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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2022

Das Einreiseverbot für Ernest Mandel…und sein Umgang damit
von John S. Will

Am 28.Januar 1972 beschlossen Bund und Länder, Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst künftig auf ihre Verfassungstreue zu überprüfen. Diesem «Radikalenerlass» fiel auch Ernest Mandel zum Opfer, dem fortan die Einreise in die BRD verweigert wurde.

Mit dem Radikalenerlass bediente die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt Ängste vor einer sich radikalisierenden Jugend- und Studentenbewegung und kommunistischer Einflussnahme aus dem Osten. In der praktischen Umsetzung jedoch stellte sich sogleich heraus, dass mit dem Beschluss die gesamte sozialistische Linke in Westdeutschland unter Verdacht gestellt wurde.
«Entsprechend dem Ersuchen des Landes Berlin ist Professor Mandel in die Grenzüberwachungsliste aufgenommen und heute Vormittag beim Versuch der Einreise mit dem Ziel Berlin auf dem Flughafen Frankfurt a.M. zurückgewiesen worden.» Mit dieser Erklärung von Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) vom 28.Februar 1972 wurde die Welt des belgischen Ökonomen Ernest Mandel ein weiteres Mal enger und eingegrenzter.
In dem marxistischen Theoretiker von internationalem Ruf hatten zuvor bereits Frankreich, Australien und die USA eine Gefahr gesehen und ihre Tore verschlossen. Die Staaten des Warschauer Pakts behandelten Mandel, führendes Mitglied der 1938 von Leo Trotzki gegründeten, antistalinistischen IV. Internationale, bereits weitaus früher als «Staatsfeind». Doch was war geschehen?

Umkämpfte Berufung
Anfang 1972 hatte die Berufungskommission des politikwissenschaftlichen Otto-Suhr-Instituts (OSI) der Freien Universität Berlin Mandel für einen Lehrstuhl im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft ausgewählt. Mandel war in Berlin kein Unbekannter: In der linken Studentenbewegung hatte er als Redner bei zahlreichen politischen Veranstaltungen, nicht zuletzt auf dem Internationalen Vietnamkongress 1968 neben Rudi Dutschke, Erich Fried, Tariq Ali und anderen einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Als Gastdozent beeindruckte er im Wintersemester 1970/71 die Studentenschaft wie auch den jungen, sich vermehrt nach links orientierenden akademischen Mittelbau gleichermaßen. Doch dem Senator für Wissenschaft und Kunst, Werner Stein (SPD), erschien die Berufung von Mandel alles andere als ein prestigeträchtiger Zugewinn für die Universität.
Am 22.Februar 1972 erklärte er, dass der belgische Wirtschaftswissenschaftler durch seine Mitgliedschaft in der IV.Internationale die «dienstrechtlichen Voraussetzungen», d.h. das Bekenntnis zur «freiheitlich-demokratischen Grundordnung» im dienstlichen wie außerdienstlichen Bereich nicht erfülle, sie gar als «überzeugter, erklärter und praktizierender Gegner» praktisch zu «vernichten» beabsichtige.
Um diese Vorwürfe zu entkräften, wurde Mandel von studentischen Gremien eingeladen, auf einer eigens organisierten Veranstaltung vor Ort in Berlin Stellung zu beziehen. Das Einreiseverbot verhinderte das Vorhaben.
Zur Protestveranstaltung der Studierenden an der FU kamen mehrere tausend Menschen und hörten eine auf Tonband aufgezeichnete Rede Mandels. Die Besetzung des OSI sollte den Druck auf Senator Werner Stein erhöhen. Doch weder dies noch der Rücktritt Margherita von Brentanos vom Posten der Vizepräsidentin der FU vermochten die Entscheidung des Berliner Senats oder die des Bundesinnenministeriums zu ändern.

Die Solidaritätskampagne in Westdeutschland…
Nach den ersten stürmischen Verlautbarungen galt es nun für Mandel und seine Unterstützer, eine breit angelegte Kampagne zur Aufhebung des Einreiseverbots zu führen. Einen wichtigen Verbündeten fanden sie im Sozialistischen Büro (SB). Dieses konnte bereits mit dem Solidaritätskomitee für Angela Davis, die seit 1970 in einem Prozess wegen Unterstützung von Terrorismus in den USA vor Gericht stand, einen großen Erfahrungsschatz in der internationalen Solidaritätsarbeit aufweisen. Zudem hatte das SB einen organisationspolitischen Schwerpunkt im Erziehungs- und Schulbereich – genau dort, wo sich der Radikalenerlass besonders stark auswirkte.
Aber auch die zunehmende Enge für Marxist:innen im akademischen Betrieb wurde vom SB frühzeitig wahrgenommen, wie etwa die Solidaritätsarbeit mit dem suspendierten Psychologieprofessor Peter Brückner zeigt.
Sowohl das linkssozialistische Sozialistische Büro (zu dem Mandel in stetem Kontakt stand) als auch die trotzkistische Gruppe Internationale Marxisten (GIM), deren politisches und intellektuelles Aushängeschild Mandel war, engagierten sich nachhaltig, mit Texten, Broschüren, Briefkampagnen und Veranstaltungen, gegen die am Beispiel Mandels exemplarisch dargestellten politischen und juristischen Implikationen der Berufsverbotspraxis.
Neben Jakob Moneta, dem für die IG Metall tätigen Chefredakteur von Metall, koordinierte die Aktionen vor allem Sibylle Plogstedt. Anders als das SB, das sehr bald die politischen Kräfteverhältnisse und juristischen Möglichkeiten bei diesem prominenten Fall realistischer einschätzte und sich, ohne die Korrespondenz zu Mandel gänzlich zu beenden, auf andere Kampagnen gegen die Berufsverbote fokussierte, versuchte die GIM weitaus länger, dem Einreiseverbot Mandels öffentliche Aufmerksamkeit zu geben.

…und international
Mit Ausnahme der DKP bzw. der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW), die Mandel wegen seiner Kritik am «realexistierenden Sozialismus» die Solidarität versagten, empörte sich ein breites Spektrum über die Maßnahmen der Bundesregierung, das mitunter bis ins linksliberale Milieu ragte. Es gründete sich ein Solidaritätskomitee, in dem unter anderem Ernst Bloch, Hans Magnus Enzensberger, Ossip K. Flechtheim, Helmut Gollwitzer, Jakob Moneta, Oskar Negt und Peter Weiss zusammenkamen.
Auch international protestierten linke Intellektuelle wie Tom Bottomore, Ken Coates, Noam Chomsky, Meghnad Desai, Michael Foot, André Gorz, Christopher Hill, Sicco Mansholt, Joan Robinson und Edith Russell. Der Nobelpreisträger Salvador Luria schickte gar einen persönlichen Protestbrief an Willy Brandt, in dem er ankündigte, die Bundesrepublik erst wieder betreten zu wollen, wenn das gegen Mandel verhängte Einreiseverbot wieder aufgehoben werde.
Es half nichts. Hatte der Name Mandel noch in der ersten Hälfte des Jahres 1972 Einzug in jedes bedeutende Presseerzeugnis gehalten, verlor die Solidaritätskampagne angesichts der kompromisslosen Haltung der Bundesregierung mit der Zeit immer mehr an Dynamik. Eine 1973 begonnene juristische Anstrengung, das Einreiseverbot vor Gericht zu kippen, verlief zäh und blieb ebenfalls erfolglos.

Im elementaren Interesse aller Lohnabhängigen
Interessant ist aber, wie Mandel selbst mit seinem Berufsverbot und der Solidaritätskampagne umging. Sein Engagement, so hat es den Anschein, zielte nur nebenbei auf die Berufung, vielmehr aber darauf, mit seinem eigenen Fall den politischen Diskurs in der Bundesrepublik zu beeinflussen. Erhoffte er sich mit einem Lehrstuhl am OSI zwar auch einen endgültigen Durchbruch in der akademischen Welt, so stand dennoch und viel mehr die Mobilisierungskampagne über das Solidaritätskomitee und ihre Verbindungsgruppen im Vordergrund seiner Aktivitäten. In Interviews diskutierte er ausführlich Themen wie Arbeiterkontrolle oder das Verhältnis von Sozialismus und Demokratie.
Zudem versuchte er, die Diskussion um sein Einreiseverbot zu nutzen, um der Zersplitterung der Linken in Westdeutschland entgegenzuwirken. Auf dem im April 1972 abgehaltenen Kongress gegen politische Unterdrückung an der FU erklärte er via Tonband, dass es bei dem Protest nicht um die Solidarität mit einer Einzelperson oder einer bestimmten politischen Strömung ginge, sondern um die Verteidigung der «elementaren, gemeinsamen Interessen … aller Lohnabhängigen in der BRD, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und in Gesamteuropa».

Das Eigene verdeckend
Das Einreiseverbot nutzte Mandel also dazu, die Situation in Westdeutschland politisch zuzuspitzen und dabei auch geschickt auf die verschütteten demokratischen Traditionen der Arbeiterbewegung hinzuweisen. Einen anderen bspw. von Jean Améry oder auch von Ernst und Karola Bloch weit stärker hervorgehobenen Solidaritätsaspekt thematisierte Mandel dagegen in seinem Kampf für Meinungs- und Berufsfreiheit kaum – nämlich seine eigene Biografie.
Als junger jüdischer Marxist war er wegen seiner Teilnahme am antifaschistischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland deportiert worden, wo er Zwangsarbeit leisten musste und, kurz vor Kriegsende, völlig ausgemergelt von der US-Armee befreit worden war. Auch nachdem er gegenüber der Bundesrepublik seinen Anspruch auf eine «Wiedergutmachung» geltend machen konnte, vermied er es, diese Erfahrung als Widerständler und Verfolgter des NS-Regimes in den Vordergrund zu stellen.
Erst 1978 veranlasste der neue Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) eine die Berufsverbotspraxis aufweichende Neubestimmung der Politik, mit der auch das Einreiseverbot von Ernest Mandel aufgehoben wurde. Seine erste politische Veranstaltung in Westberlin bestritt Mandel noch im gleichen Jahr mit seinem Einsatz für die Freilassung und die Möglichkeit zur Ausreise des DDR-Dissidenten Rudolf Bahro in die BRD.

Der Artikel erschien in veränderter Fassung am 12.Januar 2022 als Teil des Themenspecials «Der Radikalenbeschluss wird 50» auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung, www.rosalux.de/dossiers/der-­radikalenbeschluss-wird-50.

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