Die Regimekrise in Frankreich und Ansätze zu ihrer Lösung
Gespräch mit Olivier Besancenot
Olivier Besancenot ist einer der Sprecher der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich.
Das Gespräch führte Angela Klein.
Die Bewegung Bloquons-tout hat sich nach der Sommerpause gegen den Haushalt des Premierministers François Bayrou gewandt, der die Sozialhaushalte um über 40 Milliarden Euro kürzen wollte. Jetzt hat Macron einen neuen Misstrauensantrag gegen seinen Nachfolger Sébastien Lecornu mit der Zusage an die Sozialdemokratie (SP) abgewendet, über die Rentenreform erst nach den nächsten Präsidentschaftswahlen zu entscheiden. Wie passt das zusammen?
Die sozialen Proteste nach der Sommerpause haben sich in der Tat gegen den gesamten Haushalt gerichtet. Ihr Auslöser war jedoch eine eher symbolische Maßnahme: es sollten uns zwei Feiertage im Jahr gestrichen werden. Das war, wie so oft, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Die Bewegung ist völlig außerhalb des traditionellen politischen und gewerkschaftlichen Rahmens entstanden, auch wenn politische Organisationen dann dazu aufgerufen haben, sich der Bewegung anzuschließen. Es gab überall vorbereitende Vollversammlungen, die nicht sehr massiv, aber auch nicht zu vernachlässigen waren. Jedenfalls hat die Regierung Angst bekommen.
Bayrou hat daraufhin die Vertrauensfrage gestellt, von der er wusste, dass er sie verlieren würde, damit war sein Haushalt und somit auch die Streichung der beiden Feiertage vom Tisch. Es gibt in Frankreich also immer noch ein Potenzial für einen bedeutenden sozialen Widerstand, auch wenn die letzten großen Proteste vor zwei Jahren gegen die damalige Rentenreform von der Bewegung verloren wurden, obwohl 4–5 Millionen Menschen auf die Straße gingen.
Die Rentenfrage ist erst später wieder aufs Tapet gekommen, im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung, die nicht erneut über ein Misstrauensvotum stürzen sollte. Das Zuckerstückchen dafür war die Zusage des neuen Premiers, Lecornu, die Rentenfrage nicht mehr vor den nächsten Präsidentschaftswahlen aufzurufen.
Dabei geht es nur um einen zeitlichen Aufschub, das Vorhaben als solches, auch an die Rente noch ranzugehen, wurde nicht fallengelassen. Das zeigt aber, wie sehr die Mobilisierung von damals den Herrschenden noch in den Knochen sitzt. Für sie wird es nun schwerer, das Fass erneut aufzumachen.
Abgesehen davon ist der Haushalt, den Lecornu vorgelegt hat, noch schlimmer als der von Bayrou. Studierenden soll das Wohngeld gestrichen werden, die Sozialleistungen für Behinderte, die Leistungen für Familien und auch die Renten auf Eis gelegt werden – das trifft jeweils Millionen von Menschen.
Dieser Haushalt plündert die Taschen der Armen, während zugleich ein Ökonom namens Gabriel Zucman vorgerechnet hat, dass das Haushaltsloch leicht mit einer Reichensteuer in Höhe von 2 Prozent für die 1800 reichsten Haushalte gestopft werden könnte. Das Vermögen dieser 1800 Haushalte steigt jedes Jahr um 6–7 Prozent – wovon ihnen nur 2 Prozent genommen würden.
Ist die Forderung populär?
Ja, sehr, seit Jahren fordern die sozialen Bewegungen die Wiedereinführung der Besteuerung großer Vermögen und eine progressive Besteuerung spekulativer Vermögen. Solche Parolen hört man ständig, Attac betont sie sehr stark.
Wird sie auch vom Rassemblement National (RN) getragen?
Nein. Bei den Abstimmungen tritt RN immer gegen alle Maßnahmen auf, die in die Richtung einer Besteuerung der Reichsten oder von Finanzvermögen gehen. Er behauptet dann immer, Alternativlösungen zu haben, die stärker die Spekulation besteuern. Jedesmal, wenn RN faktisch die Interessen der Reichen vertritt, pflegt er eine Sprache, die das Gegenteil nahelegen soll. Damit konnte er sich bislang stets aus der Affäre ziehen.
Aber auch die Sozialistische Partei (PS) ist noch nicht aus dem Schneider. Sie hat nun entschieden, dass sie Lecornu nicht das Misstrauen aussprechen will. Aber der Haushalt muss auch noch verabschiedet werden, dazu wird sie sich verhalten müssen. Die politische Krise ist nicht ausgestanden, die Abstimmung ist für Mitte Dezember vorgesehen.
Zustimmung zum Haushalt bedeutet jedoch, Teil der Regierungsmehrheit zu sein. Das will die PS aber auch nicht.
Das heißt, wir haben eine Regimekrise, die auf die eine oder andere Weise gelöst werden muss.
Wenn aber wichtige Entscheidungen wie die Rentenreform auf die Zeit nach den nächsten Präsidentschaftswahlen verschoben werden, dann erhalten diese eine immer stärkere Bedeutung.
Die Präsidentschaftswahlen sind in Frankreich immer sehr wichtig. Aber man irrt, wenn man meint, vorgezogene Neuwahlen seien eine politische Antwort auf die gesellschaftliche Krise und die Regimekrise.
Erstens geht die politische Krise sehr viel tiefer. Die Fünfte Republik mit ihrer ganz auf den Staatspräsidenten zugeschnittenen Verfassung, wo der Mann an der Spitze alles entscheidet und damit die Macht der herrschenden Klasse stabilisiert, taugt für die heutigen Verhältnisse nicht mehr, sie ist selbst für diese Klasse dysfunktional geworden.
Das Problem ist, dass die französische Linke gespalten ist in einen Teil, der auf den Sitz des Premierministers schaut und vorgezogene Parlamentswahlen fordert (die PS), und einen Teil, der nur auf den Präsidentenpalast schaut und vorgezogene Präsidentschaftswahlen fordert (La France Insoumise – LFI).
Die NPA versucht, das Augenmerk auf die Tatsache zu lenken, dass der Haushalt, gegen den wir aufgestanden sind, immer noch vor uns steht, und dass wir eine Einheitsfront gegen diesen Haushalt und gemeinsame antikapitalistische Antworten auf die soziale Krise brauchen. Wir schlagen einen konstituierenden Prozess, eine konstituierende Versammlung vor, um das Regelwerk der Institutionen zu ändern und mit der Fünften Republik und ihrem Präsidialsystem Schluss zu machen. Mit diesem Vorschlag dringen wir aber noch nicht durch, weil die französische Linke sehr zersplittert ist.
Gibt es dafür eine organisatorische Basis?
Nein, aber es gibt Diskussionen. Auf dem Papier z.B. stimmt LFI der Idee einer Konstituante zu, verbindet damit aber eine andere Vorstellung. Für uns ist die Konstituante eine Versammlung, die sich selbst ermächtigt, alle institutionellen Regeln zu verändern. Für LFI ist sie eher ein zusätzliches Gremium, das sich die Macht mit dem Parlament teilt und den Staatspräsidenten im Amt lässt. Die unterschiedlichen Vorstellungen hindern uns nicht daran, die Forderung nach einer Konstituante gemeinsam vorzutragen, denn es gibt ja auch noch andere politische Kräfte auf der Linken und in den sozialen Bewegungen.
Macron hat darauf gesetzt, dass die politische Krise die soziale Bewegung stoppen und die Linke spalten würde. Bislang ist ihm das gelungen und die PS hat sich einmal mehr dazu hergegeben. In Frankreich gibt es ein Sprichwort, das sagt: Selbst wenn wir nichts von dieser Partei erwarten, schafft sie es immer noch, uns zu enttäuschen.
Und dann gibt es natürlich auf der Seite der Rechten, einschließlich Macron, solche die denken: Wenn sie selbst nicht mehr in der Lage sind, die Situation zu bereinigen, soll die extreme Rechte die Macht übernehmen, bevor es die Linke tut. Das sitzt beim französischen Bürgertum sehr tief.
Wenn wir nun allein auf den politischen Kalender schauen, bleiben wir in einer institutionellen Logik und in Entscheidungen gefangen, die die Linke spalten.
Aber die politische Lage kann sich sehr schnell ändern, weil die soziale Krise auch eine ganz neue politische Situation schaffen kann. Deshalb müssen wir auf diese Karte setzen, deshalb reicht es nicht, nur nach unmittelbaren politischen Lösungen im Rahmen der gegebenen Institutionen zu suchen.
Ist von der Bewegung Bloquons-tout etwas übrig? Ist das eine Säule, auf der man etwas aufbauen kann?
Das ist ein Fortschritt, der jetzt nach der Sommerpause gemacht wurde. Damit sind wir in eine bessere Lage gekommen. Von der Bewegung bleiben lokale Initiativen, Treffen, Vollversammlungen – also ein Minimum an Selbstorganisation, die bei der Bewegung gegen die Rentenreform 2023 so schmerzlich gefehlt hat. Sehr organisiert ist das allerdings noch nicht.
Das ist aber nicht meine Hauptsorge. Ich denke, das kann sich entwickeln in dem Maße, wie die soziale Krise zunimmt.
Meine Hauptsorge ist, dass die französische Linke nur auf die politische Krise starrt und die Gesellschaftskrise nicht wahrnimmt. Im Moment sind wir noch zu klein, um das ändern zu können, es gibt auf der Linken allerdings auch einen Erwartungsdruck in dieser Richtung.
Aus der Spaltung der Linken kann eine faschistische Rechte immer noch einen Vorteil ziehen. Derzeit sieht es nicht danach aus, aber die Gefahr ist nicht gebannt.
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