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Europa 1. November 2025

In seinem Windschatten marschieren Nazis durch die Straßen
von Alex de Jong

Am 29.Oktober finden in den Niederlanden erneut Parlamentswahlen statt. Anfang Juni verlor die Regierung von Ministerpräsident Dick Schoof ihre Mehrheit, als die rechtsextreme PVV von Geert Wilders die Koalition sprengte.

Kurz vor den Wahlen könnten die politischen Ereignisse in den Niederlanden kaum gegensätzlicher sein: Am 20.September kam es nach einer Anti-Einwanderungs-Kundgebung zu Ausschreitungen von Faschisten in Den Haag. Am 5.Oktober zogen eine viertelmillion Menschen durch die Straßen von Amsterdam, um ihre Solidarität mit Palästina zu bekunden.
In Den Haag zogen Faschisten durch die Straßen, schüchterten Menschen mit anderer Hautfarbe ein und bewarfen das Büro der sozialliberalen Partei D66 mit Steinen. Nazigrüße wurden zusammen mit der orange-weiß-blauen Flagge gezeigt, die mit der niederländischen Nazibewegung der 30er und 40er Jahre in Verbindung gebracht wird. Andere trugen Flaggen der Niederländischen Ostindien-Kompanie, um die Verbindung zwischen Faschismus und Kolonialismus zu verdeutlichen – ein Ausdruck des Selbstbewusstseins der rechtsextremen Szene, die sich durch den Aufstieg von Parteien im Parlament mit ähnlichen Ansichten ermutigt fühlt.
In Amsterdam versammelten sich Hunderttausende zur größten internationalen Solidaritätsdemonstration in der Geschichte der Niederlande. Dieser Marsch, der vielfach von Anwohnern bejubelt wurde, war auch ein Protest gegen die extreme Rechte. Selten war die Kluft zwischen der offiziellen Politik und der öffentlichen Meinung so groß. Gerade die (rechtsextremen) Parteien, die so lautstark behaupten, im Namen »des Volkes« zu sprechen, vertreten mit ihrer fanatischen Unterstützung für Israels genozidale Gewalt nur eine Minderheit.
Die Wahlumfragen im Oktober geben jedoch wenig Anlass zu Optimismus. Das Kabinett Schoof war die rechteste niederländische Regierung der Nachkriegsgeschichte und die erste, der eine rechtsextreme Partei angehörte. Dass sie nach elf Monaten auseinanderbrach, war keine Überraschung. Viele hatten erwartet, dass die Regierung noch früher stürzen würde.
Die niederländische Politik im 21.Jahrhundert erscheint außerordentlich chaotisch. Seit der Jahrhundertwende hat nur eine Regierungskoalition ihre volle vierjährige Amtszeit absolviert
Im August dieses Jahres erlebte das Land eine politische Premiere, als die konservative Partei Nieuw Sociaal Contract (NSC) das Rumpfkabinett verließ. Sie unternahm diesen beispiellosen Schritt, weil die beiden anderen Koalitionspartner, die rechtsliberale VVD und die rechtspopulistische Bauern-Bürger-Bewegung BBB, die Vorschläge des NSC für eher zahme politische Proteste gegen die Völkermordpolitik des israelischen Staates blockierten.

Abgesehen vom Chaos auf der parlamentarischen Ebene bleibt das allgemeine Muster der niederländischen Politik leider relativ stabil. Die Wilderspartei PVV bleibt stabil und die bürgerliche Rechte, insbesondere die rechtsliberale VVD, driftet weiter nach rechts. Laut Umfragen wird die PVV im Vergleich zu 2023 nur wenige Prozentpunkte verlieren und mit voraussichtlich 20 Prozent weiterhin die stärkste Partei bleiben.
Der rechtsextreme Block im niederländischen Parlament besteht nun aus fünf Parteien, von der calvinistisch-fundamentalistischen SGP über die neofaschistische FvD bis hin zur BBB, die sich rasant auf dem Weg vom selbst behaupteten Zentrum zu einer rechtsextremen Partei befindet und Notstandsgesetze zur Blockierung der Einwanderung fordert. Neu ist, dass die VVD schwere Verluste hinnehmen muss. Innerhalb der Partei gibt es Spannungen zwischen denen, die die Koalition mit der PVV fortsetzen möchten, und denen, die »Stabilität« bevorzugen.
Als das Kabinett Schoof seine Amtszeit antrat, schloss die bürgerliche Rechte eine Reihe von Vereinbarungen mit Wilders, um die Stabilität der Koalition zu sichern. Eine davon war die Abkehr von der Tradition, dass der größte Koalitionspartner auch den Ministerpräsidenten stellt. Damit wäre Wilders Ministerpräsident geworden, aber der Gedanke, dass er das Land auf internationaler Ebene vertreten sollte, war insbesondere einigen Mitgliedern des NSC unangenehm. Als Kompromiss wurde der parteilose Bürokrat Dick Schoof zum Ministerpräsidenten ernannt.
Außerdem versprach das neue Kabinett, die Rechtsstaatlichkeit zu respektieren. Auch dies war ein Versuch, die Rolle der PVV einzuschränken, die nachdrücklich die Abschaffung von Verfassungsrechten wie der Religionsfreiheit (für Muslime) und den Bruch internationaler Verträge über Flüchtlingsrechte und Migration fordert.
Wie zu erwarten, hatten solche Versuche, Wilders einzudämmen, kaum Wirkung. Für ihn bedeutete das nur, dass seine extremeren Pläne für die Zukunft weiterhin auf der Tagesordnung stehen. Da er nicht persönlich Teil des Kabinetts war, konnte er sich weiterhin als Opposition zu einer schwachen und kompromissbereiten Mainstream-Rechten inszenieren.
Wilders hat die Koalition bewusst gesprengt, indem er Forderungen stellte, von denen er wusste, dass sie unmöglich umzusetzen waren: etwa die vollständige Schließung der Grenzen für Flüchtlinge und die Ausweisung aller im Land lebenden Syrer. Trotz einiger linker Akzente im Wahlkampf 2023 hat sich seine Partei an der Regierung schnell der neoliberalen Wirtschaftspolitik ihrer Koalitionspartner angepasst. Die Abschaffung der Selbstbeteiligung in den obligatorischen Krankenversicherungen etwa, ein langjähriges Versprechen der PVV, hat sie fallen lassen, die Abschaffung der CO2-Steuer für die Industrie mitgetragen.
Doch hatte dies kaum Auswirkungen auf die Popularität von Wilders. Er beendete die Koalition im Vertrauen darauf, die Wählerschaft um die Feindseligkeit gegenüber Migranten und Flüchtlingen herum polarisieren zu können. Er weiß, dass dies der Hauptgrund für die Unterstützung seiner Partei ist.
Wilders betrachtet die Regierungsbeteiligung nicht als Selbstzweck, sondern nur als Teil seines langfristigen Projekts, die Niederlande in eine rassistische, autoritäre Gesellschaft zu verwandeln. Die extreme Rechte bestimmt, auch wenn sie nicht an der Regierung ist, zunehmend die Parameter dessen, was in diesem Land als politisch möglich gilt.

Die Linke stagniert
Durch ihre Fusion mit der grünen Partei GroenLinks, die derzeit im Gang ist, rückt die sozialdemokratische PvdA leicht nach links. An ihrer langfristigen Ausrichtung ändert sich damit nichts. Die Grundsatzabteilungen beider Parteien befürworten eine Art »grüne Sozialdemokratie«, das hat aber keinen großen Einfluss auf ihren parlamentarischen Kurs.
GroenLinks-PvdA befindet sich in einem Widerspruch. Einerseits ist ihr klar, dass sie sich, um Wählerstimmen zu gewinnen, von der rechten Mitte abgrenzen und einen eindeutig linken und ökologischen Kurs einschlagen muss. Andererseits will sie unter der Führung des ehemaligen EU-Kommissars Frans Timmermans (PvdA) nichts lieber als eine Koalition mit eben dieser rechten Mitte und kann es sich daher nicht leisten, sie zu sehr zu verärgern. Die Strategie der PvdA, gemeinsam mit der Rechten zu regieren, droht nun, GroenLinks mit in den Abgrund zu reißen.
Das könnte böse ausgehen. Wächst der Druck nach den Wahlen, »Verantwortung zu übernehmen«, könnte dies dazu führen, dass sie in ein Kabinett der Mitte eintritt und damit weiter mit einer Politik identifiziert wird, die von immer weniger Menschen unterstützt wird.
Die wichtigste Partei links von ­GroenLinks-PvdA, die Sozialistische Partei (SP), hat sich für ein »Back to Basics« entschieden. Nach Jahren des Niedergangs wird der Partei ein leichter Anstieg auf etwa 4 Prozent der Stimmen prognostiziert. Der Kurs der Partei lässt sich mit dem des BSW vergleichen. Sie äußert sich kaum zu Fragen des Rassismus und konzentriert sich auf sozialökonomische Themen.
Selbst nach den Unruhen in Den Haag war die SP die einzige linke Partei, die für mehrere Anträge der extremen Rechten stimmte, darunter einen, der die Gewalt der extremen Rechten mit der imaginären Gewalt der extremen Linken gleichsetzte, und einen, der »das Recht aller auf friedlichen Protest gegen Flüchtlingszentren« verteidigte. Während sie mit feuriger Rhetorik von der »Verteidigung der Arbeiterklasse« spricht, erklärt sie sich zugleich bereit, einer Regierungskoalition mit der Mitte-Rechts-Partei beizutreten, wobei sie insbesondere die christdemokratische CDA bevorzugt. Auf diese Weise läuft die SP, die einst als linke Oppositionspartei groß wurde, nun Gefahr, denselben Weg in die Sackgasse zu gehen.
Viele Linke in den Niederlanden werden wahrscheinlich für die Partij voor de Dieren stimmen, eine Partei, die sich von einem Einzelthema zu einer progressiven linken und ökologischen Partei entwickelt hat. Ebenfalls im Rennen ist die radikal linke, antirassistische Partei BIJ1 (»Zusammen«), aber leider ist es zweifelhaft, ob es ihr gelingen wird, wieder ins Parlament einzuziehen.
Die 250.000 Menschen in Amsterdam zeigen, dass auch in den Niederlanden eine Bewegung gegen die extreme Rechte und ihre Schrecken möglich ist. Dieses Potenzial muss organisiert und ausgebaut werden. Um das Blatt zu wenden, muss die niederländische Linke daran arbeiten, ihre eigene Macht, ihre eigenen Strukturen und Vorschläge für eine andere Gesellschaft aufzubauen. Im täglichen Kampf für sozialökonomische Interessen und gegen die extreme Rechte muss sie zusammenarbeiten und über die bevorstehenden Wahlen hinausblicken.

Der Autor ist verantwortlicher Redakteur von www.grenzeloos.org.

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