Die Massendemonstrationen in Israel richten sich nicht gegen den Völkermord
von Shir Hever
Mitte August und Anfang September demonstrierten jeweils Zehntausende in Israel gegen die Ausweitung des Gazakriegs und für die Freilassung der Geiseln; der Hauptmann Ron Feiner rief zur Desertion auf. Kein Grund zur Hoffnung.
Die Proteste gegen die israelische Regierung werden von mehreren Organisationen getragen. Die bekannteste unter ihnen ist Brothers in Arms, eine militaristische und nationalistische Organisation, die Krieg und Besatzung unterstützt, aber die israelische Regierung ablehnt.
Nach 270 Tagen Reservedienst in Israels völkermörderischem Militär weigerte sich Hauptmann Ron Feiner weiter zu kämpfen. Standing Together, die behauptet, eine gemeinsame jüdisch-palästinensische Organisation zu sein, bezeichnete Feiner als einen der »Anführer« der Bewegung. Ist Standing Together eine Friedensbewegung, die von einer Militärkampagne angeführt wird, die 270 Tage lang tötet und verstümmelt?
Wenn wir die Demonstrationen gegen den Krieg in Israel beobachten, dürfen wir nicht der Illusion erliegen, die Demonstranten seien gegen den Völkermord, auch wenn wir uns das vielleicht sehr wünschen. Bei den Demonstrationen werden immer wieder die Familien der jüdischen israelischen Geiseln eingeladen, um über die Notwendigkeit zu sprechen, den Krieg dringend zu beenden und einen Gefangenenaustausch mit der Hamas zu unterzeichnen, um die israelischen Geiseln zu befreien.
Ein typischer Artikel, der den Protest begleitet, ist der Beitrag von Keren Cohen Kivala in der Ausgabe von Ha’aretz vom 7.September, worin die Autorin schreibt, dass »der Gedanke an Jungen, die seit zwei Jahren von Hunger, Angst und Leid gequält werden, mich in den Wahnsinn treibt«, dann aber klarstellt, dass die Eltern der leidenden Jungen »Israelis wie ich« sind. Mehr als eine Million Kinder in Gaza, die von Hunger, Angst und Leid gequält werden, sind laut Cohen Kivala irrelevant.
Nur ein kleiner Teil der Demonstrant:innen in Israel betrachtet die Palästinenser in Gaza tatsächlich als menschliche Wesen. Frustriert, zahlenmäßig unterlegen und verängstigt haben sie die Wahl zwischen der Teilnahme an patriotischen Demonstrationen mit israelischen Fahnen, auf denen die Entmenschlichung der Palästinenser als selbstverständlich hingenommen wird, oder individuellen Protestaktionen wie die einer Person, die Graffiti an die Klagemauer in Jerusalem und einige andere Orte schrieb: »Es gibt einen Holocaust in Gaza.« Wenn Demonstrierende darum bitten, Bilder von hungernden Kindern aus dem Gazastreifen zu zeigen, verbietet die Polizei diese Bilder in den meisten Fällen. Die Erkenntnis, dass Israels andauerndes Massaker in Gaza den Tatbestand des Völkermords erfüllt, ist für die große Mehrheit der Demonstranten nicht nachvollziehbar.
Angst vor dem Frieden
In Deutschland glauben viele an die Illusion, die israelische Gesellschaft sei insgesamt liberal und friedlich, nur die rechtsextreme Regierung habe die Öffentlichkeit in ihren Bann gezogen und ihr einen völkermörderischen Krieg aufgezwungen. Die deutschen Medien zeichnen von den Demonstrationen ein Bild, das im Vergleich zu ihrem tatsächlichen Ausmaß sehr übertrieben ist. In Israel werden Bedeutung und Ausmaß der Demonstrationen aus genau demselben Grund ebenfalls aufgebauscht. In Wirklichkeit repräsentieren sie einen eher kleinen Teil der Bevölkerung: säkulare Juden, meist Aschkenasim (europäischer Abstammung) und meist Rentner. Junge Israelis, Palästinenser, ultraorthodoxe Juden, national-orthodoxe Juden und Mizrachi-Juden (Juden arabischer Abstammung) sind meist nicht vertreten.
Die Demonstrationen kritisieren nicht das Militär, sie kritisieren nur Premierminister Netanyahu. Sie pflegen die Illusion, der Kern des Problems liege in Netanyahus eigener Korruption, seinem Populismus und Extremismus und seiner Unterstützung durch die Siedlerbewegung.
Netanyahu hat in der Tat ein klares Interesse daran, den Krieg auf unbestimmte Zeit fortzusetzen. Eine Beendigung des Krieges würde bedeuten, dass der Ausnahmezustand, der es der Regierung erlaubt, den Haushalt zu brechen, aufgehoben wird. Zehntausende von Reservisten würden wieder in das zivile Leben entlassen – traumatisiert, monatelang von ihrer Familie und ihrem Arbeitsplatz getrennt, die Folgen könnten katastrophal sein.
Wenn der Krieg zu Ende geht, sind Wahlen wahrscheinlich, und Netanyahu könnte sogar verlieren, was die Chance erhöhen würde, dass sein Korruptionsprozess mit einer Gefängnisstrafe endet. Schließlich und vielleicht am wichtigsten: Wenn der Krieg zu Ende ist, werden internationale Medien in den Gazastreifen eindringen und über die von Israel begangenen Gräueltaten berichten können. Es ist kein Zufall, dass der israelische Minister für Kulturerbe, Amichai Eliyahu, bereits im November 2023 sagte: »Wenn der Krieg aufhört, wird es im Januar 2024 keine Regierung, aber auch keinen Staat Israel mehr geben.« Das Problem ist also nicht nur Netanyahu.
Der Krieg ist zu einem Ritual geworden, bei dem palästinensische Zivilisten abgeschlachtet werden, um die israelische Öffentlichkeit in einem Zustand der Illusion zu halten. Die Demonstrationen sind leider ein Teil dieser Illusion. Solange die Palästinenser dehumanisiert sind, werden die Demonstrationen die israelische Regierung nicht herausfordern.
Shir Hever ist in Israel geboren und lebt in Heidelberg. Er gehört zum Vorstand der ›Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.‹ Er schrieb zuletzt in SoZ 12/2024 über das verlorene Vertrauen der israelischen Bevölkerung in Wirtschaft und Staat.
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