von Peter Nowak
Seit über drei Jahren führt die Armee des kapitalistischen Russlands gegen die kapitalistischen Ukraine Krieg. Zwei bürgerliche Staaten verfolgen ihre Interessen. Auf beiden Seiten sterben überwiegend Proletarier:innen und arme Menschen, so wie in allen Kriegen. Die linken Debatten in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, erwecken den Eindruck, die Positionen des radikalen Flügels der Arbeiter:innenbewegung wären völlig vergessen. Auch radikale Linke, etwa Anarchist:innen, plädieren für Vaterlandsverteidigung und stellen sich überwiegend auf „die Seite der Ukraine“.
Marx gegen Moskau?
Nur ein kleiner Teil vor allem (post)stalinistischer Kräfte verteidigen die russische Kriegsführung. Umstritten ist die Frage, ob an die ukrainische Regierung Waffen geliefert werden sollten, und wenn ja, welche Reichweite sie haben sollen. Die Befürworter:innen solcher Waffenlieferungen argumentieren, dass die Ukraine als überfallener Staat ein Recht auf Verteidigung habe. Nicht wenige linke Intellektuelle sind bemüht, ihre Positionen in Einklang mit zentralen Figuren der Arbeiter:innenbewegung zu setzen. So gab kürzlich der wissenschaftliche Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Timm Graßmann, im Schmetterling-Verlag das Buch „Marx gegen Moskau – Zur Außenpolitik der Arbeiterklasse“ heraus. In einem Interview mit Neues Deutschland macht Graßmann klar, dass er Texte und Zeitungsartikel aktualisieren will, in denen sich Marx gegen den Zarismus wendete.
Hier wird eine sozialdemokratische Tradition aus unterschiedlichen Ländern fortgesetzt, die Texte von Marx und Engels für ihre Position der Vaterlandsverteidigung heranzieht. Die Linken in der Arbeiter:innenbewegung wandte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts dagegen. Sie konnten den Ausbruch des ersten imperialistischen Krieges nicht verhindern. Doch mitten in diesem Krieg entstand die Zimmerwalder Linke. Sie suchte einen revolutionären Ausweg aus Kapitalismus und Krieg. Heute ist sie weitgehend vergessen. Dabei wäre es gerade heute, wo die unterschiedlichen kapitalistischen Blöcke wieder Kriege führen, umso dringlicher zu fragen, welche Positionen der Zimmerwalder Linken heute noch aktuell sind.
Vom Stuttgart nach Zimmerwald
Sieben Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkriegs beschloss der Internationale Kongress der Sozialist:innen in Stuttgart, dass ein Krieg zwischen den Nationen mit allen Mitteln verhindern werden solle. Wenn das nicht gelingt, müsse alles getan werden, um ihn schnellstens zu beenden. Aber bei Kriegsausbruch stellten sich die meisten Sozialist:innen auf die Seite der Bourgeoisie ihrer Nationen und wurden zu „linken“ Vaterlandsverteidiger:innen. Nur kleine Minderheiten in den sozialdemokratischen Parteien sowie die russischen Bolschewiki lehnten weiterhin ab, sich in einer Auseinandersetzung zwischen imperialistischen Mächten auf eine Seite zu stellen.
Ein erstes Treffen dieser Strömung fand im September 1915 im schweizerischen Zimmerwald statt. Als Ornitholog:innen getarnt trafen sich ihre Vertreter in der Pension Beau Sejour. Dass die Gruppe der Kongressteilnehmer:innen so klein war, zeigte die große Isolation der Kriegsgegner:innen. Und doch wurde das Treffen zum Startschuss für eine Bewegung, die gegen jegliche Unterstützung des Krieges agierte. Dazu gehörten die russischen Bolschewiki ebenso wie der Spartakusbund in Deutschland und Sozialist:innen und Anarchist:innen aus anderen Staaten.

Die Zimmerwalder Thesen finden Unterstützung
Eine zentrale Rolle bei der Herausbildung der Zimmerwalder Linken spielte Lenin. Bereits Anfang September 1914 legte er ein kurzes Thesenpapier unter dem Titel „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Kriege“ vor, das international verbreitet wurde. Darin wurden die Grundsätze des revolutionären Defätismus zum ersten Mal formuliert, die in den folgenden Jahren in Broschüren, Artikeln, Reden und Flugschriften tausendfach verbreitet wurden. Nach der Konferenz sorgten die Aktivist:innen dafür, dass die Positionen von Zimmerwald in den ausgebeuteten Massen in allen kriegsführenden Staaten bekannt wurden. Natürlich waren sie massiver Repression ausgesetzt. Viele Kriegsgegner:innen saßen im Gefängnis (wie Rosa Luxemburg) oder wurden zwangsweise an die Front einbezogen (wie Karl Liebknecht). Die „neutrale“ Schweiz wurde für viele Kriegsgegner:innen zum Zufluchtsort, auch für Lenin.
Revolutionärer Defätismus
Revolutionärer Defätismus bedeutet: Kampf gegen den Kapitalismus als Verursacher von Kriegen. Die Soldaten aus der Arbeiter:innenklasse wurden aufgefordert, ihre Gewehre umzudrehen und sie gegen die Organe des kapitalistischen Staates zu richten. Die Oktoberrevolution in Russland verschaffte dieser Position Auftrieb. Zu einer der ersten Maßnahmen der Sowjeträte gehörte das Dekret über den Frieden. Die Sowjetunion beendete einseitig den Krieg und rief die Soldaten aller Länder auf, sich zu verbrüdern.
Dieser Aufruf blieb in Deutschland nicht ohne Folgen. Richard Müller, ein führender Aktivist der Revolutionären Obleute – einer Organisation von Fabrikarbeitern in Berlin – beschrieb, wie die Ablehnung des Krieges im Lauf des Jahres 1918 um sich griff, und auch der Ruf, es Russland nachzumachen. Die Revolutionären Obleute ermöglichten dann im November den revolutionären Umschwung, den die Matrosen in Kiel begonnen hatten. In den Räterepubliken beispielsweise in Bremen, Bayern und Braunschweig agitierten sie im Sinne des revolutionären Defätismus der Zimmerwalder Linken. Eben jene Mehrheitssozialdemokrat:innen, die die Politik der Vaterlandsverteidigung im ersten Weltkrieg vorangetrieben hätten, schlugen im Bündnis mit monarchistischen und frühfaschistischen Kräften alle Revolutionsversuche der folgenden Jahre bis 1923 blutig nieder. Die Folgen sind bekannt.
Zimmerwalde Linke – noch heute aktuell?
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine plädierten große Teile der Linken für die Vaterlandsverteidigung. Das Buch „Sterben und sterben lassen“, herausgegeben vom AK Beau Sejour[1], fragt, welche Bedeutung da die Zimmerwalder Linke noch hat. „Gegen diese neuen Kriegstrommeln und ihre zynische Logik, die die schrankenlose Aufrüstung zur Bedingung menschlicher Freiheit und Zivilisation erklären, richtet sich der vorliegende Sammelband“, heißt es im Vorwort. Antimilitarist:innen seien „gegenwärtig wohl leider ähnlich minoritär, wie die sozialistischen Kriegsgegner, die … angesichts ihrer Zwergenhaftigkeit darüber scherzten, ‚dass es ein halbes Jahrhundert nach Begründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen’“.[2]
Arbeiter:innen gegen Militarismus und Krieg
Wie im 1. Weltkrieg sind die kriegsführenden Staaten kapitalistische Mächte, anders als damals gibt es keine starke organisierte Arbeiter:innenbewegung mehr. Dennoch werden in einigen Ländern Arbeiter:innen gegen Krieg und Militarismus aktiv. In Italien gab es Blockaden von Waffenlieferungen an die Ukraine, an denen sich linke Gewerkschaften wie Sin Cobas und das genuesische Hafenarbeiter:innenkollektiv CALP beteiligten.
Einer der Mitbegründer von CALP ist Maurizo Gueglio. „Wir sind Antimilitarist:innen und sehen uns in einer langen Tradition der Antikriegsarbeit der Arbeiter:innenbewegung“, sagte er in einem Interview mit dem Neuen Deutschland. In Griechenland war die kommunistische Gewerkschaft PAME an Aktionen gegen Waffenlieferungen beteiligt. Auch aus Belorussland und Russland gab es Aktionen gegen das dortige. So riefen belorussische Eisenbahner:innen dazu auf, die Schienen für die Transporte unbrauchbar zu machen. Auch Sabotageversuche gegen Einrichtungen von Militär und Krieg in Russland wurden bekannt, die Kasakow Ewgenij in seinem Buch „Spezialoperation und Frieden – Die russische Linke und der Krieg“ darstellt.
Vorbild Zimmerwalder Konferenz
Es kommt darauf an, die Positionen der Zimmerwalder Linken wieder einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Bei Ewgenij Kasakow heißt es: „Weite Teile der Linken sind schon jetzt dabei, die eine oder andere Kriegspartei zu unterstützen – ähnlich der Kriegseuphorie nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges.“ Die Vernetzung derjenigen Linken, die den Ukraine-Krieg weiterhin als einen Konflikt der Interessen kapitalistischer Staaten sehen und keine der Regierungen unterstützen wollen, ist eine praktische Notwendigkeit … Auch wenn die Zimmerwald-Konferenz nicht zur sofortigen Antikriegserhebung führte, könnte sie uns auch noch als Vorbild dienen.
Peter Nowak ist freier Journalist und Mitherausgeber des im Critic-Verlag erschienenen Buches „Nie wieder Krieg ohne uns – Deutschland und die Ukraine“.
[1] AK Beau Sejour, „Sterben und sterben lassen“, Die Buchmacherei, 2024, ISBN: 978-39826199-1-0
[2] Ebenda, S. 10
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