Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2015

Wolfgang Gehrcke, Köln: PapyRossa, 2015. 177 S., 12,90 Euro
von Anton Holberg

Wolfgang Gehrcke, MdB DIE LINKE, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Mitglied des Vorstands der Linkspartei, hat ein hervorragendes Buch geschrieben und dennoch ist es eine Qual, es zu lesen. Der Grund ist einfach: Bei der flächendeckenden Antisemitismus-Kampagne handelt es sich um ein unappetitliches Gebräu, in dem sich seitens der Giftmischer in individuell unterschiedlichem Maße Unwissenheit und/oder schiere intellektuelle Minderbemitteltheit mit dem Willen zur Volksverhetzung paart. Damit könnte man relativ problemlos leben, wenn das Gemisch nicht deshalb gefährlich wäre, weil es auf in der Bevölkerung gegenwärtig zwar kaum mehrheitliche, aber doch relativ weit verbreitete, stereotype Vorstellungen über «die» Juden trifft.
Diese Vorstellungen können umso unkontrollierter wuchern und bei Bedarf aktualisiert und instrumentalisiert werden, als sie von philosemitischen Kampagnen in den Untergrund gedrängt und damit jeder rationalen Diskussion entzogen werden sollen. Das gilt insbesondere dann, wenn der notwendige Kampf gegen den Antisemitismus instrumentalisiert wird, um den in Gestalt Israels real existierenden Zionismus jeder systematischen und ernsthaften Kritik zu entziehen, obwohl die mit der Schaffung dieses Staates notwendigerweise von Anfang an verbundenen Menschenrechtsverletzungen immer unübersehbarer werden. Dass die offizielle Linie der Linkspartei hier defizitär ist, sei am Rande angemerkt.
Gehrke widmet sich ausführlich allen relevanten Aspekten des Problems und zitiert eine Vielzahl von Dokumenten, etwa den «Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus»*, dessen Autoren ungeachtet der vergifteten Atmosphäre, die auch auf Kräfte im Bundestag zurückgeht, nicht umhin konnten festzustellen, dass links orientierte Bürger vergleichsweise am wenigsten zum Antisemitismus neigen.
In diesem Zusammenhang sei allerdings darauf hingewiesen, dass Wolfgang Gehrke sich glücklicherweise auch der Tatsache widmet, dass durchaus auch Linke antisemitische, oder korrekter: antijüdische, Vorurteile haben können. Das ist kaum anders zu erwarten, denn auch Linke leben in einer Klassengesellschaft und sind in dieser sozialisiert. Klassengesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Schwachen von den Starken unterdrückt und ausgebeutet werden. Rassismus und jede Art von Feindseligkeit gegenüber gleichfalls unterdrückten sozialen Gruppen ist eine übliche Reaktion von Unterdrückten, soweit sie kein politisches Klassenbewusstsein entwickelt haben. Sie wird von den Herrschenden nicht unbedingt geteilt, aber doch im Interesse der Wahrung ihrer Herrschaft instrumentalisiert. Ein «linkes» und zumal marxistisches Bewusstsein ist aber das beste Instrumentarium, um sich gegen das Abrutschen in – tendenziell immer auch rassistisches – widersprüchlich zusammengesetztes Alltagsbewusstsein zu wappnen.

* Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7700, 10.11.2011.

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