Über den Charakter der Proteste in Serbien
von Krunoslav Stojakovic
Seit dem 25. November 2024 dauern in Serbien die Proteste gegen die nationalkonservative Regierung und den allmächtigen Staatspräsidenten Aleksandar Vucic an. In dieser Zeit ist einiges in Bewegung geraten.
Das kritische Ereignis, das diese nun fast zehnmonatige Bewegung in Gang setzte, war der Einsturz des Vordachs des gerade für mehrere Millionen Euro renovierten Hauptbahnhofs in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen. Zu augenscheinlich waren die Ausreden und Lügen der politisch Verantwortlichen, die in einem ersten medialen Reflex in Person des Staatspräsidenten das sozialistische Jugoslawien für den Einsturz schuldig sprechen wollten. Zu tödlich ist das Netzwerk zwischen der Regierungspartei SNS, mafiaähnlichen Strukturen und politischen Loyalitäten, die auf Arbeitsplatzsicherheit und Bauvorschriften wenig geben.
Her mit dem Rechtsstaat
Während der Protestmonate ist einiges passiert, seitens der Protestierenden ebenso wie seitens der Regierenden. Der erste Reflex des Regimes auf die stetig anwachsende Protestbewegung folgte einem altbekannten und bewährten Muster: die Protestierenden wurden als vom Ausland bezahlte, antiserbische Clique denunziert, die zudem das Kosovo verraten habe. Um zu zeigen, wie gering ihr Rückhalt beim Wahlvolk ist, zeigte der Staatspräsident sich bereit, Neuwahlen auszuschreiben. Das wären seit 2012, als die SNS erstmals stärkste Kraft wurde, die siebten Wahlen zum Parlament.
Entgegen der Tradition des zeitgenössischen serbischen Parlamentarismus verhielten sich die Studierenden als dominante Trägergruppe der Protestbewegung aber nicht im althergebrachten Sinne der vollkommen diskreditierten, zumeist liberalen Opposition, die regelmäßig auf die politischen Winkelzüge des Regimes reinfiel und sich im Anschluss bei den Institutionen der EU darüber beschwerte, dass die Wahlen unfair verlaufen seien. Sie ließen den Präsidenten stattdessen auflaufen, ignorierten seine Drohungen und adressierten ihre Forderungen an die de jure zuständige Regierung mit ihrem de facto bedeutungslosen Ministerpräsidenten Milos Vucevic.
Diese Forderungen waren so spektakulär unspektakulär, dass sie die groteske Verformung des serbischen Staatsapparats zu einem Dienstleistungsunternehmen für die Regierungspartei und die ihr nahestehenden Wirtschaftsinteressen bloßstellten: Veröffentlichung der Dokumentation zum Umbau des Hauptbahnhofs in Novi Sad zur unabhängigen fachlichen Überprüfung; Freilassung aller zu Beginn der Proteste im November 2024 inhaftierten Teilnehmer:innen; strafrechtliche Verfolgung jener Individuen, die in Form von bezahlten Schlägertruppen gegen Professoren und Student:innen aus Novi Sad eingesetzten wurden sowie eine 20prozentige Erhöhung des Budgets für die staatlichen Hochschulen.
Keine dieser Forderungen wurde bisher zufriedenstellend umgesetzt, auch nicht die doch eigentlich ziemlich banale Forderung nach unabhängiger Überprüfung der Baudokumentation. Stattdessen versuchte das Regime, mithilfe politischer Bauernopfer wie dem bedeutungslosen Rücktritt des Ministerpräsidenten Vucevic, dessen Macht sich ohnehin aus seiner Funktion als Vorsitzender der SNS speist, und gezielter und punktueller Anwendung von Gewalt, die Proteste und somit die politische Situation unter Kontrolle zu bringen.
Symbolische Siege
Das Ergebnis dieser Strategie war jedoch die Vermassung und Ausbreitung der Unzufriedenheit. Aus einer vor allem von Studierenden getragenen Bewegung, zu deren wirkmächtigem Merkmal die sechzehnminütige Schweigeminute für die insgesamt sechzehn Todesopfer werden sollte, wurde ein von breiten Teilen der Gesellschaft getragener Volksprotest gegen Willkür, Korruption und für Rechtsstaatlichkeit.
Erstmals in der Vucic-Ära drängte sich der Eindruck auf, dass die sonst so effektive Propagandamaschine der SNS kein effektives Gegenmittel findet und mit der Situation überfordert ist. Während also das Regime zunächst strauchelte, feierten die Protestierenden einen symbolischen Erfolg nach dem anderen: mit Fußmärschen quer durch das Land, begleitet von Sympathiekundgebungen, mit öffentlichkeitswirksamen Radtouren in die westeuropäischen Machtzentren Brüssel und Straßburg, bis hin zu Solidaritätsbekundungen in Berlin oder Wien.
Zu Hause in Serbien schlossen sich immer mehr Menschen den Protesten an: An der ersten größeren Protestveranstaltung im Dezember 2024 nahmen Schätzungen zufolge 100.000 Menschen teil, es folgten im Januar 2025 landesweite »Antikorruptionsproteste« mit insgesamt über 100.000 Teilnehmer:innen und am 15.März eine Massendemonstration mit schätzungsweise bis zu 300.000 Menschen, die die Straßen der Hauptstadt Belgrad säumten.
Und dennoch: Trotz dieser Mobilisierungserfolge blieben die politischen Erfolge der Protestierenden überschaubar. Der Versuch, den Protest zu internationalisieren um zusätzlichen Druck auf das Regime aufzubauen, scheiterte vor allem daran, dass die wesentlichen politischen Akteure im Westen gar kein Interesse daran hatten, den Belgrader Autokraten unter Druck zu setzen.
Die USA sind an Immobilieninvestitionen interessiert, die das Belgrader Regime ermöglichen will; der Europäischen Kommission liegt viel am Zustandekommen des Lithium-Deals, deren Garant ebenfalls Aleksandar Vucic ist. Da bleibt wenig Platz für »wertebasierte« Außenpolitik – und somit außer aufmunternden Worten im Europäischen Parlament auch nichts Substantielles für die serbische Mehrheitsbevölkerung.
Mehr Patriotismus wagen
Auf der Beliebtheitsskala aber nahm die Bewegung in gleichem Maße zu, wie die Regierung an Unterstützung einbüßte, was ab Anfang Mai auch zu einem weitreichenden Strategiewechsel führte.
Nun war es die Protestbewegung, die vorgezogene Neuwahlen forderte. Damit gaben die Protestierenden aber auch das Heft des Handelns aus ihren Händen, denn die Entscheidung darüber obliegt dem Staatspräsidenten. Sich seiner kritischen Popularitätswerte bewusst, spielt der Präsident seitdem auf Zeit.
Zudem entschieden die Organisator:innen der Proteste, das nationalpatriotische Element zu betonen. Dies äußerte sich besonders öffentlichkeitswirksam in der Entscheidung, eine weitere Großkundgebung am 28. Juni zu organisieren, dem im Kontext der Kosovo-Mythologie als Veitstag eine zentrale Rolle für den serbischen Nationalismus zukommt.
Die strategische Idee der Organisator:innen mag wohl gewesen sein, an diesem geschichtsschwangeren Tag dem sich selbst als nationalkonservativ verstehenden Regime die Show zu stehlen und die Proteste als besonders patriotisch zu kennzeichnen. Folgerichtig war die Rednerliste gespickt mit nationalistischen und klerikalen Hardlinern, nur gelegentlich und mit recht kurzen Wortbeiträgen unterbrochen von liberalen Intellektuellen wie beispielsweise Vladan Dokic, dem Rektor der Universität Belgrad.
Die Reaktionen auf dieses Happening, bei dem es um die territoriale Integrität und Einheit des Landes sowie den Widerstand gegen ausländische Montanriesen wie Rio Tinto ging, fielen entsprechend kritisch aus. Manch ein Kommentator in Deutschland erkannte darin eine Übernahme der Proteste durch nationalistische und klerikale Akteure, denen das Vucic-Regime zu unpatriotisch und zu geschäftstüchtig mit dem Westen ist.
Zur Wahrheit gehört aber, dass die Proteste von Beginn an einen patriotischen Unterton hatten. Verspielt und »modern«, stellenweise mit popkulturellen Ähnlichkeiten zur Wiedergeburt des deutschen Nationalismus während der Fußballweltmeisterschaft 2006. Die serbische Trikolore wurde zur Massenerscheinung, geschwungen von jungen Student:innen, die auch im mehrheitlich muslimisch geprägten Universitätsstädtchen Novi Pazar anschlussfähig waren.
Eine globale Erfolgserzählung?
Dennoch ist Verwunderung darüber fehl am Platz, denn der Nationalismus hat an vielen Orten, nicht nur in Serbien, die kulturelle Hegemonie übernommen. Die Studierenden waren im Grunde von Beginn an gezwungen, zusätzlich zur Forderung nach Rechtsstaatlichkeit die nationale Karte zumindest mit auszuspielen, ganz unabhängig davon wie direktdemokratisch ihre Organisationsbemühungen mit Plena und Basisversammlungen auch aussehen mögen. Zumal die sozialistische Linke in Serbien für die ideologische Formung der Proteste keinerlei Rolle spielte.
Mehr noch, innerhalb der fragmentierten Linken gibt es inzwischen einen wortreichen und aus Moskau subventionierten nationalistischen Flügel, der beispielsweise Slobodan Milosevic als antiimperialistischen Vorzeigekämpfer zu rehabilitieren versucht.
Werfen wir einen Blick auf das Nachbarland Kroatien, so sehen wir auch dort eine zunehmende Präsenz des Nationalismus im öffentlichen Raum – angefangen bei einer kürzlich mit viel Pomp abgehaltenen Militärparade bis hin zu einem Massenkonzert des erwiesenermaßen rechtsextremen Musikers Thompson, dem die mit beinahe absoluter Mehrheit regierende sozialökologische Stadtregierung von Zagreb aus Mangel an politischem Rückgrat das Konzert zu untersagen nicht im Stande war. Unterdessen macht es die Rechte sich inzwischen zur politischen Daueraufgabe, Musiker:innen aus Serbien Auftrittsverbote auszusprechen mit dem Argument, sie würden die Gefühle der kroatischen Veteranen aus dem Bürgerkrieg der 90er Jahre verletzen.
Das nationalistische Narrativ ist der Protestbewegung also nichts Wesensfremdes, sein Stellenwert hat sich nur aufgrund der internen Machtverhältnisse geändert.
Der Autor ist Historiker und Referent für West-, Ost- und Südosteuropa am Zentrum für internationalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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