages von Claudio Katz (Die Brics: Kontroversen in der Linken). Darin befasst sich dieser mit der der Aktualität der Imperialismus-Theorie in der gegenwärtigen Weltlage und setzt sich kritisch mit den Positionen verschiedener Autorinnen und Autoren, darunter auch Michael Pröbsting auseinander. Pröbsting hat in den vergangenen drei Jahren eine Debatte mit Claudio Katz geführt, die in mehreren Sprachen veröffentlicht wurde. Er ist Chefredakteur der mehrsprachigen Homepage www.thecommunists.net und Autor von zehn Büchern zu Fragen der marxistischen Theorie. (d.Red)
Claudio Katz ist einer der bekanntesten progressiven Ökonomen Lateinamerikas, der in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen über das gegenwärtige imperialistische System sowie neue Allianzen wie BRICS+ veröffentlicht hat. Im Wesentlichen behauptet er, dass der Kapitalismus nicht mehr durch Widersprüche zwischen imperialistischen Mächten, sondern vielmehr durch die Dominanz eines einzigen (US-geführten) „Imperiums“ gekennzeichnet sei.
Im Gegensatz dazu vertrete ich die von Lenin entwickelte Analyse, wonach die kapitalistische Welt weiterhin durch inner-imperialistische Rivalität geprägt ist, die sich derzeit in besonderem Maße in den Spannungen zwischen westlichen und östlichen Großmächten (USA, Westeuropa und Japan gegen China und Russland) zeigt.
Daraus ergeben sich grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Meiner Meinung nach ist Katz ein einseitiger Anti-Imperialist. Für ihn ist „der Hauptfeind … die amerikanische Führung des imperialistischen Systems“, und er weigert sich ausdrücklich, den imperialistischen Charakter Russlands und Chinas anzuerkennen.
Im Falle Chinas leugnet er sogar, dass dort kapitalistische Produktionsverhältnisse wiederhergestellt wurden. Folglich ist er nur ein Anti-Imperialist gegen die USA und ihre Verbündeten, nicht jedoch, wenn es gegen andere imperialistische Mächte wie Russland und China geht. Er verabsäumt es daher, die Kämpfe unterdrückter Völker gegen diese östlichen Großmächte beziehungsweise ihren lokalen Verbündeten zu unterstützen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass ich all seinen Argumenten widerspreche. Ich stimme seiner Kritik an jenen Theorien zu, die von einer Transnationalisierung des Kapitals sprechen, also einer angeblichen Überwindung des wesentlich nationalen Charakters der Monopolen.
Ebenso teile ich als marxistischer Anti-Imperialist voll und ganz seine Verurteilung der Ausbeutung und Unterdrückung der Länder des Globalen Südens durch die USA und ihre Verbündeten. Daher unterstütze ich den Widerstand der unterdrückten Völker – nicht nur in Worten, sondern auch in Taten.
Als politischer Aktivist trete ich zum Beispiel regelmäßig als Redner bei Protestdemonstrationen gegen den zionistischen Völkermord in Gaza auf. Letztes Jahr hatte ich einen Gerichtsprozess wegen meiner öffentlichen Unterstützung des bewaffneten Widerstands des palästinensischen Volkes, der mit einem Schuldspruch und einer auf sechs Monate zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe endete.
Ebenso lehne ich jedoch auch den russischen Imperialismus ab. So habe ich mich im Frühjahr 2022 an Solidaritätskonvois für das ukrainische Volk beteiligt und hielt bei einer 1. Mai-Veranstaltung in Lviv eine Rede gegen den Einmarsch der russischen Armee.
Insgesamt halte ich die Analyse von Katz für grundlegend falsch und denke, dass ihre politischen Konsequenzen die Anti-Kriegsbewegung in eine politische Sackgasse führen – nämlich dem Programm des einäugigen Anti-Imperialismus.
Das „Imperium“ und das „nicht-kapitalistische“ China
Katz behauptet, sein Konzept basiere auf Lenins Theorie, berücksichtige jedoch „zwei große Veränderungen“, die „in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ stattgefunden hätten.
Einerseits bildete sich ein Block von Ländern, der sich vom kapitalistischen Markt abwandte (das sogenannte sozialistische Lager), und andererseits vollzog sich die Transformation des klassischen Imperialismus in ein imperiale System.
Laut Katz habe
das imperiale System die militärische Rivalität zwischen den Hauptmächten des Kapitalismus modifiziert. Die blutigen Konfrontationen zwischen Frankreich und Deutschland oder Japan und den Vereinigten Staaten wurden durch einen von den USA geführten Apparat ersetzt, der die Mächtigen schützt. Der amerikanische Riese fungiert als Zentrum eines geschichteten und pyramidenförmigen Mechanismus, der verschiedene Arten von Beziehungen zwischen der führenden Macht und ihren Partnern artikuliert.
Während Katz anerkennt, dass Russland und China als neue Mächte aufgestiegen sind, leugnet er nicht nur den imperialistischen Charakter Russlands, sondern sogar, dass China ein kapitalistisches Land geworden ist.
Im 21. Jahrhundert steht diese Anpassung des leninistischen Ansatzes in einem anderen Kontext. Dem Zerfall der UdSSR folgte das Verschwinden des sogenannten sozialistischen Lagers und die Konsolidierung des Kapitalismus in Russland, was zur neuen Zentralität einer bedrängenden und bedrängten Macht führte. Moskau wird von der NATO bedrängt und führt externe Eingriffe in seinem Einflussbereich durch. Aus diesem Grund agiert es als ein nicht-hegemoniales Reich in Entstehung. Es entwickelt seine Prioritäten im Konflikt mit dem imperialen System, jedoch mit Maßnahmen, die durch Gewalt den Vorrang seiner Interessen sichern.
China steht, wie Russland, außerhalb des imperialen Systems und erfährt die gleichen Aggressionen des Pentagon. Aber im Gegensatz zu seinem eurasischen Gegenstück hat es die kapitalistische Restauration nicht abgeschlossen und bisher alle Auswüchse einer imperialistischen Macht vermieden. Es entsendet keine Truppen ins Ausland, vermeidet die Beteiligung an militärischen Konflikten und bewahrt eine große geopolitische Zurückhaltung. Mit dieser defensiven Strategie stärkt es seine wirtschaftlichen Dominanzbeziehungen mit dem Großteil der Peripherie.
Lenin auf den Kopf gestellt
Katz behauptet zwar, Lenins Theorie des Imperialismus im Hinblick auf die Veränderungen des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg weiterentwickelt zu haben. In Wirklichkeit jedoch liquidiert er Lenins Theorie und stellt die marxistische Methode, unter Mithilfe strukturalistischer Versatzstücke, auf den Kopf.
Marx und Engels gingen in ihrer Analyse der Weltpolitik von den Widersprüchen zwischen Klassen und Nationen, zwischen Staaten und Mächten aus. Folglich betrachteten die bolschewistischen Theoretiker den Imperialismus als ein widersprüchliches globales System, das auf dem Antagonismus zwischen Klassen, Nationen und Staaten basiert. Sie bewerteten die politische und wirtschaftliche Stärke einzelner Mächte und deren Beziehungen zueinander und leiteten daraus eine Charakterisierung der Weltlage ab.
Daher betrachten wir den modernen Kapitalismus als durch mehrere grundlegende, eng miteinander verwobene Widerspruchslinien gekennzeichnet: i) den Antagonismus zwischen den Klassen, ii) den Antagonismus zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen, iii) den Antagonismus zwischen imperialistischen Mächten und halb-kolonialen Ländern, iv) den Antagonismus zwischen Staaten im Allgemeinen und insbesondere zwischen imperialistischen Mächten.
Katz verfolgt einen völlig anderen Ansatz. Er beginnt mit dem Dogma des US-geführten „Imperiums“, ohne jegliche konkrete Analyse, und leitet seine Bewertung einzelner Staaten und Volksbewegungen in verschiedenen Ländern aus deren jeweiliger Position zu diesem „Imperium“ ab. Nebenbei bemerkt, kommen seine Analysen weitgehend ohne Zahlen- und Faktenmaterial aus – ganz in der unsäglichen Tradition des Strukturalismus.
Lenin betrachtete Imperialismus als ein System, das aus der ökonomischen Grundlage des Kapitalismus und seinen Klassenwidersprüchen hervorgeht. Imperialismus, einschließlich eines „Imperiums“, war nichts, das von der ökonomischen Basis abgetrennt war. Katz hingegen macht das Gegenteil – er beginnt mit einem abstrakten Dogma und ordnet die Klassen und Nationen, deren Widersprüche und Kämpfe diesem Dogma unter. Das macht sein gesamtes Schema unmaterialistisch und folglich unmarxistisch.
Wenn Russland mit Truppen in andere Länder eingreift, um seinen Einfluss auszuweiten, Volksaufstände niederzuschlagen oder eine verbündete Diktatur an der Macht zu halten (zum Beispiel in Tschetschenien, Georgien, Kasachstan, Syrien, Libyen, Mali, …), dann ist das nicht imperialistisch, weil … Moskau nicht Teil des US-geführten „Imperiums“ ist.
Wenn China wirtschaftliche und finanzielle Beziehungen mit halb-kolonialen Ländern entwickelt, die dazu führen, dass Mehrwert von lokalen Arbeitern und Bauern extrahiert wird, dann stellt dies keine imperialistische Überausbeutung dar, weil … Peking nicht Teil des US-geführten „Imperiums“ ist.
Katz hat also eine sehr entgegengesetzte Sichtweise zu Lenin. Er beginnt mit der Spitze der politischen Überbaus – dem vermeintlichen US-geführten „Imperium“ – und ordnet alle Kämpfe zwischen Klassen und Staaten diesem einzigen Merkmal unter. Es sind nicht die Beziehungen zwischen den Klassen und Nationen, die für Katz zählen, sondern vielmehr die Beziehung der Klassen und Nationen weltweit zum US-geführten „Imperium“. Dadurch schafft er einen unmarxistischen Mythos, der über den Widersprüchen zwischen Klassen und Staaten schwebt.
Konsequenterweise versteht Katz „Imperialismus“ als aggressive Außenpolitik – im Gegensatz zu Lenin und ähnlich wie Karl Kautsky vor einem Jahrhundert. So schreibt er beispielsweise:
Die Stellung dieser Mächte (China und Russland, Ed.) in der Weltwirtschaft belegt nicht ihre Rolle als ein Imperium. Diese Rolle wird durch die Bewertung ihrer Außenpolitik, ihrer Interventionen im Ausland und ihrer geopolitisch-militärischen Aktionen auf der globalen Bühne verdeutlicht.
Monopole und Großmächte heute
Ich habe in meinen Arbeiten zum gegenwärtigen Imperialismus dargelegt, dass die USA und ihr „Imperium“ schon lange nicht mehr die Welt beherrschen. Ein Großteil der kapitalistischen Wertschöpfung findet nicht mehr in den westlichen imperialistischen Ländern statt, wie die herrschende Klasse bei all den Störungen der globalen Lieferketten in den vergangenen Jahren schmerzlich feststellen musste.
Während die USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien 1985 gemeinsam etwa 55 % der weltweiten Industrieproduktion ausmachten, war dieser Anteil bis 2018 auf weniger als 30 % gesunken. China ist dagegen zur Nummer 1 aufgestiegen mit einem Anteil von 24,9 %.
Diese Veränderungen spiegeln im Wesentlichen den Aufstieg Chinas als eine neue imperialistische Macht wider, die die langjährige Hegemonie der USA in Frage stellt. Dies zeigt sich darin, dass China – zusammen mit den USA – das führende Land im globalen Ranking der größten Unternehmen der Welt geworden ist. So stammten im Jahr 2023 von den führenden Fortune Global 500-Unternehmen 136 aus den USA und 135 aus China.
Dasselbe Bild sehen wir, wenn es um das globale Ranking der Milliardäre geht. Laut der chinesischen Hurun Global Rich List aus dem Jahr 2021 stammten 32,8 % aller weltweit „bekannten“ Milliardäre aus China und 21,6 % aus den USA. Amerikanische Studien sehen die USA an erster und China an zweiter Stelle. Aber es ist unumstritten, dass die beiden Großmächte auch auf diesem Gebiet führend sind.
Und obwohl China bei den Militärausgaben noch hinter den USA liegt, ist es bereits die Nummer 2 der Welt (916 Milliarden US-Dollar der USA gegenüber 296 Milliarden US-Dollar in China). Bei dem Nuklearwaffen liegen die USA und Russland in etwa gleichauf, gefolgt von China.
Darüber hinaus zeigt auch die Tatsache, dass China und Russland es geschafft haben, mit der SCO und BRICS+ Bündnisse zu schmieden, welches die Hälfte der Menschheit und einen bedeutenden Teil der Weltwirtschaft umfasst, dass das von den USA geführte „Imperium“ weit davon entfernt ist, der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Zwar sind diese Allianzen deutlich weniger homogen als die NATO oder die G7, doch auch das dürfte sich mit dem Amtsantritt Trumps ändern.
Diese kurze Übersicht über das Kräfteverhältnis zwischen dem von den USA geführten Block und dem von China und Russland angeführten Block zeigt deutlich, dass das sogenannte „Imperium“ nicht mehr in der Lage ist, die Welt zu dominieren.
Zwar ist sein Militär – gemessen an Auslandstützpunkten und Ausgaben – nach wie vor wesentlich größer als das seiner Rivalen, doch die Realität der letzten zwei Jahrzehnte hat gezeigt, dass Amerikas Niedergang nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch-militärisch stattfindet.
Um nur einige Beispiele zu nennen, verweisen wir auf Washingtons Niederlagen im Irak und in Afghanistan oder das Scheitern des Westens, Russlands Wirtschaft ernsthaft zu schädigen, trotz des beispiellosen Sanktionsregimes nach Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Die demütigende Isolation der USA und Israels in der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Palästina-Frage ist ein weiteres Beispiel.
Der aktuelle Entwurf für die neue National Defense Strategy der USA trägt diesen Veränderungen der Kräfteverhältnisses Rechnung und definiert die außenpolitischen Doktrin Washingtons neu. Während bisher China als Hauptrivale und dessen „Eindämmung“ als Schwerpunkt der US-Außenpolitik benannt wurde, setzt das Pentagon-Dokument eine neue Priorität für das amerikanische Militär: den Einsatz im eigenen Land und in der westlichen Hemisphäre (also Nord- und Südamerika sowie eventuell Westeuropa).
Nebenbei bemerkt: selbst wenn man akzeptiert, dass die USA militärisch noch stärker sind als ihre östlichen Rivalen, so beweist dies keineswegs den nicht-imperialistischen Charakter Russlands und Chinas. Wie allgemein bekannt, was das von Deutschland geführte Lager sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg schwächer als die Alliierten. Trotzdem wird kein Marxist bestreiten, dass das deutsche Lager eindeutig imperialistisch war.
Neutral bleiben oder auf der Seite wichtiger Volkskämpfe?
Unsere Differenzen mit Claudio Katz beschränken sich nicht auf die Sphäre der Analyse und Theorie, sondern haben tiefgreifende Konsequenzen für die sozialistische Strategie und die praktische Intervention in den Klassenkampf.
Da Katz nur einen einzigen Feind kennt – das von den USA geführte „Imperium“ –, charakterisiert er Kriege der nationalen Verteidigung und Volksaufstände nur nach einem Kriterium: ob sie sich gegen Washington und seine Verbündeten oder gegen die Rivalen des „Imperiums“ richten. Während er Unterstützung für ersteren Typ von Kämpfen befürwortet, enthält er sich der Unterstützung für letztere oder lehnt diese sogar scharf ab.
Dies wird aus verschiedenen Aussagen von ihm deutlich. Obwohl er Putins Invasion in die Ukraine nicht befürwortet, weigert er sich klar, die Seite der angegriffenen Landes zu beziehen. Er verteidigt die Ukraine nicht, weil er sie lediglich als Stellvertreter des von den USA geführten „Imperiums“ betrachtet:
Die Vereinigten Staaten waren auch der Förderer des Krieges in der Ukraine. Sie versuchten, Kiew in das NATO-Raketennetzwerk einzubinden, das Russland umgibt, um die Verteidigungsstruktur seines Rivalen zu beeinträchtigen. Zu diesem Zweck förderten sie die Maidan-Revolte, ermutigten Nationalismus gegen Moskau und unterstützten den Mini-Krieg im Donbass. Sie versuchten, ihren Gegner in einen Konflikt zu verwickeln, um die Wiederaufrüstungsagenda in Europa durchzusetzen.
Es scheint, dass Katz nichts von der langjährigen nationalen Unterdrückung der Ukraine durch den großrussischen Imperialismus, von russischen Monopolen, vom Streben der Ukraine nach Unabhängigkeit und ähnlichem weiß.
All dies ist ihm fremd, weil er „kleinere Völker“ – wir setzen dies in Anführungszeichen, da die Bevölkerungszahl der Ukraine in etwa der Argentiniens entspricht – nicht als politische Subjekte anerkennt. Für ihn können sie nur Stellvertreter der Großmächte sein. Dies gilt umso mehr, wenn solche „kleineren Völker“ gegen die Unterdrückung durch Rivalen des von den USA geführten „Imperiums“ kämpfen:
Das Pentagon ist die haupttreibende, verantwortliche und verursachende Kraft der größten Tragödien der letzten Jahrzehnte. Die Vereinigten Staaten führten eine verheerende Intervention im Nahen Osten durch, um Öl zu kontrollieren, Aufstände zu zerschlagen und Rivalen zu unterwerfen. Von dort aus kommandierten sie das Blutvergießen des Arabischen Frühlings, erleichterten den dschihadistischen Terrorismus und führten die Zerschlagung von vier Staaten (Irak, Libyen, Afghanistan und Syrien) herbei. (…) Die Zerstörung Jugoslawiens, die Spaltung afrikanischer Länder und das Auftauchen von Mini-Staaten unter NATO-Kontrolle illustrieren diesen Rückschritt.
Tatsächlich richtete sich die Arabische Revolution gegen jede Art von kapitalistischer Diktatur – sowohl gegen jene, die mit den USA verbündet waren (z.B. Tunesien, Ägypten, Bahrain, Jemen), als auch gegen jene, die sich eng an Russland und China anlehnten (z.B. Libyen und Syrien).
Sie war in erster Linie eine spontane demokratische Revolution, die oft von reaktionären Tyrannen mit Unterstützung sowohl des amerikanischen als auch des russischen Imperialismus niedergeschlagen wurde (zum Beispiel in Ägypten und Bahrain beziehungsweise lange Zeit in Syrien). Die militärische Intervention der USA in Libyen im Jahr 2011 war viel kürzer und begrenzter als die russische Intervention in Syrien in den Jahren 2015-24. Und die Intervention Washingtons in Ost-Syrien zur Bekämpfung des IS trug in keinster Weise zum Befreiungskampf gegen Assad bei.
Wie ich in meiner Antworten an Katz dargelegt habe, spiegelt seine Formulierung „Zerstörung Jugoslawiens“ die Ablehnung des Kampfes der nicht-serbischen Völker um nationale Selbstbestimmung wider – weshalb er die „gespenstische (!) Republik Kosovo“ schändlicherweise als eine „alte serbische Provinz“ bezeichnet!
Ich nehme an, dass sein Protest gegen die „Zersplitterung afrikanischer Länder“ darauf zurückzuführen ist, dass er leugnet, dass es in verschiedenen Staaten des Schwarzen Kontinents nationale und ethnische Unterdrückung gibt, gegen die sich Völker erheben. Es soll nicht unkommentiert bleiben, dass eine solche Anpassung an Chauvinismus gegen Befreiungskämpfe der Bevölkerung typisch ist für eine ideologische Position des pro-russischen Sozialimperialismus.
Das Programm des einäugigen Anti-Imperialismus
Im Kern befürwortet Katz ein Programm, das wir nur als einäugigen Anti-Imperialismus charakterisieren können. Da es nur einen „Hauptfeind“ gibt – das von den USA geführte „Imperium“ – sind alle anderen Großmächte zumindest das kleinere Übel.
Sicherlich steht Katz Putins Außenpolitik nicht unkritisch gegenüber. Ebenso erkennt er an, dass Chinas Auslandsinvestitionen und Kredite nicht zum Wohle der Menschheit gedacht sind, sondern auf höhere Profite für Chinas Monopole abzielen. Aber da Russland angeblich gezwungen ist, sich gegen die NATO-Erweiterung zu verteidigen, und „China imperialistische Arroganz vermeidet“, hält er diese östlichen Mächte für das kleinere Übel.
Daher will Katz den anti-imperialistischen Kampf allein gegen das von den USA geführte „Imperium“ konzentrieren. In unserer Debatte kritisierte er das Programm, das wir befürworten, als eine
fehlerhafte Gleichsetzung von Anti-Imperialismus mit einer Politik unterschiedsloser Opposition gegen alle Großmächte. Diese Sichtweise führt zu vereinfachten Reaktionen und ignoriert, dass der aktuelle Imperialismus ein System der Aggression unter der Führung Washingtons bildet. Nur die Anerkennung dieser Tatsache erlaubt es uns, eine an das 21. Jahrhundert angepasste anti-imperialistische Strategie zu entwickeln.
Es ist daher nur konsequent, dass Katz den Kampf gegen eines der imperialistisches Lager priorisiert, während er mit einem taktischen Bündnis mit dem anderen imperialistischen Lager kokettiert.
Demzufolge propagiert Katz eine „dreifache Strategie für Lateinamerika“, die er in der Formel zusammenfasst:
Widerstand gegen die Vereinigten Staaten, Neuverhandlung mit China und die Schaffung regionaler Einheit.
Natürlich sind wir uns völlig bewusst, dass Länder, die nach Unabhängigkeit und Gleichheit streben, eine Realpolitik verfolgen müssen – die stalinistische Theorie des Sozialismus in einem Land war und ist eine Utopie. Daher kann es für solche Länder ein notwendiger Schritt sein, Handelsbeziehungen zu eröffnen und Kredite anzufordern.
Eine siegreiche Arbeiter- und Bauernregierung in einem Land des Globalen Südens wird sich jedoch nicht darauf beschränken können, solche diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern (einschließlich Großmächten) zu eröffnen. Sie wird vielmehr darauf abzielen, den revolutionären Prozess auszuweiten, da die einzige Sicherheit für die Macht der Arbeiter und Bauern darin besteht, die Kämpfe ihrer Klassenbrüder und -schwestern zu stärken, um die herrschende Klasse in deren Ländern ebenfalls zu stürzen.
Es ist absolut legitim, dass ein Land, das nach Unabhängigkeit strebt, diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen mit anderen Ländern (einschließlich Großmächten) eingeht. Aber warum nur „Neuverhandlungen mit China“? Ist es nicht eine Tatsache, dass solche Länder ebenso verpflichtet sein können, Geschäfte mit dem US-Imperialismus zu machen? Venezuela zum Beispiel hat selbst in den Hochzeiten des Bolivarianismus unter Chávez große Mengen Erdöl an Washington verkauft hat.
Es scheint uns daher, dass Katz‘ Befürwortung einer Strategie für „nationale Souveränität“ ein Programm für lateinamerikanische Länder ist, den BRICS beizutreten und sich auf die Seite des chinesischen und russischen Imperialismus gegen die USA zu stellen.
Dies ist auch die Bedeutung seiner Unterstützung für das putinistische Konzept der „Multipolarität“. Zwar will er dies mit einem „radikal-revolutionären Programm“ kombinieren. Aber zunächst will er die von China und Russland geführten BRICS stärken, weil „Multipolarität die imperialistische Dominanz schwächen und die Grundlagen einer post-kapitalistischen Zukunft schaffen würde“.
Dies ist eine Version der reformistischen Strategie des stufenweisen Übergangs. Auf innenpolitischer Ebene bedeutet dies in der Regel, eine Mehrheit bei Parlamentswahlen zu gewinnen und dann schrittweise mit der Transformation zum Sozialismus zu beginnen. Auf außenpolitischer Ebene bedeutet es für Katz, „die Schaffung einer multipolaren Welt zu unterstützen, die den Weg für den Übergang zum Sozialismus ebnet“. Doch in Wirklichkeit bedeutet eine „multipolare Welt“ nur eine Welt, die von mehreren Großmächten dominiert wird, welche alle in inner-imperialistische Rivalität verwickelt sind.
Objektiv gesehen ist dies ein Programm des einäugigen Anti-Imperialismus und hat nichts mit authentischem Sozialismus zu tun. In der Innenpolitik führt es zur Verteidigung bürgerlicher Eigentumsverhältnisse (wie dies beispielsweise in Venezuela in den letzten 25 Jahren der Fall war) und in der Außenpolitik zur Unterstützung des chinesischen und russischen Imperialismus.
Doch wie Lenin erklärte, besteht die Aufgabe von Sozialistinnen und Sozialisten nicht darin, eine Großmacht gegen eine andere zu unterstützen – unabhängig davon, ob sie größer oder kleiner, stärker oder schwächer ist –, sondern alle Imperialisten zu bekämpfen!
Vom Standpunkt der bürgerlichen Gerechtigkeit und nationalen Freiheit (oder des Existenzrechts der Nationen) wäre Deutschland unbedingt im Recht gegen England und Frankreich, denn es ist bei der Teilung der Kolonien ‚übervorteilt‘ worden, seine Feinde halten unvergleichlich mehr Nationen unter ihrer Botmäßigkeit als es selbst, und im Reiche seines Verbündeten, in Österreich, genießen die unterdrückten Slawen zweifellos größere Freiheit als im zaristischen Rußland, diesem wahren ‚Völkergefängnis‘.
Aber Deutschland selbst kämpft nicht für die Befreiung, sondern für die Unterdrückung der Nationen. Es ist nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber (Deutschland) zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern. Die Sozialisten haben den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen.
Zusammengefasst läuft die Analyse und Strategie von Katz auf einen einseitigen Antiimperialismus hinaus. Eine solche Perspektive kann die Anti-Kriegsbewegung nur desorientieren und bei vielen Völkern, insbesondere jenen, die unter der Außenpolitik Russlands und Chinas leiden, diskreditieren. Tatsächlich jedoch gibt es keinen „guten“ und „bösen“ Großmächte. Die Anti-Kriegsbewegung muss sich gegen alle imperialistischen Mächte, die westlichen und die östlichen, stellen und den Widerstand der unterdrückten Völker unterstützen – unabhängig davon gegen welche Großmacht sich dieser richtet.
Die Debattenbeiträge von Claudio Katz sind: Russia an imperialist power? Part I-IV, Mai – Juni 2022 (https://katz.lahaine.org/is-russia-an-imperialist-power-part/, https://katz.lahaine.org/is-russia-an-imperialist-power-part-2/, https://katz.lahaine.org/is-russia-an-imperialist-power-part-3/ und https://katz.lahaine.org/is-russia-an-imperialist-power-benevolent/); Desaciertos sobre el imperialismo contemporáneo, 18.09.2022, https://katz.lahaine.org/desaciertos-sobre-el-imperialismo-contemporaneo/; Coincidencias y discrepancias con Lenin, 15.10.2024, https://katz.lahaine.org/coincidencias-y-discrepancias-con-lenin/. Alle oben angeführten Zitate stammen aus diesen Arbeiten von Katz.
Die Antworten von Michael Pröbsting sind: Russia: An Imperialist Power or a “Non-Hegemonic Empire in Gestation”? A reply to the Argentinean economist Claudio Katz, New Politics, 11 August 2022. https://newpol.org/russia-an-imperialist-power-or-a-non-hegemonic-empire-in-gestation-a-reply-to-the-argentinean-economist-claudio-katz-an-essay-with-8-tables/; “Empire-ism” vs a Marxist analysis of imperialism. Continuing the debate with Argentinian economist Claudio Katz on Great Power rivalry, Russian imperialism and the Ukraine War, LINKS, 3 March 2023, https://links.org.au/empire-ism-vs-marxist-analysis-imperialism-continuing-debate-argentinian-economist-claudio-katz; Age of ‘Empire’ or age of imperialism? (3rd Reply to Claudio Katz), LINKS, 7 December 2024, https://links.org.au/age-empire-or-age-imperialism.
Meine umfassendsten Arbeiten zur marxistischen Theorie des Imperialismus sind folgende Bücher: Anti-Imperialism in the Age of Great Power Rivalry. The Factors behind the Accelerating Rivalry between the U.S., China, Russia, EU and Japan. A Critique of the Left’s Analysis and an Outline of the Marxist Perspective, RCIT Books, Wien 2019, https://www.thecommunists.net/theory/anti-imperialism-in-the-age-of-great-power-rivalry/; The Great Robbery of the South. Continuity and Changes in the Super-Exploitation of the Semi-Colonial World by Monopoly Capital Consequences for the Marxist Theory of Imperialism, RCIT Books, 2013, https://www.thecommunists.net/theory/great-robbery-of-the-south/. Von letzterem erschien eine gekürzte Fassung in deutscher Sprache: Der große Raub im Süden, Promedia Verlag, Wien 2014.
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