Ausbeutung und Selbstausbeutung
von Marina Hoffmann
Ich sitze an einem Sonntagabend zu Hause an meinem Rechner, lese Artikel, gucke Videos und schreibe diesen Text. Morgen ist Abgabe, gestern war die Feier zu meinem 25.Geburtstag, morgen fängt mein Studium an, für das ich immer noch nicht alle Kurse zusammengestellt habe. Ich werde diese Nacht arbeiten, so lange bis ich fertig bin; so lange, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden bin. Das ist Crunch. Nicht richtig essen, nicht richtig schlafen, weil etwas dringend fertig werden muss, das mir wichtig ist.
Crunch ist englisch und bedeutet zermahlen oder knirschen. In der Arbeitswelt bezeichnet dieser Begriff eine gängige Praxis.
Sie mögen der Meinung sein, dass ich diesen Artikel schreiben muss, weil ich mich immerhin dazu verpflichtet habe. Sie mögen denken, dass ich meine Prioritäten ändern muss, weil ich dann nicht in dieser Lage wäre. Fakt ist jedoch, dass die meisten von uns Crunch kennen. Sei es wegen eines anstehenden Vokabeltests, einer Hausarbeit, eines Meetings, das vorbereitet oder eines Videospiels, das fertiggestellt werden muss.
Crunch ist in der heutigen Arbeitswelt normal und hat immer mit Fristen und Erwartungen zu tun. Gründe gibt es viele. Manche, so wie ich, können nur unter erhöhtem Zeitdruck arbeiten.
Wenn Crunch allerdings gefordert wird, unbezahlte Überstunden zur Regel werden und die Arbeitswoche nicht am Freitag und häufig auch nicht am Samstag endet, nennt sich das Crunch Culture.
Crunch Culture
Ein Problem der Crunch Culture ist sicherlich, dass Geldgeber:innen Projekte im vorhinein finanzieren und Profite erwarten. Wird also ein Film oder ein Spiel in Auftrag gegeben, muss es funktionieren, sobald es angekündigt wird. Egal, was während der Entwicklung passiert – und je größer das Team, desto wahrscheinlicher kommt es zu Fehlern. Das erhöht den Druck auf die Menschen, die solche Projekte realisieren. Meistens sind das Menschen, denen nicht das Geld, sondern das Ergebnis und die Kunst wichtig sind.
Besonders in kreativen und künstlerischen Bereichen kommt es immer wieder zu Crunch, ob bei Filmdrehs, Werbekampagnen oder bei der Entwicklung von Videospielen. Die Erwartungen der Investor:innen und häufig auch der Kreativen selbst richten sich nicht nach dem bezahlten Geld oder der vorgegebenen Zeit.
Aber auch die Konsumierenden haben eine hohe Erwartung an die Produkte, mit denen sie ihre Zeit verbringen wollen. Schon in der Ausbildung kommt es für viele Menschen, die ihr Studium oft selbst finanzieren müssen und gleichzeitig zufriedenstellende Arbeiten abgeben wollen, zu Crunch. Treten sie in die Industrie ein, werden Crunchzeiten vorausgesetzt.
Da viele Betroffene selbst Fans von den Produkten sind, an denen sie arbeiten, akzeptieren sie Crunch als Teil der Arbeit – alleine schon, um auf dem Markt eine Chance zu haben und die Karriereleiter weiter nach oben steigen zu können. Gerade bei der Entwicklung von Videospielen sind lange und harte Crunchepisoden die Regel. Betroffene berichten von Sieben-Tage-Wochen mit bis zu hundert Stunden Arbeitszeit über Monate hinweg. In der Branche, die größer ist als die Film- und Musikindustrie zusammen, wird so etwas erwartet. Stellen sich Betroffene dagegen, kommen sie nicht den Erwartungen entgegen oder sprechen sie öffentlich über die Probleme, drohen Kündigungen, Mobbing oder Missbrauch.
Fester Bestandteil der Gamingindustrie
Videospiele im Speziellen verbinden unterschiedliche Kunstformen und werden damit zum komplexesten Medium, das es gibt. Ein Spiel muss visuell beeindrucken, durch Musik emotionalisieren, narrativ funktionieren und spannende Handlungsmöglichkeiten bieten. Videospiele bieten Fluchtpunkte, Unterhaltung oder Ablenkung über zig Stunden. Die Menschen dahinter leiden meistens unter schlechten Arbeitsbedingungen und einer Kultur, die sie zur Selbstausbeutung anhält.
Denn Crunch ist ein fester Bestandteil der Gamingindustrie und wird oft erwartet, ohne explizit in den Arbeitsverträgen genannt zu werden. Gerade junge Entwickler:innen und Praktikant:innen mit Liebe zum Medium werden verwendet, um Videospiele zu realisieren. Da sie jung sind, Energie, aber wenig Erfahrung haben, werden sie ausgenutzt mit dem Versprechen auf eine Zukunft, in der alles anders ist.
Egal ob ein Spiel nach Jahren der Entwicklung fertig gestellt werden muss, weil die Fangemeinde darauf wartet, oder sich kleine Indie(pendent)-Studios selbst erhalten müssen: Selbstausbeutung ist alltäglich. 40 Prozent der Entwickler:innen von Videospielen haben Crunch bereits selbst durchlebt. Wer dem Druck nicht standhält, ist ersetzbar.
So werden große Spiele von kreativen Kernteams entwickelt, während der Großteil der lästigen, repetitiven Arbeit von Menschen realisiert wird, die ihre Überstunden nicht bezahlt bekommen.
Neben vielen Artikeln über einzelne Fälle oder das Problem als Ganzes bespricht der ARD-Dokumentarfilm Crunch – Traum und Albtraum in der Gaming-Industrie dieses Thema. Dabei behandelt er vor allem die Verfehlung von Ubisoft, einem der AAA-Videospiel-Konzerne mit zirka 19.000 Beschäftigten, der unter anderem Assassin’s Creed, Far Cry oder Just Dance herausgibt. In der Doku berichten Betroffene von Chefs, die ihre Wut über verfehlte Fristen nicht unter Kontrolle hatten, nach Gegenständen traten, mit Messern herumspielten und sogar eine Peitsche neben den Arbeitenden knallen ließen. Außerdem von sexuellen Übergriffen, die in der männlich geprägten Branche regelmäßig vorkommen. Die Strukturen und Arbeitsbedingungen begünstigen sexuelle Übergriffe, Frauen bei Ubisoft berichten von Drogen und Machtmissbrauch. Es wirkt karikaturistisch, ist aber laut einem der Zeugen aus der Doku kein Einzelfall, sondern etwas Systemisches.
Überproduktion
In den 80ern und 90ern, als die Videospielindustrie langsam an Fahrt aufnahm, brauchten Entwicklerfirmen wie IT-Software lediglich vier Monate, um ein Spiel wie Wolfenstein fertigzustellen. Solche Erfolgsgeschichten, wie auch die von Stardew Valley, das von einem einzigen Entwickler programmiert wurde und große Erfolge feierte, entsprechen zwar der Wahrheit, bleiben aber absolute Ausnahmen. Die Entwicklung von Videospielen braucht heutzutage Jahre, um den Erwartungen gerecht zu werden. Heutige Indie-Teams kämpfen oft ums Überleben und kommen deshalb nicht um Crunch herum.
Während Videospiele früher selten waren und jeder neue Meilenstein mit großem Interesse von der Community aufgenommen wurde, ist der Markt heute voller Spiele mit unschätzbaren Qualitäten. Die Investor:innen fordern Garantien und Erfolge.
Seit Anfang 2023 wurden über 23.000 Stellen in der Industrie gekündigt, weil die Zahl der Nutzer:innen während der Pandemie stieg und danach wieder abflachte.
Selbst auferlegter Crunch mag im heutigen Kapitalismus selbst in der Schulzeit schon zur Normalität gehören. Wenn die Crunch Culture allerdings zur Regel wird, leiden die Arbeiter:innen, die ihren Träumen nachgehen. Für sie gibt es keine Pausen, da selbst der Abschluss eines Projekts nur in das nächste führt, um den eigenen Arbeitsplatz zu erhalten.
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