Erinnern an die Zukunft
von Ayse Tekin
Vor fünfzig Jahren saßen drei Männer in einem Kölner Krankenhauszimmer, als ein Vierter die Tür öffnete: eine riesige Überraschung und große Freude.
Im Juli jährt sich der Todestag von Ernest Mandel (1923–1995) zum dreißigsten Mal. Eine lange Zeit, aber seine theoretischen Ansätze, seine optimistische Lebenshaltung und seine Kämpfe für eine bessere Welt sind weiterhin lebendig.
Die Überraschung in dem Krankenhauszimmer vor fünfzig Jahren war ein Ergebnis des Radikalenerlasses der Willy-Brandt-Regierung (1969–1974). Der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte am 28.Februar 1972 Ernest Mandel zur unerwünschten Person: »Entsprechend dem Ersuchen des Landes Berlin ist Professor Mandel in die Grenzüberwachungsliste aufgenommen und heute Vormittag beim Versuch der Einreise mit dem Ziel Berlin auf dem Flughafen Frankfurt am Main zurückgewiesen worden.«
Frankreich, Australien und die USA hatten den marxistischen Theoretiker bereits als Gefahr ausgemacht und ihre Tore verschlossen. Die Staaten des Warschauer Pakts behandelten das führende Mitglied der von Trotzki gegründeten antistalinistischen IV. Internationale ebenfalls als »Staatsfeind«. »Einreiseverbot in beide deutsche Staaten, das ist eine Ehre«, sagte später Gregor Gysi.
Die Keule ›FDGO‹
Dass Mandel nicht an das politikwissenschaftliche Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin berufen wurde und nicht nach Deutschland durfte, lag an der Angst der sozialliberalen Regierung vor der wachsenden Radikalisierung der Jugend- und Studierendenbewegung. Bei den linken Studierenden in Berlin war er als Redner auf politischen Veranstaltungen bekannt, z.B. auf dem Internationalen Vietnamkongress 1968.
Der Senator für Wissenschaft und Kunst, Werner Stein (SPD), ergriff nach Bekanntwerden des Radikalenerlasses der Brandt-Regierung sofort die Chance, um Mandel loszuwerden. Am 22.Februar 1972 erklärte er, der belgische Wirtschaftswissenschaftler erfülle durch seine Mitgliedschaft in der IV. Internationale die »dienstrechtlichen Voraussetzungen« nicht – gemeint war das Bekenntnis zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« (FDGO) –, wolle sie gar als »überzeugter, erklärter und praktizierender Gegner« abschaffen. Die Studierenden reagierten, indem sie Mandel nach Berlin einluden, um die Vorwürfe zu entkräften. Das Einreiseverbot verhinderte ihr Vorhaben.
Mandel ließ sich dennoch Auftritte in Nachbarländern nicht nehmen. Mehrmals reiste er nach Frankreich ein und wurde erneut ausgewiesen. Der wiederholte Bruch des Einreiseverbots hätte allerdings durchaus mit einer Verhaftung enden können. Für den Besuch im Kölner Krankenhaus 1975 musste eine Ausnahme erreicht werden. In der Bundesrepublik bildete sich ein breites Solidaritätskomitee, in dem unter anderem Ernst Bloch, Hans Magnus Enzensberger und Jakob Moneta aktiv waren.
Trotz jüdischer Herkunft
Gemessen am heutigen Antisemitismusverständnis handelte die deutsche Regierung nicht nur antikommunistisch, sondern auch antisemitisch. Ernest Mandel kam aus einer Frankfurter jüdischen Familie, die später nach Belgien übersiedelte. Als junger Marxist wurde er während des Zweiten Weltkrieges wegen seiner antifaschistischen Aktivitäten verhaftet und nach Deutschland deportiert. Er musste Zwangsarbeit leisten und wurde kurz vor Kriegsende völlig ausgemergelt von der US-Armee befreit.
Auf dem »Kongress gegen politische Unterdrückung an der Freien Universität Berlin« im April 1972 erklärte Mandel via Tonbandaufnahme, es gehe bei dem Protest gegen sein Einreiseverbot nicht um die Solidarität mit einer Einzelperson oder einer bestimmten politischen Strömung, sondern um die Verteidigung der »elementaren, gemeinsamen Interessen … aller Lohnabhängigen in der BRD, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und in Gesamteuropa.«
1975 war die Kampagne gegen das Einreiseverbot allerdings schon leiser geworden. Die Reise nach Köln war dennoch notwendig: Sein langjähriger Weggefährte Georg Jungclas lag im Sterben und wollte ihn unbedingt noch einmal sehen. Mit Hilfe des Staatsministers im Innenministerium, Hans-Jürgen Wischnewski, wurde das Treffen organisiert. Für einen Tag und für genau bestimmte Züge wurden die Grenzbeamte angewiesen, eine Ausnahme zu machen. So kam es zu der Überraschung, als sich die vier Männer – Georg Junglas, Ernest Mandel, Helmut Wendler und Jakob Moneta – im Kölner Krankenhaus Hohenlind wiedersahen.
1978 weichte der neue Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) die Berufsverbotspraxis auf, auch das Einreiseverbot gegen Ernest Mandel wurde aufgehoben. Der wiederum nutzte seine erste politische Veranstaltung im gleichen Jahr in Westberlin, um die Freilassung des sozialistischen DDR-Dissidenten Rudolf Bahro und dessen Ausreise in die BRD zu fordern.
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