von Angela Klein
Die Geschichte der Ukraine ist untrennbar mit zwei Konstanten verknüpft: ihrer geopolitischen Lage an der Schnittstelle konkurrierender Großmächte, mit nach Osten unklaren Grenzen, und dem spannungsreichen Verhältnis zwischen sozialer und nationaler Emanzipation. Dabei zeigt sich ein Muster: In den entscheidenden historischen Momenten, in denen nationale Selbstbestimmung möglich gewesen wäre, wurde diese verspielt – weil soziale Forderungen der Bevölkerung ignoriert wurden. Vereinfacht gesagt war die ukrainische Nationalbewegung für die Befreiung von Fremdherrschaft stets auf die Unterstützung der Bäuer:innen und Arbeiter:innen angewiesen, hat deren Forderungen aber nicht aufgegriffen, sie im Gegenteil sogar zurückgewiesen.
Das Hetmanat: Ursprung nationaler Autonomie
Die Ursprünge ukrainischer Staatlichkeit reichen ins 16. Jahrhundert zurück, als sich Kosaken am unteren Dnjepr ansiedelten und sich dem Königreich Polen als Grenzschützer gegen die Krimtataren andienten. Im Gegenzug forderten sie volle Autonomie.
Die Kosaken bildeten die Oberschicht. Die bäuerliche Bevölkerung hingegen bestand meist aus geflüchteten slawischen Leibeigenen, die unter der Herrschaft polnischer Gutsbesitzer litten. Im frühen 17. Jahrhundert kam es deshalb immer wieder zu Bauernaufständen gegen die Einführung von Fronarbeitsverhältnissen wie in Polen – man spricht von „östlichen Bauernkriegen“.
Ihr Höhepunkt war der Aufstand im Jahr 1648, angeführt vom Hetman Bohdan Chmelnizky. Was zunächst wie eine nationale Erhebung gegen den polnischen Adel erschien, offenbarte bald seinen sozialen Widerspruch: Der resultierende Vertrag privilegierte allein die Kosaken, während die Bäuer:innen weiterhin leibeigen blieben.
In den nachfolgenden Kriegen, die der polnische Adel weiter anstrengte, verweigerten die Bauern daher dem Hetman die Gefolgschaft. Dieser sah sich deshalb gezwungen, sich nach einer neuen Schutzmacht umzusehen und unterwarf sich schließlich dem russischen Zaren.
Katharina II. löste das Hetmanat um 1780 endgültig auf, unterdrückte die ukrainische Sprache und Kultur und verhinderte die Herausbildung einer eigenständigen ukrainischen Oberschicht, vor allem eines Bürgertums, das in Europa traditionell Träger nationaler Ideen war. Über 200 Jahre lang war die Ukraine ein russische Kolonie.
Die gesellschaftliche Arbeitsteilung war ethnisch strukturiert: Großgrundbesitzer waren Polen oder Russen, deren Verwalter meist Juden, was sie zum Blitzableiter des bäuerlichen Widerstands machte und dazu führte, dass die Nationalbewegung vielfach mit antijüdischen Pogromen einherging. Die Stadtbevölkerung war mehrheitlich polnisch oder russisch; die Mehrheitsbevölkerung, Ukrainer:innen, waren Bauern.
Selbst mit der Industrialisierung blieb diese Ordnung weitgehend erhalten. In der Schwerindustrie des Ostens stellten russische Facharbeiter die qualifizierte Arbeiterschaft, während Ukrainer:innen als Saisonarbeiter:innen und Tagelöhner:innen in Industriezweigen arbeiteten, die Agrarprodukte verarbeiteten. Die nationale Segregation der Bevölkerung korrespondierte mit sozialen Hierarchien.
Klassenauseinandersetzung nahmen daher oft einen nationalen Charakter an. Die Wut der Bäuer:innen etwa richtete sich häufig gegen Juden, die als Verwalter auf polnischen Gütern tätig waren. Antijüdische Pogrome waren regelmäßige Begleiter der ukrainischen Nationalbewegung. Eine nationale Emanzipation konnte unter diesen Bedingungen nur gelingen, wenn das Joch der Klassenherrschaft abgeschüttelt wurde.
Revolution 1917: eine vertane Chance
Mit der Februarrevolution und dem Ende des Zarenreichs 1917 öffnete sich ein neues Fenster für nationale Emanzipation. Von einer Nationalbewegung konnte bisher nur in dem unter österreichischer Herrschaft stehenden Galizien die Rede sein, dort waren Ukrainer:innen im Reichstag vertreten.
In der Ukraine erhielt sie erst am Ende des Krieges eine Massenbasis, als zurückkehrende Soldaten, überwiegend Bauern, nationales Gedankengut nach Hause trugen. Sie verbanden damit die Hoffnung auf Land, Befreiung aus der Leibeigenschaft, freie Wahl der Offiziere und ein Ende des Krieges.
Im März 1917 schlossen sich städtische Intellektuellenzirkel zur Rada (Rat) zusammen, die beanspruchte, die politische Stimme einer unabhängigen Ukraine zu sein. Das war auch die Geburtsstunde der Ukrainischen Sozialdemokratischen Partei. Das städtische Kleinbürgertum, dessen Angehörige die Rada dominierten, verband mit der Unabhängigkeit in erster Linie die Lösung aus dem russischen Einfluss und den Aufbau einer eigenen bürgerlichen Oberschicht.
Mit den Bestrebungen der Bäuer:innen war das inkompatibel. Auf dem Land tobte ein Klassenkampf um die Umverteilung von Grund und Boden, die Rada stand im großen und ganzen auf der Seite der wohlhabenderen Bauern.
Sie war auch für die Beibehaltung der alten Hierarchie in der Armee und bestand auf einem Separatfrieden mit den Mittelmächten. Und sie war für die Fortsetzung des Krieges – jetzt gegen Russland. Das führte zum Bruch mit den unteren Schichten, den armen Bäuerinnen und Soldaten, die zunehmend zu den Bolschewiki überliefen.
Diese versprachen soziale Reformen, Frieden und als einzige politische Kraft in Russland die Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit. Ihre Machtbasis waren russische Industriearbeiter im Osten und arme Bäuer:innen. Der Konflikt zwischen Rada und Bolschewiki drehte sich nicht um die Frage der Unabhängigkeit, sondern, wie in Russland auch, darum, wer die politische Macht ausüben sollte: die bürgerliche Klasse (das Parlament) oder die Arbeiter:innen und Soldaten (die Räte).
Militärisch war die Rada zu schwach, um sich gegen die bolschewistische Offensive zu behaupten. Sie rief daher zunächst die Kosaken, dann die deutschen Truppen zu Hilfe. Diese besetzten die Ukraine, entmachteten die Rada und setzten den kaiserlich-russischen General Skoropadsky als Hetman ein, der das alte Großgrundbesitzerregime wiederherstellte.
Mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg brach diese Ordnung zusammen. Das revolutionäre Russland gewann den Bürgerkrieg. Die Ukraine wurde Teil der Sowjetunion – mit territorialer Ausdehnung weit über das alte Hetmanat hinaus1. Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik hatte eine eingeschränkte politische Souveränität, die aber – anders als bei westlichen Kolonien – ihre industrielle Entwicklung nicht behinderte, weshalb man sie auch nicht als Kolonie bezeichnen konnte.
Als (relativ) unabhängiger Staat ist die Ukraine ein Ergebnis der russischen Revolution. Lenin erkannte das Selbstbestimmungsrecht der Nationen an – ein Prinzip, das in der bolschewistischen Partei keineswegs unumstritten war. Doch ohne das Zugeständnis nationaler Selbstständigkeit hätte man sie die bäuerliche Bevölkerung nicht für das sozialistische Projekt gewinnen können.
Die Bolschewiki haben den Kampf um die Ukraine nicht nur gewonnen, weil sie die sozialen Forderungen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen erfüllten. Sie haben ihn auch gewonnen, weil sie die Forderung vor allem der Bäuer:innen nach politischer Unabhängigkeit anerkannten.
In den 1920er Jahren, nach Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP), erlebte die Ukraine eine Blütezeit. Zwar war sie in die all-unionale Wirtschaftsstruktur eingebunden. Doch ihre wirtschaftliche Entwicklung, die ukrainische Sprache und Bildung wurden gefördert.
Mit Stalins Konterrevolution endete diese Phase abrupt. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die darauf folgende Hungersnot (Holodomor) und die erbarmungslose Verfolgung nicht linientreuer Kommunist:innen zerstörten die bäuerliche Kultur und führten zu millionenfachem Tod. Allein in der Ukraine starben schätzungsweise 3,5 Millionen Menschen. In der Ukraine spricht man deshalb von einem Genozid.
1991: Oligarchie statt Demokratie
Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde die Ukraine politisch vollständig unabhängig. In einem Referendum sprach sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für einen eigenen Staat aus. Doch die Unabhängigkeit mündete nicht in demokratischer Erneuerung, sondern in einer Oligarchenwirtschaft, die durch eine Welle privater Raubzüge an staatlichem Eigentum und Produktionsanlagen entstand. Insbesondere die Führung der Parteijugend tat sich bei dieser Bereicherungsorgie hervor.
Oligarchenwirtschaft meint nicht nur räuberische, teils gewaltsame Privatisierung, sondern auch die Bildung riesiger Konglomerate über verschiedene Wirtschaftssektoren hinweg. Eine bürgerliche Mittelschicht entstand nur ansatzweise, dazu war die Kapitalkonzentration im Land und global zu weit fortgeschritten.
Die Oligarchen teilten sich vor allem die linksufrige (östliche) Ukraine territorial auf, besetzten die kommunalen und regionalen Verwaltungen und nutzten sie zu ihrer Bereicherung. Sie konkurrierten gegeneinander, nicht nur um die Herrschaft über den Energiehandel mit Russland, sondern auch um die Besetzung der politischen Stellen im Zentralstaat.
Wegen der Verquickung von politischer und ökonomischer Macht wird sowjetisch und russisch bis heute in eins gesetzt. Die Arbeiter:innenklasse wiederum leidet bis heute darunter, dass sie unter der stalinistischen und poststalinistischen Herrschaft politisch vollständig atomisiert wurde beruhte, was jede eigenständige Wahrnehmung von Interessen verunmöglichte; und sie heute daran hindert, im Krieg gegen Russland ein von der Oligarchie, aber auch von den bürgerlichen Mittelschichten unabhängiges politisches Projekt zu formulieren.
Der Euromaidan 2013/2014 begann als Protestbewegung von unten gegen Korruption und Oligarchenwillkür und für Rechtsstaatlichkeit. Erst durch brutale Polizeigewalt wurde aus der Bewegung ein landesweiter Aufstand.
Es mischten sich verschiedene Kräfte hinein: westukrainische Nationalist:innen, enttäuschte Bürgerliche, aber auch rivalisierende Oligarchenfraktionen. Der Machtkampf mündete in eine tiefe Spaltung der Ukraine und die Suche nach Anlehnung an größere Wirtschaftsräume: die EU bzw. die Eurasische Union, wobei die Beitrittsbedingungen sich gegenseitig ausschließen.
Der Einmarsch russischer Truppen 2014 und der offenen Krieg ab 2022 stellt die ukrainische Souveränität erneut in Frage, ihr Schicksal hängt jetzt vom Ausgang des Konflikts zwischen den Großmächten ab. Nach mehr als drei Jahren Krieg kann kaum noch behauptet werden, er diene den Interessen der arbeitenden Bevölkerung.
Diese hat keinerlei Einfluss auf die Kriegsführung; sie ist Kanonenfutter. Ihre Söhne werden von der Straße weg gewaltsam eingefangen, während Wohlhabendere ihre Söhne ins Ausland schicken. Stattdessen werden den Arbeiter:innen sukzessive alle Rechte genommen, die sie aus der sowjetischer Zeit geerbt haben.
Mehr als drei Jahre nach Beginn der russischen Invasion hat sich das Bild gründlich gewandelt: Das Vertrauen in Präsident Selenskyj schwindet, obwohl er mit dem Versprechen angetreten war, Korruption und den Krieg mit Russland zu beenden. Das Kriegsgeschehen fordert hohe Verluste an Menschen und wirtschaftlichem Potenzial, ohne Siegesaussichten.
Menschen widersetzen sich offen und handgreiflich der Zwangsrekrutierung junger Männer. Auch an der Korruption und Misswirtschaft, vornehmlich im Verteidigungsministerium, hat sich nichts geändert. Der jüngste Versuch der Regierung, die unabhängigen Stellen, die dagegen vorgehen sollen, kaltzustellen, hat einen Sturm der Entrüstung entfacht.
Eine repräsentative Umfrage dreier ukrainischer Institute von Juni zeigt: 72?Prozent wünschen ein schnelles Ende des Krieges, nur 21?Prozent seine Fortsetzung. Die Abhängigkeit von westlicher Waffen und Haushaltshilfe droht die Ukraine in neue Abhängigkeiten zu treiben – diesmal vom Westen. Trumps Forderung nach Abtretung von Rohstoffen als Gegenleistung für geleistete Waffenlieferungen ist nur der unverhüllteste Ausdruck davon.
Eine Chance hat die Ukraine nur, wenn sie nationale Selbstbestimmung mit einem emanzipatorischen sozialen Projekt verbindet. Dafür bedarf es allerdings auch internationaler Umstände, die dies ermöglichen, und die sind heute angesichts des Zustands der europäischen Arbeiter:innenbewegung kaum gegeben.
- In ihrer heutigen Ausdehnung gibt es die Ukraine erst seit dem Zweiten Weltkrieg, als (Ost)-Galizien (die heutige Westukraine) dazukam. ↩︎
Angela Klein ist verantwortliche Redakteurin der Sozialistischen Zeitung und Mitgründer der Initiative »Solidarität mit den Gewerkschaften in der Ukraine – humanitäre Hilfe«.
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