Eine Kampagne für einen gemeinsamen demokratischen Staat in Palästina
Gespräch mit Jeff Halper
Jeff Halper ist Mitinitiator des ICAHD (Israeli Committee Against House Demolitions) und der palästinensisch geführten Kampagne für einen gemeinsamen demokratischen Staat für Palästinenser:innen und israelische Jüd:innen (ODSC – One Democratic State Campaign) im gesamten historischen Palästina. Das Gespräch führte Sophia Deeg.
Wir sitzen vor einem Café in Neukölln. Immer wieder kommen Menschen vorbei, die um Geld bitten. Als sich erneut eine dürre Gestalt an uns wendet, erkenne ich meinen palästinensischen Nachbarn Mohamed zunächst nicht – so sehr ist er in den vergangenen Monaten vor Gram abgemagert. »Sie töten, sie töten, sie töten uns, und die Welt lässt es zu…« Und dann: »Aber unseren Kampf können sie nicht töten.« Jeff antwortet ihm traurig: »Ja, mein Lieber, so ist es.«
Im Interview greife ich Mohameds Beschwörung des Kampfes der Palästinenser:innen, den »sie nicht töten« können, wieder auf.
Dieser Kampf, was ist das inzwischen genau? Es klingt oft nur noch verzweifelt, nicht wie etwas mit Perspektive. Was meinst du?
Es ist nicht nur verständlich, sondern auch absolut richtig, wenn Palästinenser:innen und wir alle, die Millionen, die weltweit den Genozid verurteilen, den Blick nicht abwenden und unablässig fordern, dass das Ungeheuerliche ein Ende haben muss. Ohne Aufschub. Ich denke aber, dass es zugleich unerlässlich ist – und kein Entweder/Oder – darüber nachzudenken, worum es in dem Kampf, von dem dein Freund sprach, gehen kann oder sollte – und dann, wie er erfolgversprechend geführt werden könnte und mit welcher Perspektive über die Beendigung des Unerträglichen hinaus.
Stop the Genocide – und dann? Auch die staatlichen Akteur:innen drängen darauf, dass die mörderische Kampagne Israels gegen die Palästinenser:innen bald zu einem Abschluss kommt – nicht aus Menschlichkeit, sondern damit business as usual auf der Grundlage der Befriedung zu den Konditionen Israels und seiner Verbündeten wieder aufgenommen werden kann. Auch die arabischen Nachbarstaaten streben seit einiger Zeit begierig danach, Teil eines befriedeten Westasien mit normalisierten Beziehungen zu Israel zu werden. Siehe das Treffen Trumps mit den dortigen Herrschern…
Genau da setzt nun die ODSC, die Kampagne für einen gemeinsamen Staat seiner Bürger:innen im historischen Palästina an: Diese Befriedung, diese Normalisierung des von Israel über Jahrzehnte mit brutaler Gewalt Durchgesetzten nehmen wir nicht hin.
Mir fällt dazu Edward Said ein, der von Anfang an den Oslo-Prozess und den Handschlag zwischen Arafat und Rabin als Beendigung »des Konflikts« und »Frieden« im Rahmen einer »Zwei-Staaten-Lösung« unter der freundlichen Ägide von Clinton ablehnte. Auch Said setzte dem die Idee eines gemeinsamen Staates mit gleichen Rechten für alle, Palästinenser:innen und jüdische Israelis, entgegen. Soweit ich weiß, befürwortet nach wie vor eine Mehrheit der Palästinenser:innen dieses Modell, und außer dir auch einige Israelis wie Ilan Pappe oder Eitan Bronstein. Doch derzeit, da die Palästinenser:innen in der Westbank und erst recht in Gaza, wo sie Tag für Tag um das Überleben kämpfen, und auch die in der Diaspora von der Katastrophe überwältigt sind – wie sollen sie da »in Ruhe« über ein politisches Projekt nachdenken und in einer auf die Zukunft gerichteten Kampagne dafür mobilisieren?
Das fragen mich meine palästinensischen Mitstreiter:innen in diesen Monaten der Vertreibungen, der ethnischen Säuberungen, des Genozids natürlich auch, wie ich mir das vorstelle. Und es kommt ein weiterer Einwand hinzu: Ein deutlich überwiegender Teil der israelischen Gesellschaft, der politischen Führung allemal, spricht den Palästinenser:innen das Menschsein ab, die menschliche Würde. Ist da die Idee von einem gemeinsamen Staat, einer Gesellschaft von Gleichen zusammen mit diesen Leuten nicht schlicht Träumerei? Sie werden doch nichts dergleichen zulassen.
In meinem Buch Decolonizing Israel, Liberating Palestine (Pluto Press, 2021) gehe ich darauf ein. Südafrika kann in gewisser Weise als Illustration dafür gelten, wie eine siedlerkoloniale Klasse, die alle Macht im Lande hat und absolut nicht bereit ist, auf ihre Vorherrschaft zu verzichten, es unter Umständen doch tun muss.
In meinen Augen ist die ODSC gerade jetzt keineswegs Träumerei, sondern ein pragmatischer, realistischer Vorschlag. Schließlich ist es im 21.Jahrhundert das Normalste der Welt, gleiche Rechte für alle Bürger:innen eines Staatsgebietes zu fordern, einschließlich der aus diesem Gebiet Vertriebenen. Und wenn von Israel im gesamten unter seiner Kontrolle stehenden Gebiet die Ungleichheit seiner Bewohner:innen nur mit immer mehr Gewalt aufrechterhalten werden kann, dann ist das für Israel und seine jüdischen Bürger:innen selber bedrohlich.
Wenn wir für eine bedingungslose Beendigung dessen eintreten, was wir gerade in Gaza und der Westbank ohnmächtig mitansehen, sollte das mit einem politischen Vorschlag seitens eines palästinensischen politischen Akteurs für das Danach verbunden sein. Falls nicht, wird die Normalisierung (von Apartheid, Vertreibung, definitiver Entrechtung) unwidersprochen durchgesetzt werden.
Die Palästinenser:innen der Westbank und Gazas haben sich zuletzt vor bald 20 Jahren dazu geäußert, ob sie mit der Politik der Hamas einverstanden sind. Dasselbe gilt für die Autonomiebehörde, die im übrigen ihre Herrschaft von Anbeginn an darauf gestützt hat, ein willfähriges Ausführungsorgan Israels zu sein. Beide höchst fragwürdigen »Repräsentanten des palästinensischen Volkes« beanspruchen nicht einmal, die Interessen der palästinensischen Bürger:innen Israels oder der Millionen in der Diaspora zu vertreten, von denen wiederum der größte Teil seit mehreren Generationen rechtlos und ohne Existenzgrundlage im Wartezustand verharrt. Worauf? Auf das Selbstverständlichste: dass ihr Recht auf Rückkehr, festgehalten in der UN-Resolution 194 von 1948, endlich umgesetzt wird.
Wo also ist das palästinensische politische Subjekt, nachdem es auch die PLO schon lange nicht mehr ist? Hat sich ein solches mit der BDS-Kampagne 2005 beispielhaft konstituiert, die von einem breiten Bündnis aller Segmente der palästinensischen Bevölkerung in- und außerhalb des historischen Palästina beschlossen wurde?
Richtig. Die damals von einer so breiten Basis beschlossene Kampagne war und ist insofern erfolgreich, als sie Menschen in vielen Teilen der Welt überzeugt hat, die kontinuierlich immer neu auf internationale und israelische Unternehmen und Institutionen öffentlichen Druck ausüben, deren Beteiligung an Menschen- und Völkerrechtsverletzungen durch Israel die Kampagne genau nachweist und bekannt macht. Also: ein politisches Subjekt, das sich selbst konstituiert, schlägt »der Welt«, »allen Menschen guten Willens«, wie es im Aufruf der BDS-Kampagne heißt, vor, wie sie den Palästinenser:innen helfen können, zu ihren Rechten zu kommen.
Nur: das, was die Kampagne als Minimalforderungen aufstellt, stellt kein politisches Programm dar. So fordert BDS ein Ende der Besatzung. Doch das, was für kurze Zeit tatsächlich militärische Besatzung nach einer kriegerischen Auseinandersetzung war, ist schon seit Jahrzehnten etwas anderes: ein massives siedlerkoloniales Projekt der Landnahme, Vertreibung, Entrechtung der indigenen Bevölkerung, einer Bevölkerung, die auch unter Besatzung laut Internationalem Recht z.B. Anspruch auf Versorgung durch den Besatzer hätte; deren Gebiet nicht durch massive, auf Dauer angelegte Eingriffe – z.B. die Errichtung ganzer Städte der Besatzer – tiefgreifend verändert werden dürfte usw.
Ich denke, gerade Deutschen könnte der Vergleich mit der Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Siegermächte die Augen öffnen. Nicht, dass ich das Vorgehen dieser Mächte glorifizieren möchte, aber es war immerhin eine Besatzung, die auf eine relativ kurze Zeit angelegt war. Niemand kam auf die Idee, in dem besetzten Gebiet Städte, Infrastruktur, landwirtschaftliche Produktion für die Bürger:innen der Besatzungsmächte fest zu installieren.
Wenn die BDS-Kampagne gleiche Rechte für die Palästinenser:innen Israels fordert, so bedeutet das, den von Israel geschaffenen Status quo nicht in Frage zu stellen. Dieser unterteilt die palästinensische Bevölkerung auf dem Gebiet des gesamten historischen Palästina und die Diaspora in Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Abstufungen der Rechtlosigkeit – wozu sie Israel nach dem kolonialherrlichen Prinzip des Teile und Herrsche gemacht hat.
Die BDS-Kampagne fordert, genau wie die für ODS, die Umsetzung des Rechts auf Rückkehr für all jene, die 1948 vertrieben wurden, einschließlich ihrer Nachkommen. Die ODS-Kampagne schlägt ein politisches Programm vor, entworfen von Palästinenser:innen (zu 95 Prozent) und einigen Israelis (zu 5 Prozent), das nicht offen lässt, wohin die durch die weiter anhaltende Naqba Vertriebenen zurückkehren werden: selbstverständlich in das ganze historische Palästina, vom Jordan bis zum Mittelmeer – weil das ihr Recht ist.
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