Wir stehen kurz vor den Points of no Return
von Annette Schlemm
Seit vielen Jahrzehnten wird vor drastischen Änderungen im Klimasystem durch menschliche Treibhausgasemissionen gewarnt, dennoch gehen die Emissionen immer weiter. Mittlerweile ist klar, dass das Ziel, unter einer globalen durchschnittlichen Temperaturerhöhung von 1,5 Grad zu bleiben, nicht mehr einzuhalten ist.
Die Zielmarke von 1,5 Grad hatte vor allem berücksichtigt, dass viele Folgen des Klima-Umbruchs bei diesem Wert vor allem niedrig liegende Inselgruppen, sensible Ökosysteme und das Leben besonders verletzlicher Menschengruppen bereits stark bedrohen. Inzwischen häufen sich die Erkenntnisse, dass ein längerfristiges Reißen der 1,5-Grad-Grenze zum Überschreiten wichtiger Kipppunkte im Klimasystem führen dürfte.
Dass es im Klimasystem Komponenten gibt, deren Zustände sich unter bestimmten Bedingungen massiv und auch abrupt verändern können, ist lange bekannt. Leider hat der IPCC sich dagegen entschieden, den nächsten Zwischenbericht den Kipp-Elementen zu widmen, was dringend vorgeschlagen worden war. Die daran Forschenden haben trotzdem ihr neuestes Wissen dazu zusammengetragen und der UN-Klimakonferenz im November 2025 in Belém mitgegeben (Lenton et al. 2025).
Denn wir sind an einigen Kipppunkten mindestens nahe dran und das Möglichkeitsfenster, ihr Kippen noch zu verhindern, schließt sich schnell. Die Wissenschaftler:innen mögen das nicht in Begriffen des Scheiterns formulieren. Sie schreiben, dass »die globale Erwärmung auf unter 1,5 °C bis 1 °C reduziert werden« muss, »um den dauerhaften Verlust der Korallenriffe zu verhindern«. Sie führen die Folgen eines Scheiterns dieser Bemühungen auf: Fischfang, Tourismus und Küstenschutz gehen verloren, was Ernährungs- und Handelssysteme zerstört und die geopolitische Stabilität gefährdet.
Der Kipppunkt für die Warmwasserkorallen im Bereich von 1…1,5 Grad ist bereits überschritten. Für den Amazonasregenwald wird es im Bereich von 1,5…2 Grad auch kritisch. Hier ist nicht nur die globale Erwärmung maßgeblich, sondern die zusätzliche Gefährdung durch massive Abholzung. Wenn der Amazonas zur Steppe wird, gehen die Lebensumwelt für Millionen Menschen, eine extrem große Biodiversität, ein enormer Kohlenstoffspeicher sowie eine wesentliche Regulierung des globalen Klimas verloren.
In unseren Breiten wird vor allem das Verhalten des Golfstroms diskutiert. Er ist Bestandteil der Atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation (AMOC – Atlantic Meridonal Overturning Circulation). Für ihn gab es in der Vergangenheit zwei klar unterscheidbare Zustände: »eingeschalteter« Golfstrom und stark geschwächter bzw. »ausgeschalteter« Golfstrom. Der »Ausschalter« ist leicht zu verstehen: Wenn viel Eis, vor allem von Grönland, schmilzt, gelangt mehr Süßwasser in eine kritische Region des Ozeans, die subpolare Zirkulationsregion, und die vorherige AMOC-Strömung wird geschwächt und reißt schließlich ab.
Es ist schwer, hierfür einen eingegrenzten kritischen Temperaturbereich bzw. ein kritisches Maß des Süßwasserzustroms zu ermitteln. Aber Anzeichen einer Schwächung des AMOC-Stroms um etwa 15 Prozent werden bereits beobachtet und es könnte sein, dass der Kipppunkt bereits überschritten ist.
Ob das schon bis 2100 zu einem Abflauen des Golfstroms führen könnte oder erst nach 2100, ist umstritten. Die Folgen wären verheerend. Stefan Rahmstorf nennt es eine »massive, planetarische Katastrophe« mit den Folgen: »Abkühlung und verstärkte Stürme in Nordwesteuropa, erheblicher zusätzlicher Anstieg des Meeresspiegels, insbesondere entlang der amerikanischen Atlantikküste, Verlagerung der tropischen Niederschlagsgürtel nach Süden (was in einigen Regionen zu Dürren und in anderen zu Überschwemmungen führen würde), verringerte Kohlendioxidaufnahme der Ozeane, stark reduzierte Sauerstoffzufuhr in die Tiefsee, wahrscheinlicher Zusammenbruch der Ökosysteme im Nordatlantik und anderes« (Rahmstorf 2023).
Domino
Die angesprochenen Prozesse: das Absterben der Korallen, das Absterben des Amazonasregenwalds und ein Ende des Golfstroms gehören zu den sog. Kipp-Elementen des Klimasystems. Wenn bestimmte Bedingungen für relativ stabile Zustände solcher Kipp-Elemente eine bestimmte Schwelle der Veränderungen überschreiten, können diese Elemente in einen völlig anderen Zustand umkippen, was die Bedingungen für Lebensformen und Menschen extrem gefährden kann.
Beim Kippen werden häufig Lebensbedingungen direkt verändert. Beim Abschmelzen von Eiskappen auf Grönland und in der Antarktis steigt der Meeresspiegel im schlimmsten Fall um bis über 50 Meter an. Andere Veränderungen wie das Abschmelzen des arktischen Eises oder des Permafrosts führen zu noch stärkerer Temperaturerhöhung. Beim arktischen Eis verdunkelt sich die Oberfläche (Wasser ist dunkler als Eis), wodurch mehr Sonnenenergie auf die Oberfläche gelangt; beim Permafrost emittiert die vorher gefrorene Erde die Treibhausgase Kohlendioxid und Methan.
Durch die Abholzung des Amazonasregenwalds wird dessen Kipppunkt erheblich verringert. Wenn man nur den Klima-Umbruch alleine berücksichtigen würde, würde der Amazonas erst bei 3–5 °C kippen. Doch durch den Verlust an Biodiversität, durch Abholzung und Wasserkreislaufveränderungen sinkt die Schwelle auf 1,5–2 °C (Rockström in CarbonBrief 2025; vgl. Wunderling ebd.). Frühere Berichte des Weltklimarats haben für die rein klimatischen Kipp-Elemente ein Kippen erst ab einer globalen Erwärmung von etwa 3,5 Grad befürchtet. Inzwischen wissen wir aber, dass für viele schon ein Kippen ab 1,5 Grad möglich sein könnte.
Der Weg in den Abgrund
Allein die klimatischen Veränderungen, die in diesem Jahrhundert noch geschehen können, lassen Schlimmes erahnen. Bei 2 Grad mehr erleben wir dreimal mehr Hitzesommer als bisher. Der Meeresspiegel steigt um weitere 10 cm an. 18 Prozent der Insekten und 8 Prozent der Wirbeltiere verlieren ihre angestammten Verbreitungsgebiete.
Außerdem heißt es in einem Bericht des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: »Die Nahrungsmittelproduktion wird bei einer Erwärmung um 2–4 °C voraussichtlich weltweit sinken. Dies kann regionale Ernährungskrisen auslösen und die ökonomische Leistungsfähigkeit betroffener Staaten untergraben.«
Bei 3 Grad mehr steigt der Meeresspiegel dreimal so schnell wie jetzt. 29 Prozent der Landtierarten sind bedroht. Bei 4 Grad mehr sind schließlich 39 Prozent der Landtierarten bedroht und es würde auf 47 Prozent der gesamten Landfläche zu heiß, als dass menschliches Leben auf Dauer möglich wäre – das betrifft 74 Prozent der menschlichen Bevölkerung.
Points of no Return
Wenn Kipp-Elemente gekippt sind, ist es meistens unmöglich, den früheren Zustand wieder zu erreichen, selbst wenn die ursprüngliche Ursache (wie zusätzliche Treibhausgase in der Atmosphäre bzw. die damit verbundene globale Erderwärmung) wieder zurückgeht. Ein gekochtes Ei wird nie wieder flüssig, egal wie sehr man es nach dem Kochen wieder abkühlt. Aus der Steppe wird kaum wieder ein Regenwald, der Aufbau von neuen Korallen dauert unter Umständen Jahrhunderttausende. Das gilt auch für weitere Kipp-Elemente im Erdsystem, die nicht direkt das Klima betreffen. Für einige Faktoren gibt es »planetare Belastungsgrenzen«, und bei sieben von neun dieser Faktoren sind die Belastungsgrenzen bereits überschritten.
Beim Klimasystem wird vor allem vor einem Abflauen des Golfstroms gewarnt und auch das Abschmelzen der Eismassen auf Grönland und der Westantarktis sind bedenklich. Wenn wir genau sagen können, dass ein Kipppunkt überschritten ist, wird es zu spät sein für eine weitere Vorsorge, dann gilt es, eine Anpassung zu ermöglichen, die so gerecht und lebensrettend wie möglich ist.
Es steht der Menschheit viel Leid bevor, weil die Warnungen zu lange überhört worden sind. Wir können nur noch entscheiden, ob es viel Leid wird oder noch viel mehr. Und wie die Gesellschaften sich umorganisieren werden.
http://philosophenstuebchen.wordpress.com.
Literaturhinweise zu diesem Beitrag unter https://tinyurl.com/Klima-Kipp-Punkte.
Eine aktuelle Übersicht über Kipp-Elemente bieten Timothy M. Lenton et al.: Global Tipping Points Report 2025. Exeter 2025.
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