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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2017

Berliner Tagung erinnert an den ostdeutschen Widerstand gegen die Abwicklung der ostdeutschen Industrie
von Bernd Gehrke

Am 20.Juni 1992 fand in Ostberlin die 1.Konferenz Ostdeutscher und Berliner Betriebs- und Personalräte statt. 140 Betriebs- und Personalräte aus 70 Betrieben, die 107000 Beschäftigte vertraten, unternahmen damals den selbstorganisierten Versuch zu einem branchen- und regionenübergreifenden Widerstand von Belegschaften in Ostdeutschland gegen die Treuhandanstalt und deren Politik der Deindustrialisierung mittels Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft. Der fehlende Wille der Spitzen von DGB und Einzelgewerkschaften, der großflächigen Plattmache der ostdeutschen Industrie auf gleicher Ebene durch eine ebenso breitflächige Mobilisierung von Widerstand und Streiks entgegenzutreten, hatte die Betriebs- und Personalräte zusammengeführt.

Die zahlreichen Widerstandsaktionen einzelner Betriebe, lokaler und regionaler Gewerkschaftsgliederungen mit Belegschaften und Betriebsräten vor Ort, konnten nichts daran ändern, dass sich die Gewerkschaftsspitzen auf die Tarifpolitik und die soziale Abfederung der Massenentlassungen beschränkten. Doch es war an der Zeit, die vielen Einzelfeuer des Widerstands zum Flächenbrand zu machen, wie ein Betriebsrat auf der Konferenz sagte.

Die damals gegründete Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute wollte mit branchenübergreifenden Aktionen öffentlichen Druck machen und Treuhandanstalt und Kohl-Regierung zu einer Kursänderung bewegen. Ebenso wollte sie die DGB-Gewerkschaften zu gemeinsamen Aktionen und zu einer Kursänderung bewegen. Zugleich bildete diese Initiative die Spitze einer viel breiteren, politisch agierenden sozialen Protestbewegung von Belegschaften wie regionalen Gewerkschaften in Ostdeutschland.

Doch sind diese Proteste heute weitgehend vergessen. Gerade junge Aktive in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen wissen davon nichts.

 

Größte Streikwelle seit der Novemberrevolution

Dabei sahen die Jahre zwischen 1990 und 1994 die wahrscheinlich größte Welle betrieblich und regional-gewerkschaftlich selbstorganisierter sozialer Widerstands- und Protestaktionen seit der Novemberrevolution. Mindestens 150 «wilde» Streiks 1991, mindestens 200 solcher Streiks jeweils in den Jahren 1992 und 1993, die stets mit anderen Protestaktionen kombiniert waren, kennzeichneten diese Jahre. Zudem waren die Widerstandsaktionen häufig sehr radikal. Dennoch sind zahlreiche Betriebsbesetzungen wie die Besetzung des Rügendamms oder des Dresdner Flughafens nicht in die Geschichtserzählung der Linken eingegangen.

Diese Kämpfe gerade jungen Aktivisten bekannt zu machen, war der Zweck der am 23./24.Juni in Berlin vom AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West organisierten Tagung unter dem Titel «Ostwind – Soziale Kämpfe in Ostdeutschland 1990–1994». In vier Themenblöcken wurde der Versuch unternommen, durch Vorträge und Zeitzeugen einerseits die damaligen Kämpfe vorzustellen, andererseits einen Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Ein erster Themenblock behandelte Ausmaß und Formen des sozialen Widerstands in diesen Jahren. Danach wurde nach Leistungen und Grenzen der Initiative gefragt. Anschließend wurden Situation, Rolle und Grenzen der DGB-Gewerkschaften behandelt. Eine Abschlussrunde schlug den Bogen von den damaligen Kämpfen in die Gegenwart.

 

Neues Interesse

Die Veranstaltung hat durch die Einbeziehung ehemaliger Kontrahenten der in Unfrieden verschiedenen BR-Initiative gewonnen. In einer solidarischen Diskussion kamen die Differenzen deutlich zum Ausdruck, ohne in das Waschen schmutziger Wäsche abzugleiten. Insgesamt blieb die Tagung geprägt von den damaligen Herausforderungen für Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften.

Da unter den etwa 80 Teilnehmenden ein großer Teil damals unbeteiligt war, war die Tagung für diese gleichsam die Entdeckung einer unbekannten Welt. Das sehr interessierte Publikum war heterogen, gemischt aus Ost und West. Es reichte von betrieblichen und Mieteraktivisten, über Gewerkschaftshauptamtliche bis zu Künstlerinnen und Wissenschaftlern.

Ein besonderer Aspekt der Tagung betraf die Sicherung, Archivierung und Aufarbeitung der Dokumente dieser Kämpfe. Der AK Geschichte hatte auf der Tagung selber eine umfangreiche Dokumentation der Initiative vorgelegt, sie soll Auftakt für weitere Dokumentationen des ostdeutschen Widerstands gegen die Kohl- und Treuhand-Politik bilden.

 

Ab dem 10.Juli werden diese Dokumente auf der Homepage des AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West veröffentlicht, https://geschichtevonuntenostwest.wordpress.com. Was ist eigentlich mit einer Dokumentation der westdeutschen Arbeitskämpfe?

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