Der schwierige Weg in die politische Unabhängigkeit
von Vladimir Unkovski-Korica
Am 28.Januar stürzten anhaltende Massenproteste in Serbien die Regierung. Auslöser war der Einsturz eines Vordachs des Bahnhofs von Novi Sad am 1.November, wobei 15 Menschen getötet wurden. Der Angriff der Ordnungskräfte auf eine Trauerfeier von Studierenden und Mitarbeitern der Theaterfakultät der Universität Belgrad am 22.November setzte eine beispiellose Mobilisierung von Studierenden und Arbeitenden in Gang. Sie kulminierte in der Forderung nach Neuwahlen. Die Forderung ist bislang nicht erfüllt und sorgt für immer neue, breite Proteste, zuletzt am 2.Juni. Der nachstehende Beitrag erläutert den Hintergrund der Proteste.
Die brutale Repression der Demonstration vom 22.November öffnete die Schleusen: Fakultäten und andere höhere und technische Bildungseinrichtungen wurden besetzt. Die Studierenden forderten die Veröffentlichung aller Dokumente im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Bahnhofs von Novi Sad, die Einstellung der Anklagen gegen die verhafteten Demonstranten, die strafrechtliche Verfolgung der niederen Beamten, die die Demonstranten tätlich angegriffen hatten, und eine 20prozentige Ermäßigung der Studiengebühren.
Nach einem Monat waren drei Viertel der Hochschuleinrichtungen besetzt. Die Bewegung griff auf die Schulen der Primar- und Sekundarstufe über. Lehrer widersetzten sich den Mindestdienstvorschriften und traten gegen den Willen ihrer Gewerkschaftsvorstände in einen unbefristeten Streik. Medienschaffende, Busfahrer, Rechtsanwälte, sogar Gruppen von Bergarbeitern unterstützten die Forderungen der Studierenden. Im ganzen Land breitete sich eine Kampagne des zivilen Ungehorsams aus. Bevorzugt wurden Straßen und Autobahnen blockiert, auch Bauern schlossen sich an.
Am 22.Dezember demonstrierten 100.000 Menschen in Belgrad, es war die größte Massendemonstration seit dem Sturz von Slobodan Milosevic im Oktober 2000. Nach den Feiertagen folgten an über 231 Orten lokale Demonstrationen.
Die Bewegung gipfelte am 24.Januar in einem sog. »Generalstreik«, einem Tag der Streiks und Proteste. Er fiel mit davon getrennten, aber ebenfalls massiven Boykotts von Einzelhandelsketten nicht nur in Serbien, sondern auch in den Nachbarländern Montenegro, Kroatien, Bosnien-Hercegovina sowie Nordmazedonien zusammen.
Regierungskrise
Wenige Tage später griffen Anhänger des Regimes eine 24stündige Blockade der verkehrsreichsten Kreuzung in Belgrad an und schlugen einen Studenten in Novi Sad brutal zusammen; die Spannungen eskalierten. Die Regierung trat am nächsten Tag zurück, Staatspräsident Vucic wandte sich an die Nation und kündigte eine Begnadigung der Demonstranten und eine Regierungsumbildung bis zu den Neuwahlen an.
Vucic erklärte, die Forderung nach Transparenz sei durch die Freigabe von Tausenden von Dokumentenseiten erfüllt worden, eine Behauptung, die durch eine Studie der Fakultät für Bauingenieurwesen der Universität Belgrad widerlegt wurde. Zugleich wies er die Forderung der Opposition nach Einsetzung einer Übergangsregierung aus Experten bis zu Neuwahlen zurück.
Die Studierenden fühlten sich gestärkt, sie organisierten einen großen Marsch von Belgrad nach Novi Sad (80 Kilometer), zehntausende Demonstranten blockierten am 31.Januar die drei Donaubrücken. Entlang der Marschroute gingen Bewohner der Städte und Dörfer auf die Straße, um die Studierenden zu begrüßen, und veranstalteten Grillfeste. Taxiverbände stellten Dutzende von Fahrzeugen zur Verfügung, um die Studierenden im Anschluss von Novi Sad nach Belgrad zu bringen.
Unterstützung aus dem Ausland
Vucic seinerseits reiste durch das Land und begrüßte immer kleiner werdende Menschenmengen, die ihn zudem offen herausforderten. Nun behauptet Vucic, der Staat werde von außen und von innen bedroht. Jeder Regierungswechsel würde den Erfolg des auf ausländischen Direktinvestitionen basierenden Wirtschaftsmodells untergraben. Serbien hat im vergangenen Jahr ausländische Direktinvestitionen in Rekordhöhe von 5 Milliarden Euro angezogen, was das Land zu einem regionalen Spitzenreiter und zu einer der am schnellsten wachsenden europäischen Volkswirtschaften seit der Covid-19-Pandemie macht.
Wer könnte schon eine so erfolgreiche Regierung stürzen wollen? Die Großmächte haben sich auf die Seite von Vucic geschlagen. Der Generaldirektor der Europäischen Kommission für Erweiterung, Gert Jan Koopman, erklärte, die EU werde einen gewaltsamen Machtwechsel in Serbien weder akzeptieren noch unterstützen. Kaja Kallas, die Leiterin der EU-Außenpolitik, hat sich ähnlich geäußert.
Richard Grenell, zwischen 2019 und 2021 Sonderbeauftragter von Präsident Donald Trump für die Friedensverhandlungen in Serbien und im Kosovo, stellte fest, die USA würden »diejenigen nicht unterstützen, die die Rechtsstaatlichkeit untergraben oder die Kontrolle über Regierungsgebäude mit Gewalt übernehmen«. Moskau prangerte eine »farbige Revolution« an und Peking betonte die Fähigkeit Belgrads, Frieden und Stabilität zu wahren.
Dies ist ein Zeichen für den relativen Erfolg der internationalen Schaukelpolitik des Präsidenten. Er wirbt um chinesische Investitionen und macht Serbien zu Chinas wichtigstem Partner in der Region, gleichzeitig sagt er dem angloaustralischen Multi Rio Tinto die serbischen Lithiumvorkommen zur Versorgung der Europäischen Union zu. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben in den letzten Jahren in Belgrads Hafenviertel investiert; Jared Kushner, Trumps Schwiegersohn, versucht, auf dem Gelände des ehemaligen Armeehauptquartiers in Belgrad ein Luxushotelkomplex zu errichten – das Hauptquartier wurde 1999 von der NATO bombardiert und dient seitdem inoffiziell als Gedenkstätte.
Die Großmächte wollen in Serbien Fuß fassen, sie haben keinen Grund, Vucic zu stürzen. Allerdings haben sie im Land auch keine festen Verbündeten, nur Interessen. Angesichts der geopolitischen Turbulenzen rund um das Schwarze Meer würde ein chaotischer Regierungswechsel in Serbien niemandem nützen.
Der Aufruhr hält an
Die serbische Bevölkerung ist jedoch in Aufruhr. Trotz des starken Wachstums des serbischen Bruttoinlandsprodukts – im letzten Jahr fast 4 Prozent – hat sich der Lebensstandard verschlechtert. Die Durchschnittslöhne sind in den letzten Jahren zwar deutlich gestiegen, doch das gilt auch für die Lebenshaltungskosten, insbesondere die Energiekosten. Die Lebensmittelpreise haben sich seit 2021 fast verdoppelt. Die regionalen Lohnunterschiede nehmen zu, die hohe Arbeitslosenquote von über 8 Prozent verstetigt sich.
Es ist kein Zufall, dass Serbien zwischen 2011 und 2022 7 Prozent seiner Bevölkerung verloren hat, was auf einen Massenexodus ins Ausland zurückzuführen ist. Alle oben genannten Investitionsprojekte – mit China, Rio Tinto, der EU, den Vereinigten Arabischen Emiraten, den USA – stoßen wegen ihrer zerstörerischen Auswirkungen auf das soziale Gefüge, die Umwelt, die Stadtentwicklung und das regionale Gleichgewicht in der einen oder anderen Form auf massiven Widerstand.
Seit 2014 gibt es in Serbien immer wieder große Protestwellen, aber die Wut hat kaum einen politischen Ausdruck gefunden. Leider wird die politische Opposition nach wie vor von liberalen und konservativen nationalistischen Kräften dominiert, die kaum eine Alternative anbieten.
Deshalb liegt die Partei von Vucic in den Umfragen weiterhin vor allen Oppositionsgruppen; ihre bewährte Methode zur Überwindung der Unzufriedenheit besteht darin, die Bevölkerung an die Wahlurnen zu rufen. In den Institutionen ist ihre Macht gefestigter als auf der Straße, wo sich die Bevölkerung nicht in das enge Korsett der repräsentativen Demokratie pressen lässt.
Die Regierungspartei herrscht über die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, in den Medien, der Justiz und im Repressionsapparat, das gibt ihr Stabilität. Der öffentliche Raum ist das bevorzugte Terrain für den Protest.
Will sie Vucic loswerden, muss die Bewegung um die Macht kämpfen und ihre Unabhängigkeit von den bestehenden politischen Kräften behaupten. Ohne eine alternative Vision der Gesellschaft wird das schwierig. Teile der Bewegung unterstützen bereits die Forderung der Opposition nach einer Expertenregierung bis zu den nächsten Neuwahlen. Damit würden jedoch viele festgefahrene Interessen und die Klassenungleichheiten unangetastet bleiben – ganz zu schweigen von den Tentakeln der Großmächte in der serbischen Politik.
Massenbewegungen gab es weltweit zwischen 2010 und 2020 immer wieder, aber nur selten haben sie ihre Ziele erreicht. Einer der Hauptgründe dafür ist die Schwäche der Linken und ihrer strategischen Vision. Serbien ist keine Ausnahme, die Linke ist hier schwach und atomisiert.
Doch die Massenbewegung hat Erfolge erzielt, die es wert sind verteidigt zu werden. Durch Aktionsmethoden wie Vollversammlungen haben die Studierenden Grundlagen für die künftige Demokratisierung der akademischen Einrichtungen gelegt.
Streikende Arbeiter sehen zunehmend die Notwendigkeit, die Gewerkschaften zu demokratisieren, kompromittierte Funktionäre durch kämpferische Elemente zu ersetzen und Netzwerke von Aktivisten an der Basis aufzubauen, die unabhängig von ihren Führern handeln können. Die Bereitschaft, am Arbeitsplatz Aktionen mit politischen Zielen durchzuführen, massenhafter ziviler Ungehorsam und die wachsende Streikbereitschaft deuten darauf hin, dass sich ein rudimentäres, aber reales Klassenbewusstsein herausbildet.
4.Februar 2025
Vladimir Unkovski-Korica ist ein Mitglied von Marks21 in Serbien. Er ist Historiker und derzeit Dozent für Mittel- und Osteuropastudien an der Universität Glasgow.
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