Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 08/2024

von Qassam Muadd

Nicht die Hamas blockiert einen Waffenstillstand in Gaza, sondern Israel. Netanjahu hat die Verhandlungen systematisch auf Schritt und Tritt sabotiert, und seine aktuellen Forderungen nach militärischer Kontrolle über den Gazastreifen stellen sicher, dass sie scheitern werden. Seit Anfang der Woche sind zwei Meldungen über die jüngsten Waffenstillstandsverhandlungen aufgetaucht, die einander zu widersprechen scheinen.

Eine davon hat in der internationalen Presse große Aufmerksamkeit erregt: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe das Waffenstillstandsabkommen der USA akzeptiert und Außenminister Antony Blinken habe erklärt, der Ball liege nun bei der Hamas.

Das zweite Thema wurde nur in den israelischen Medien aufgegriffen: Netanjahu sagte einer Gruppe von Familien israelischer Gefangener in Gaza, er sei sich nicht sicher, dass ein Waffenstillstandsabkommen zustande kommen wird, weil Israel sich nicht aus den Korridoren Netzarim und Philadelphi im Gazastreifen zurückziehen wird, "unter keinen Umständen".

Während im ersten Fall der Hamas die Schuld für den fehlenden Waffenstillstand in die Schuhe geschoben werden soll, beweist der zweite Fall, dass es in Wirklichkeit Israel ist, das auf der Fortsetzung seines völkermörderischen Angriffs auf den Gazastreifen besteht.

Netanjahus Beharren auf der Kontrolle von Netzarim und Philadelphi – das selbst nach Aussagen eines US-Regierungsbeamten eine "maximalistische" Forderung ist, die nicht dazu beitrage, "ein Waffenstillstandsabkommen in trockene Tücher zu bringen“ – ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass Israel gar nicht an einem Waffenstillstand interessiert ist.

Wie Netanjahu die Verhandlungen immer wieder sabotiert
Die jüngste Gesprächsrunde begann, nachdem die USA, Ägypten und Katar zur Wiederaufnahme der Verhandlungen aufgerufen hatten. Die drei Regierungen beeilten sich, die Waffenstillstandsbemühungen wiederzubeleben, nachdem der Iran und die Hisbollah erklärt hatten, einen Vergeltungsschlag gegen Israel wegen der Ermordung des obersten militärischen Befehlshabers der Hisbollah, Fouad Shukr, im südlichen Beiruter Stadtteil Dahiya, und des Hamas-Politbürochefs Ismail Haniyeh in Teheran zu führen. Beide Morde haben die Spannungen verschärft und die Möglichkeit eines regionalen Krieges in greifbare Nähe gerückt.

In einer Erklärung vom Dienstag erklärte die Hamas, die Behauptung der USA, sie lehne das Abkommen ab, sei "irreführend"; sie beschuldigte die USA, Netanjahus Wunsch nach einer Verlängerung des Krieges nachzukommen. Die Organisation sagte auch, "die Vermittler wissen, dass die Hamas bei allen Verhandlungsrunden verantwortungsbewusst reagiert hat", sie habe auch Bidens Vorschlag zur Beendigung des Krieges im Mai auf der Grundlage der Resolution des UN-Sicherheitsratess akzeptiert.
Die jüngste Gesprächsrunde drehte sich um einen neuen US-Vorschlag, dessen Einzelheiten nicht vollständig bekannt gegeben wurden. Laut einer Erklärung von Netanjahu vom 20.8. berücksichtigt der Vorschlag jedoch "Israels Sicherheitsbedürfnisse".

Der von Biden im Mai vorgelegte Vorschlag sah drei Phasen vor, beginnend mit einer 42tägigen Einstellung der Feindseligkeiten, in der ein erster Gefangenenaustausch stattfinden sollte. Der ursprüngliche Vorschlag sah einen vollständigen israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen vor. Damals behaupteten die USA, der Vorschlag sei Washington ursprünglich von Israel unterbreitet worden, obwohl Netanjahu in einem Fernsehinterview öffentlich erklärte, er sei noch nicht bereit, den Krieg zu beenden.

Am 10. Juli veröffentlichte die israelische Tageszeitung Haaretz einen Bericht, der zeigt, wie Netanjahu einen Waffenstillstand schon frühzeitig sabotierte. So ließ Netanjahu bei einer Verhandlungsrunde im April über seinen Finanzminister Bezalel Smotrich sensible Informationen aus den Gesprächen über die Zahl der freizulassenden palästinensischen Gefangenen an die Medien durchsickern. Dies schadete den Verhandlungsbemühungen. Ende April rief Netanjahu das Verhandlungsteam zurück und befahl ihm, ohne Wissen oder Zustimmung seines Kriegskabinetts von bereits getroffenen Vereinbarungen abzurücken.

Dann, im Mai, als Israels Militär- und Geheimdienstchefs eine positive Antwort der Hamas auf Bidens Vorschlag erwarteten, kündigte Netanjahu an, dass er Rafah angreifen und einer Beendigung des Krieges im Rahmen eines künftigen Abkommens niemals zustimmen würde. Anfang Juni marschierte Israel in Rafah ein, und die Chancen auf eine Einigung schwanden erneut.

Die Hamas gab Anfang Juli bekannt, dass sie Bidens Vorschlag akzeptiere, da dieser den vollständigen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen, die Rückkehr der vertriebenen Palästinenser in den nördlichen Gazastreifen und den Beginn der Wiederaufbaumaßnahmen nach Abschluss des Gefangenenaustauschs vorsah. Die einzige Änderung, die die Hamas an der US-Vereinbarung vornahm, bestand in Garantien, dass Israel den Krieg nach Abschluss des Gefangenenaustauschs nicht wieder aufnimmt, dass der israelische Rückzug dauerhaft ist und die Wiederaufbaumaßnahmen vor dem Ende der letzten Phase des Waffenstillstands beginnen.

Das war eine Katastrophe für Israel. Die Hamas hatte im wesentlichen ein Abkommen akzeptiert, das von Präsident Biden selbst vorgeschlagen worden war. Damit war der Ball wieder bei Israel und Netanjahu in die Ecke gedrängt. Netanjahus Lage wurde noch dadurch verschlimmert, dass Biden das vorgeschlagene Abkommen als eine israelische Initiative dargestellt hatte.
Netanjahus Ausweg war die Behauptung, die Hamas habe die Bedingungen des Abkommens geändert, und er bestand darauf, dass es keinen israelischen Konsens zur Beendigung des Krieges gab. Und so zog sich der Krieg in die Länge.

Zielverschiebung in Bezug auf den Gazastreifen
Mitte Juli riefen ägyptische und katarische Vermittler Israel und die Hamas zurück an den Verhandlungstisch. Netanjahu schickte eine kleinere Delegation mit begrenzten Befugnissen nach Kairo. Das israelische Team kehrte Stunden später nach einem Streit mit Netanjahu nach Tel Aviv zurück, bei dem es um das ging, was für den israelischen Premierminister bei den Verhandlungen immer mehr in den Mittelpunkt rückte: die Zukunft der Korridore Netzarim und Philadelphi.

Warum die Konzentration auf diese beiden Gebiete? Die Antwort liegt in ihrer strategischen Lage und Israels Vision für die Zukunft des Gazastreifens.

Der Netzarim-Korridor ist ein vier Kilometer breiter Landstreifen im Zentrum des Gazastreifens, den die israelische Armee von den Bewohnern geräumt hat und als militärische Zone zur Stationierung und Verlegung ihrer Truppen nutzt. Vor allem aber erstreckt sich Netzarim vom östlichen Rand des Gazastreifens nach Westen, wodurch die Küstenenklave in zwei Hälften geteilt und somit der nördliche Gazastreifen vom Süden abgeschnitten wird. Der Philadelphi-Korridor spielt eine andere strategische Rolle. Es handelt sich um einen zwei Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zu Ägypten, durch den die Hamas nach israelischen Angaben Waffen schmuggelt.

Netanjahus Äußerung, er halte an diesen beiden Korridoren fest, erfolgte, nachdem Blinken sich von Israel aus nach Ägypten aufgemacht hatte, wo er sich mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi traf. Ägyptens Position war klar: Israel muss sich aus dem Philadelphi-Korridor zurückziehen. In einer Erklärung der ägyptischen Präsidentschaft hieß es, Sisi habe Blinken zu verstehen gegeben, es sei an der Zeit, einen Waffenstillstand zu vereinbaren und anschließend einen palästinensischen Staat als Teil einer Zweistaatenlösung international anzuerkennen.

Netanjahu behauptet, der Philadelphi-Korridor entlang der ägyptischen Grenze sei von "strategischer Bedeutung" und notwendig, damit Israel die Garantie habe, dass in Zukunft keine Waffen nach Gaza mehr geschmuggelt werden. Doch selbst innerhalb des israelischen Militärs herrscht Uneinigkeit darüber, wie wichtig die Beibehaltung der Korridore Netzarim und Philadelphi ist.

Der Generalstabschef der israelischen Armee, Herzi Halevi, wurde Mitte Juli vom israelischen Rundfunk mit den Worten zitiert, Israel könne mit dem Philadelphi-Korridor umgehen, ohne dort Truppen zu unterhalten. Israels Kriegsminister, Yoav Gallant, sagte ebenfalls im Juli, Israel könne sich unter bestimmten Bedingungen aus dem Gebiet zurückziehen, wenn nämlich Überwachungstechnologie installiert würde, um den Waffenschmuggel zu verhindern.

Nach Ansicht israelischer Beobachter scheint Netanjahus harte Haltung jedoch wenig mit Sicherheitsgründen zu tun zu haben. Ungenannte israelische Quellen berichteten dem öffentlich-rechtlichen israelischen Rundfunk, dass die Befugnisse, die Netanjahu den Verhandlungsführern einräumte, so begrenzt waren, dass diese ständig den Sitzungssaal verlassen mussten, um sich bei Netanjahu zu melden und seine Anweisungen entgegenzunehmen. Die israelische Tageszeitung Haaretz schrieb in ihrem Leitartikel am 20.8., es sei schwer, Netanjahu zu glauben, da er in der Vergangenheit ähnliche Erklärungen zu Gunsten eines Abkommens abgegeben habe, "während er in Wirklichkeit daran arbeitete, die Vorschläge zu torpedieren".

Diese Kritik spiegelt die Aussage der Mutter eines der israelischen Gefangenen in Gaza wider, die vor einer unabhängigen zivilen Untersuchungskommission aussagte, der Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes, Mossad, habe ihr gesagt, es sei unmöglich, unter der derzeitigen israelischen Regierung eine Einigung zu erzielen. Das Büro von Netanjahu gab eine Erklärung ab, in der es bestritt, dass der Mossad-Chef diese Äußerungen gemacht habe.

Israelische Medien zitierten auch ungenannte israelische Unterhändler, Netanjahu habe mit seinen Äußerungen, sich nicht aus Philadelphi und Netzarim zurückzuziehen, "die Gespräche zum Scheitern bringen" wollen, und er müsse aufhören, die Chancen auf eine Einigung zu schmälern.

Zum Abschluss seines Aufenthalts in Israel sagte Blinken, Netanjahu habe ihm versichert, dass Israel den jüngsten US-Waffenstillstandsvorschlag akzeptiere, und betonte, es liege an der Hamas, ihn zu akzeptieren, um mit der Diskussion über die Einzelheiten der Umsetzung fortfahren zu können. Doch wie die obige Zeitleiste der Ereignisse zeigt, hat Israel die Waffenstillstandsgespräche während des gesamten Völkermords in Gaza immer wieder untergraben, und Netanyahus Bedingungen zu Philadelphi und Netzarim sind nur der neueste Trick.

Das ist genau das, was Netanjahu will: Nominell hat er den US-Vorschlag akzeptiert und damit der Hamas den Ball zugespielt, aber später hat er seine Forderungen verdoppelt, die es der Hamas unmöglich machen, zuzustimmen. Das Ergebnis ist, dass es so aussieht, als sei die Hamas verantwortlich für das Scheitern der Gespräche, und die Regierung Biden-Harris spielt da gerne mit. In der Zwischenzeit geht der israelische Völkermord in Gaza weiter.

  1. August 2024

Quelle: https://mondoweiss.net/2024/08/netanyahus-latest-strategy-to-avoid-a-ceasefire-explained/%23comments

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