von Joseph Daher
Der Sturz des Regimes von Baschar al-Assad im Dezember 2024 und die darauffolgende Aufhebung der US-Sanktionen haben Hoffnungen für die Zukunft Syriens geweckt. Mehr als zehn Monate später wird der undemokratische, neoliberale und proimperialistische Charakter des Regimes jedoch immer deutlicher.
HTS heißt Hai’at Tahrir asch-Scham (Komitee zur Befreiung der Levante), ihr Anführer ist Ahmed al-Charaa, derzeit Präsident des Landes. Die Gruppe ist aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida.
Das Land leidet unter territorialer und politischer Fragmentierung, ausländischen Einflüssen und Besetzungen sowie konfessionellen Spannungen. Sie zeigten sich insbesondere in den Massakern vom März an der alawitischen Bevölkerung in den Küstengebieten, bei denen mehr als tausend Menschen ums Leben kamen, in den Angriffen auf die drusische Bevölkerung im April, Mai und Juli und in einem Selbstmordanschlag in einer Kirche in Damaskus im Juni.
Anhaltende Instabilität
Mitte Juli verschärften dramatische Ereignisse in der Provinz Suweida die Lage zusätzlich: Es kam zu massiven Menschenrechtsverletzungen, insbesondere durch bewaffnete Gruppen, die mit den Zentralbehörden in Damaskus in Verbindung stehen und diese unterstützen.
Anfang Oktober kam es in Aleppo zu Zusammenstößen zwischen zwei mehrheitlich kurdischen Stadtvierteln (Scheich Maqsoud und Achrafieh) und den von Regierungstruppen kontrollierten Gebieten. Ein lokaler Waffenstillstand beendete die Kämpfe am nächsten Tag im Morgengrauen.
Seit dem Sturz des Assad-Regimes kommt es regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) – die von der kurdischen bewaffneten Gruppe YPG dominiert werden – und dem neuen Regime unter der Führung von Hai?at Tahrir asch-Scham (HTS) im Norden und Nordosten Syriens, obwohl im März zwischen Damaskus und den Behörden im Nordosten Syriens ein Abkommen geschlossen wurde, das die Integration der zivilen und militärischen Institutionen der kurdischen Selbstverwaltung in die nationalen Institutionen vorsieht. Allerdings sind viele Fragen nach seiner tatsächlichen Umsetzung offen geblieben.
Zerrüttetes Land
Der Hintergrund, vor dem all dies geschieht, ist eine Übergangsphase, die weder inklusiv noch demokratisch ist. Das hat negative Auswirkungen auf einen möglichen wirtschaftlichen Aufschwung und den künftigen Wiederaufbauprozess, der von entscheidender Bedeutung ist.
Über die Hälfte der Syrerinnen und Syrer leben nach wie vor als Vertriebene innerhalb ihres Landes oder im Ausland. Mehr als 90 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, 16,7 Millionen Menschen – also drei Viertel der Bevölkerung – benötigten laut UNO im Jahr 2024 humanitäre Hilfe.
Trotz dieser schwierigen Lage ist die neue Führungselite unter der Führung von Hai’at Tahrir asch-Scham mehr daran interessiert, ihre Macht über das Land zu festigen, als einen politischen Übergang einzuleiten, der eine breite und inklusive Beteiligung der syrischen Gesellschaft fördert. Sie hat eine Strategie entwickelt, die auf drei Hauptsäulen basiert: neue internationale Allianzen, Dominanz staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen und Instrumentalisierung des Konfessionalismus.
Syrien in einem neuen internationalen Bündnis
Die neuen Machthaber unter der Führung von HTS in Damaskus sind eingebettet in ein US-dominiertes regionales Bündnis, zu dem auch die Türkei, Katar und Saudi-Arabien gehören. Ankara und Doha, die seit Jahren Beziehungen zu HTS unterhalten, sind die Hauptgewinner des Sturzes des Assad-Regimes, doch die syrischen Behörden achten auch darauf, ihre Beziehungen zu diversifizieren und namentlich zum Königreich Saudi-Arabien zu festigen. Riad ist in der Tat der Schlüssel zu ihrer regionalen Anerkennung und Akzeptanz, insbesondere unter den Golfmonarchien.
Die Anerkennung der neuen syrischen Verwaltung durch die internationalen und regionalen Mächte zeigte sich u.a. in der Teilnahme des Regimes in Damaskus an der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im September 2025. Der Interimspräsident Ahmed al-Charaa war der erste syrische Staatschef seit fast 60 Jahren, der an einer hochrangigen Sitzung der Vereinten Nationen teilnahm und eine Rede vor der Generalversammlung hielt.
Zuletzt trat ein syrischer Präsident 1967 vor der Generalversammlung auf, also vor Beginn der 50jährigen Herrschaft der Assad-Dynastie. Die syrische Delegation traf sich auch mit Staats- und Regierungschefs verschiedener Länder, darunter war ein zweites Treffen zwischen al-Charaa und US-Präsident Trump nach dem Treffen in Saudi-Arabien im Mai 2025.
Anpassung an den Weltmarkt
Die Legitimierung der neuen Machthaber hat es ermöglicht, einen Prozess zur Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien einzuleiten – und damit den Weg für die Erleichterung des Finanzhandels und die Wiedereingliederung der syrischen Wirtschaft in den globalen Finanzmarkt zu ebnen.
Das ist die Voraussetzung für die Gewinnung ausländischer Direktinvestitionen und von Unternehmen aus der syrischen Diaspora, beides wichtige Ziele der neuen Regierung. Damaskus bemüht sich um Investitionen regionaler und internationaler Unternehmen, um seine Infrastruktur zu modernisieren und Einnahmen zu generieren. Die neue syrische Regierung hat bereits zahlreiche Vereinbarungen mit solchen Unternehmen geschlossen.
Politisch-wirtschaftlich scheinen die neuen Machthaber ein kommerzielles Wirtschaftsmodell zu bevorzugen, das sich durch Investitionen mit kurzfristiger Gewinnorientierung zum Nachteil der produktiven Wirtschaftssektoren auszeichnet. Dies spiegelt sich weitgehend in den Investitionsversprechen wider, die Syrien gemacht wurden: Sie konzentrieren sich auf Sektoren wie Tourismus, Immobilien und Finanzdienstleistungen, die in der Regel kurzfristig rentabel sind. Ausländische Direktinvestitionen in produktiven Sektoren wie der verarbeitenden Industrie und der Landwirtschaft stehen nicht vorne an.
Die „Normalisierung” der Beziehungen zu Israel
Auf diesem Weg ist auch eine direkte oder indirekte „Normalisierung“ der Beziehungen zu Israel möglich. Der amtierende Präsident al-Charaa hat wiederholt betont, dass sein Regime keine Bedrohung für Israel darstelle, und offenbar auch Präsident Trump gegenüber seine Bereitschaft bekundet, den Abraham-Abkommen beizutreten, sofern die Bedingungen das zulassen.
In diesem Zusammenhang argumentierte er, Syrien könne „eine wichtige Rolle für die regionale Sicherheit spielen“. Syrien habe mit Israel „gemeinsame Feinde“, insbesondere den Iran und die Hisbollah. Damaskus hat die massiven israelischen Angriffe auf den Iran nicht verurteilt, denn es sieht jede Schwächung der Islamischen Republik (und der Hisbollah im Libanon) als positiv.
Das hängt zum einen mit der gewalttätigen Rolle zusammen, die der Iran bei der Unterstützung Assads während des syrischen Aufstands spielte. Es spiegelt aber auch die politische Ausrichtung der neuen Führungselite wider, die sich an der Politik der USA orientiert. Unbestreitbar hatte der Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 einen bedeutenden Einfluss auf das regionale geopolitische Kräfteverhältnis zum Nachteil der Islamischen Republik Iran und der Achse des Widerstands.
Die Verhandlungen zwischen Damaskus und Tel Aviv wurden selbst nach den Massakern Mitte Juli im Gouvernement Suweida und den darauf folgenden israelischen Luftangriffen fortgesetzt. Unter Vermittlung der Vereinigten Staaten wird derzeit über ein Sicherheitsabkommen zur Stabilisierung der beiderseitigen Grenze verhandelt.
Es soll insbesondere die Zusage Syriens beinhalten, es werde verhindern, dass sein Territorium für Angriffe auf Israel genutzt wird, sowie Maßnahmen zur Entmilitarisierung auf syrischer Seite, um eine Eskalation zu vermeiden. Dies wäre ein erster Schritt vor der Aufnahme formellerer Beziehungen.
Dies ist der erste Teil eines zweiteiligen Artikels. Der zweite Teil folgt.
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