›Zeitenwende‹ 2.0 bei Alstom
von Heinrich Neuhaus
Am 30.September 2024 veröffentlichte Alstom, führender Anbieter von Bahntechnik, eine Pressemitteilung, die zunächst nur versteckt Unheil ankündigte: »Alstom, Weltmarktführer für intelligente und nachhaltige Mobilität, unternimmt dreieinhalb Jahre nach der Übernahme von Bombardier Transportation einen wichtigen Schritt zur Stärkung der regionalen Aufstellung in Europa.«
Gleichzeitig gab der Konzern aber die Ernennung eines ehemaligen Siemens-Managers mit »umfangreiche[r] Umstrukturierungserfahrung« zum Präsidenten der neuen Region DACH und Nordics (D, A, CH und Skandinavien) bekannt. Anfang Oktober ließ das Management die Katze dann vollends aus dem Sack: Alstom will sich in Deutschland künftig vor allem auf Dienstleistungen und Digitalisierung sowie auf den Innenausbau von Zügen beschränken.
Ein Kahlschlagprogramm
Eckpunkte des als neuer »Deutschland-Footprint« bezeichneten Kahlschlagprogramms sind unter anderem die Schließung des Zugneubaus in Berlin-Hennigsdorf, die Verlagerung des dortigen Bereichs für Antriebstechnik nach Indien sowie die Umwandlung des Werks in einen Service- und IT-Standort. Dafür sollen die Service-Aktivitäten von Kassel nach Hennigsdorf transferiert werden. Für Alstom Siegen ist ? wie übrigens für den gesamten Angestelltenbereich in der BRD ? ein noch nicht bezifferter Personalabbau geplant.
Besonders bitter ist die für Ende März 2026 vorgesehene Schließung der traditionsreichen Fabrik für Waggonbau in Görlitz aufgrund der Verlagerung der dortigen Produktion nach Osteuropa. Alstom lässt dazu verlauten, dass jetzt schon »fortgeschrittene vertrauliche Gespräche mit einem industriellen Partner über ein mögliches Engagement am Standort« geführt werden. Offenbar interessiert sich der deutsch-französische Kriegswaffenhersteller KNDS für das Görlitzer Alstom-Werk und will dort in Zukunft Panzer bauen.
Aber auch Alstom Mannheim ist massiv von den Abbauplänen der Konzernleitung betroffen. So soll das dortige Reparaturgeschäft nach Hennigsdorf verlagert werden, die Produktion von Neubauprototypen ins baskische Trápaga, die Neubauprojektentwicklung und Prototypenfertigung für »Green Traction« (Batterie- statt Dieselmotorenantriebe) ins französische Tarbes, der Digitalbereich D&IS sowie die entsprechenden Reparatur- und Wartungstätigkeiten ebenfalls nach Hennigsdorf. Das im Konzern einzigartige Mannheimer Traktionstestlabor ist massiv gefährdet.
Nach derzeitigem Stand will Alstom in Mannheim mindestens 140 Arbeitsplätze abbauen. Zudem steht der Verkauf des gesamten Werksgeländes auf der Agenda. Die restliche Belegschaft soll in ein noch zu erwerbendes Bürogebäude umgesiedelt werden ? möglicherweise außerhalb des Geltungsbereichs der Tarifverträge der IG Metall Baden-Württemberg.
Kesseltreiben?
Um zu verstehen, mit welchen Herausforderungen die Beschäftigten, ihre Betriebsräte und die IG Metall jetzt konfrontiert sind, müssen wir einen Blick zurückwerfen.
Die ursprüngliche Alsthom und spätere Alstom entwickelte sich bis zur Jahrhundertwende zu einem global agierenden Konzern in den Bereichen Kraftwerke (Power), Stromübertragung (Grid) und Schienenverkehrstechnik (Transport) mit rund 96.000 Beschäftigten und 20,3 Milliarden Euro Umsatz (Geschäftsjahr 2013/2014).
Im zweiten Halbjahr 2013 begannen auf Betreiben des Hauptaktionärs Bouygues (29,4 Prozent Anteile) die Vorbereitungen zur Zerschlagung von Alstom. Bouygues benötigte »Cash«, um verstärkt im profitableren Mobilfunkgeschäft aktiv werden zu können.
Bereits am 21.Juni 2014 konnte die Konzernleitung von Alstom Vollzug melden. In der Bieterschlacht um den französischen Konzern hatten Siemens und sein Partner Mitsubishi Heavy Industries das Nachsehen. Der US-Gigant General Electric (GE) kam hingegen zum Zug.
Dieses dubiose Geschehen regte übrigens Dominique Manotti zu ihrem sehr lesenswerten Krimi Kesseltreiben an. Sie thematisiert darin die von organisiertem Verbrechen kaum noch zu unterscheidende Kollaboration von Kapitalisten, Regierungen und Geheimdiensten im Zusammenhang mit der »Alstom-Affäre«.
Milliardendeals
Rund 4 Milliarden Euro flossen von GE auf Alstom-Konten. Der Löwenanteil davon ging an Bouygues. Konzernboss Patrick Kron erhielt laut französischen Presseberichten einen Zusatzbonus von über 4 Millionen Euro, 2000 Konzernmanager insgesamt 60 Millionen Euro. Das war ihr Judaslohn für die Zerschlagung. Genau betrachtet gehörten diese Unsummen den Beschäftigten, die durch ihre Arbeit den Konzern am Laufen gehalten hatten.
Von Alstom ist heute nur noch die allerdings technologisch bemerkenswert breit aufgestellte Transportsparte übrig.
Im Juli 2020 ? 17 Monate nachdem die EU-Kommission den geplanten Zusammenschluss der Verkehrstechniksparte von Siemens Mobility mit Alstom untersagt hatte ? genehmigte sie die Übernahme des Eisenbahngeschäfts von Bombardier durch Alstom. Für diesen Zukauf zahlte Alstom 5,5 Milliarden Euro und stieg damit zum weltweit zweitgrößten Bahntechnikkonzern nach der China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC) auf.
Mit Standorten in 64 Ländern und über 84.700 Beschäftigten aus 184 Nationalitäten erzielte Alstom in dem am 31.März 2024 zu Ende gegangenen Geschäftsjahr einen Umsatz von 17,6 Milliarden Euro. Alstom liefert Hochgeschwindigkeitszüge, Lokomotiven, Nah- und Fernverkehrszüge, U-Bahnen, Monorails und Straßenbahnen, schlüsselfertige Systeme und Serviceleistungen, Infrastruktur- und Signaltechnik sowie digitale Mobilitätslösungen.
›Diktatur der Zahlen‹
Eines ist unbestreitbar: Die Alstom-Führung bleibt ihrem schon 2013 als »Footprint-Strategie« getauften Vorgehen treu. Es ist nicht neu und kopiert die »Diktatur der Zahlen«. Als deren Erfinder 1981 gilt Jack Welch, damals Boss von General Electric und bald danach »bester Manager aller Zeiten«. Welchs Leitspruch zur Erzeugung maximaler Profite in den Firmen von General Electric lautete: »Fix it, sell it or close it.« Sinngemäß bedeutet das: »Strukturiere sie um, verkaufe sie oder mache sie platt.«
Welchs Spitzname »Neutronen-Jack« leitete sich aus seiner gnadenlosen Kriegführung gegen GE-Standorte und deren Beschäftigte ab. Nicht vergessen werden sollte, dass Welch auch ein notorischer Gewerkschaftsfeind war.
In Mannheim-Käfertal sind auf dem ehemals zu Alstom Power gehörenden Industrieareal die Folgen der GE-Politik nicht zu übersehen. Die nach dem Abriss vieler Fabrikhallen entstandenen Freiflächen zeugen von einer brutalen Zerstörung. Nur wenige hundert Meter davon entfernt befindet sich der Standort der heutigen Alstom Transport Deutschland. Rund tausend Menschen sind dort tätig. Nach der Ankündigung des deutschlandweiten Stellenabbaus insbesondere in Produktionsbereichen geht auch bei ihnen erneut die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes um.
›Standortsicherung‹
An dieser Stelle ist ein Blick auf die Politik der »Standortsicherung« erforderlich: Am 9.Juni 2023 hatten Alstom und die IG Metall einen »Zukunftstarifvertrag« für die rund 9600 Beschäftigten an 13 Standorten geschlossen. Er sollte unter anderem »Weichen für mehr Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland« stellen sowie Arbeitsplätze und Werke hierzulande für die nächsten drei Jahre sichern. Diese Vereinbarung wurde mit dem Verzicht auf tarifliche Leistungen erkauft.
Jürgen Kerner, im IG-Metall-Vorstand für die Bahnindustrie zuständig, sagte damals: »Es war ein langer und streckenweise auch sehr mühsamer Weg. Aber es hat sich gelohnt: Die Arbeitsplätze sind gerettet, die Standorte gesichert.« Am 27.Mai 2024 wurde jedoch bekannt, dass die IG Metall den »Zukunftstarifvertrag« mit Alstom gekündigt hat. Zur Begründung hieß es, der Vertrag sei vom Management »von Anfang an mangelhaft umgesetzt«, Zusagen seien nicht eingehalten worden. Die Mannheimer Alstom-Belegschaft, die von Anfang an dem »Deal« nicht zugestimmt hatte, kann sich jedenfalls in ihrer Ablehnung bestätigt sehen.
Widerstand
Sowohl der Gesamtbetriebsrat als auch der Mannheimer Betriebsrat haben Widerstand gegen die aggressiven Pläne der Konzernführung angekündigt. Sie zweifeln deren »Argumente« und deren Schlüssigkeit offen an.
Die Erfolgsaussichten eines Widerstands hängen von mehreren Faktoren ab. Gelingt es, nicht nur an den einzelnen deutschen Standorten, sondern bundesweit eigene Alternativen und eine aktive, öffentlichkeitswirksame Gegenwehr zu entwickeln? Gelingt es ferner, gewerkschaftliche Unterstützung im Konzern auch international zu organisieren? Und nicht zuletzt: Wie kann ein Bündnis mit der Bewegung für die Wende zum Schienenverkehr geschaffen werden?
Anstatt eine erneute »Sozialpartnererklärung« mit Gesamtmetall zu unterzeichnen, ist die IG Metall jetzt gefordert, eine kämpferische, auch gesellschafts- und verkehrspolitisch begründete Perspektive aufzuzeigen. Für die Betriebsräte gilt es mehr denn je, praktische Lehren aus dem bisherigen Geschehen bei Alstom zu ziehen.
Die Beschränkung auf das Aushandeln von »Interessenausgleich und Sozialplan« wird als Gegenwehr noch weniger als zuvor ausreichen – selbst nicht in Verbindung mit einigen Protestaktionen oder sogar Streiks für einen »Sozialtarifvertrag«. Es ist vielmehr notwendig, wie es in einer Bilanz des Kampfes um Alstom Power heißt, »eine wirksame Verteidigungsstrategie gegen diese Art von ›wirtschaftlicher Kriegführung‹ – diese Methoden des Klassenkampfs von oben – zu entwickeln«.
Dazu gilt es, vor allem auf folgende Fragen Antworten zu finden: Wie kann eine aktive gewerkschaftspolitische Gegenmacht in Betrieb und Gesellschaft neu gestärkt werden? Wie kann durchgesetzt werden, dass Wirtschaft nicht den Profitinteressen einiger weniger, sondern elementaren gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen dient? Oder konkreter: Wie kann verhindert werden, dass Alstom weitere wesentliche industrielle Grundlagen für die dringend erforderliche Verkehrswende zerstört?
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.
Kommentare als RSS Feed abonnieren