Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Aufmacher Klasse 1. September 2025

Jetzt gegensteuern!

von Helmut Schmitt

Nur noch gut 5,5 Millionen Menschen waren Ende 2024 Mitglied in einer der acht im DGB organisierten Einzelgewerkschaften. 1990 hatte der DGB noch 11,8 Millionen Mitglieder.

Der Anteil der Beschäftigten, die Mitglied einer DGB-Gewerkschaft sind, lag Ende 2024 bei knapp 10 Prozent. Diese Entwicklung ist für die Gewerkschaften fatal, denn wo es keine oder zu wenige Mitglieder gibt, sind Durchsetzungsfähigkeit und Streikfähigkeit gefährdet oder gar nicht (mehr) vorhanden.

Der seit Jahren in den meisten Einzelgewerkschaften anhaltende Mitgliederrückgang hat allerdings bislang nicht dazu geführt, die eigentlichen Ursachen dieser gefährlichen Entwicklung zu analysieren und die erforderlichen Schlüsse daraus zu ziehen.

Natürlich gibt es für die Schwächung der Gewerkschaften auch „objektive“ Gründe wie z.B. Betriebsschließungen, Verlagerungen ins Ausland, eine hohe verfestigte Arbeitslosigkeit, das Abdrängen von Menschen in Hartz-IV/Bürgergeld, die Zunahme prekärer Beschäftigung mit der damit verbundenen Spaltung der Belegschaften und die durch den Rechtsruck verursachte Gewerkschaftsfeindlichkeit.

Aber die zentrale Ursache für die Mitgliederrückgänge ist das fehlende Bewusstsein der abhängig Beschäftigten. Ohne das solidarische Selbstverständnis als soziale Klasse ist es nicht möglich, spürbare Verbesserungen für sich selbst und die Gesellschaft zu erreichen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden sich die Gewerkschaften als Kampforganisationen, die für die Durchsetzung der Mitgliederinteressen regelmäßig streikten. Dies hatte nicht nur eine hohe Kampfbereitschaft zur Folge, sondern hatte sich auch in hohen Mitgliederzahlen niedergeschlagen.

„Sozialpartnerschaft“ schwächt Gewerkschaften

Der mittlerweile von fast allen Gewerkschaften praktizierte, Erzwingungsstreiks vermeidende „sozialpartnerschaftliche“ Kurs gegenüber den Kapitaleignern führt zwangsläufig zu mehr oder weniger faulen Kompromissen und zur Entpolitisierung der Beschäftigten. Diese werden daran gehindert, wichtige Kampferfahrungen zu machen und den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital zu erkennen.

Es braucht aber die Kampferfahrung der Kolleg:innen, um das Vertrauen der Belegschaften in die eigene Kraft, aber auch das Vertrauen in ihre gewerkschaftliche Organisation selbst zu entwickeln.

Das in vielen Betrieben praktizierte Co-Management durch gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte hat in Verbindung mit einer „sozialpartnerschaftlichen“ Tarifpolitik zunehmend negativere Folgen. Unter anderem sind die realen Tariflöhne inzwischen auf das Niveau von 2016 zurückgefallen. Das hat auf breiter Front Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Gewerkschaften zerstört.

Gegenmacht stärkt Gewerkschaften

Vor diesem Hintergrund ist die Änderung der politischen Ausrichtung der Gewerkschaften hin zu Kampforganisationen zur Durchsetzung der Beschäftigteninteressen unabdingbar. Sie würde die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen fördern, sich für die eigenen Anliegen in den Gewerkschaften zu engagieren.

Dazu müssen die Kolleg:innen, insbesondere die Vertrauensleute, stärker in demokratische Entscheidungsabläufe eingebunden und informiert werden. Ohne eine entwickelte Vertrauensleutearbeit, die auch gesamtgesellschaftliche Themen einbezieht, kann es keine gute Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit geben.

Das Streikrecht ist in Deutschland massiv eingeschränkt. Umso mehr sind Gewerkschaften verpflichtet, es zu stärken. Die Verteidigung der Tagesinteressen muss deshalb in eine gesamtgesellschaftliche Perspektive der kämpferischen Gegenmacht eingebettet werden.

Die Gewerkschaften sollten offensiver als bisher die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen suchen, die für sozialen Wohnungsbau und bezahlbare Mieten (einschließlich der Enteignung privater Immobilienkonzerne), für Klima- und Umweltschutz eintreten, die Solidarität mit Geflüchteten einfordern und der AfD und Neonazis entschlossen entgegentreten.

Insbesondere die Friedensbewegung bedarf in Zeiten der Militarisierung der Gesellschaft und der propagierten „Kriegstüchtigkeit“ dringend der aktiven Unterstützung der Gewerkschaften.

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