Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2013

Gewerkschaften und SPD im Mai 1933
von Jörg Wollenberg

Am 2. Mai 1933 wurden in ganz Deutschland Gewerkschaftshäuser von SA- und SS-Truppen umstellt, besetzt, das Eigentum beschlagnahmt und Gewerkschaftsfunktionäre verhaftet und gefoltert. Die so mächtige deutsche Arbeiterbewegung erlitt eine Niederlage, die bis heute nachwirkt.

„Was haben wir uns damals gedacht? Das fragte sich noch einmal der fast 100 Jahre alte, international hochgeschätzte englische Historiker Eric Hobsbawm in seinem 2009 veröffentlichten Rückblick auf die Ereignisse, die vor 80 Jahren zur Machtübertragung an Hitler führten und die er als junger Student in Berlin erlebt hatte. Warum hat man Hitlers Aufstieg zur Macht nicht verhindern können? Sein Resümee: „Es gab nichts Unausweichliches an den Ereignissen, die zu seiner Ernennung als Reichskanzler führten. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es nichts, was die Sozialdemokraten oder die Kommunisten daran hätten ändern können."

Ist das zutreffend? Gab es außerhalb Berlins nicht wenigsten in den Hochburgen der Arbeiterbewegung Hamburg, Bremen oder Nürnberg die Möglichkeit, den Faschismus aufzuhalten?

Viele Gegner des Nationalsozialismus fanden erst in den Haftanstalten und Konzentrationslagern die Gelegenheit, über Ursachen und Folgen der Niederlage von 1933 nachzudenken. So zum Beispiel die kampferprobten Sozialisten und Gewerkschafter Emil Theil und Udo Meinecke oder der Nürnberger Antifaschist und Häftlingskapo im Krankenbau, Heinrich Stör. Und das ausgerechnet im KZ Dachau, Stube 1, Baracke 13. Hier diskutierten sie mit dem holländischen Schriftsteller Nico Rost immer wieder über die Frage, warum die Sozialdemokraten den Aufstieg der Nazis zur Macht nicht hatten verhindern können.

Gelegentlich kam der Reichstagsabgeordnete und spätere Vorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, hinzu. Als Häftlingsbibliothekar der KZ-Lagerbücherei mit einem Bestand von rund 18.000 Bänden pflegte er die informellen Kontakte zu zahlreichen Genossen, unterstützt  u.a. von Viktor Matejka, dem einflussreichen Wiener Kulturpolitiker und Linkskatholiken, der sich in Dachau zum Kommunismus bekannte.

Nico Rost notierte dazu am 31.August 1944 in sein Dachauer Tagebuch, nach einer Diskussion über die singuläre Leistung der deutschen Arbeiterhochschulen und Arbeiterzentralbibliotheken, mit Vorlesungen in Nürnberg oder Bremen von Oppenheimer, Sombart, Joseph Dietzgen, Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky u.a.: „Es ist eine Tragödie, die viele von uns nicht sehen und begreifen, dass diese Zehntausende deutscher Sozialdemokraten & trotz ihres guten Willens und obwohl sie viel belesener und entwickelter waren als die meisten Arbeiter in den anderen Ländern Europas, doch beinahe nichts getan haben, um den Nazis den Weg zur Macht zu versperren.

Sie hatten ein so großes Wissen, doch in der Praxis – in der revolutionären Praxis – wussten sie damit nichts anzufangen. Ich neige oft zu der Annahme, dass den Deutschen, also auch den deutschen Arbeitern, jede politische Intuition fehlt, jedes politische »feeling«. An diesem Mangel sind natürlich auch verschiedene wirtschaftliche Faktoren schuld, vor allem die ständig größer gewordene gesellschaftliche Verarmung, wodurch die Kräfte und Energien der Deutschen stets auf das Notwendigste gerichtet sein mussten, völlig absorbiert wurden durch die Sorge für den nackten Lebensunterhalt, für die notwendigsten Dinge des täglichen Lebens.

Schuld daran ist auch ihre Vorliebe für strengste Disziplin, die ihnen von frühester Jugend an immer wieder eingeschärft wird, das ihnen zur zweiten Natur gewordene Bedürfnis zu gehorchen und ihr fester Glaube an jede »Obrigkeit« ... alles Eigenschaften, die ein Holländer nicht begreifen kann und will  und noch weniger akzeptiert!

Unwillkürlich fällt mir dabei eine Anekdote von Karl Radek ein, der von einem sozialdemokratischen Funktionär zu erzählen pflegte, der in den Novembertagen 1918, als die Berliner Arbeiter das Reichstagsgebäude erstürmen wollten, auf einen Laternenpfahl geklettert sei und, so laut er konnte, gerufen habe: »Aufpassen, Kameraden, nicht auf den Rasen treten!«"

Erst in der Zelle vereint

Wäre die Zerschlagung der Gewerkschaften und ihre Gleichschaltung wenigstens in den Hochburgen der Arbeiterbewegung zu verhindern gewesen? Hätte gar die Weimarer Republik gerettet werden können, wenn die sozialdemokratische Arbeiterbewegung mit den im ADGB zusammengeschlossenen freien Gewerkschaften und ihrer gemeinsamen Schutzorganisation, der „Eisernen Front“, zusammen mit KPD, SAP, ISK und KPO Widerstand geleistet hätten?

Immerhin demonstrierten am 12. Februar 1933 in Nürnberg noch 60.000 Menschen gegen den Hitler-Faschismus. „Nicht der Marxismus, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem ist Schuld an dem Chaos“, verkündete der stellvertretende SPD-Vorsitzende Hans Vogel den Massen. In Bremen folgten am Vorabend der Reichstagswahl vom 5. März 1933 noch einmal 30.000 Teilnehmer dem Aufruf der „Eisernen Front“, dem sich die Kommunisten anschlossen. Viele von ihnen trafen einen Monat später unfreiwillig mit dem Hauptredner Alfred Faust, SPD-Reichstagsabgeordneter und Chefredakteur der Bremer Volkszeitung, im Konzentrationslager Bremen-Mißler zusammen.

Hitler wurde nicht ernst genommen

Auf die Machtergreifung vom 30. Januar 1933 hatte die Gewerkschaftsführung mit Stillhalten und Anpassung reagiert. Der Vorsitzende des ADGB, Theodor Leipart, meinte in Übereinstimmung mit dem SPD-Vorstand: „Organisation  nicht Demonstration: das ist die Parole der Stunde."

Dem folgten auch viele Bremer Gewerkschaftsfunktionäre. Auf der letzten Versammlung (am 30.1.33) der Vertrauensleute des Deutschen Metallarbeiterverbands (DMV) vor dem Verbot erklärte der Vorsitzende des Bremer ADGB und Abgeordneter der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Oskar Schulze: "Die werden schon abwirtschaften." Alfred Faust hatte am Tag nach der Reichstagswahl vom 6.11.1932, die der KPD Gewinne, der NSDAP aber Verluste gebracht hatte, in der Bremer Volkszeitung "Hitlers Stern im Sinken" gesehen.

Vergeblich warteten die Funktionäre vor Ort auf Anweisungen von oben. Doch der ADGB-Vorstand nahm im März 1933 Kontakt zur NS-Führung auf. Im Zentralorgan des ADGB, der  Gewerkschafts-Zeitung, veröffentlichte er einen Aufruf, in dem er die Arbeiter aufforderte, sich als „ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft“ an den Demonstrationen zum 1. Mai 1933 zu beteiligen und gemeinsam mit den Nationalsozialisten den zum „Tag der nationalen Arbeit“ umbenannten Kampftag als arbeitsfreien Tag zu begehen.

Die Nazis bedankten sich umgehend: Stoßtrupps des faschistischen "Aktionskomitees zum Schutze der deutschen Arbeit" besetzten am 2.Mai in ganz Deutschland die Gewerkschaftshäuser und die Filialen der Arbeiterbank und nahmen Funktionäre des ADGB, des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes (AfA-Bund) und der Einzelverbände in "Schutzhaft". Schon im März und erneut im April 1933 hatten die Gewerkschaftsleitungen alle Widerstandshandlungen gegen den SA-Terror verboten gehabt. Sie begnügten sich mit Beschwerdebriefen. Und das zu einem Zeitpunkt, als schon zahlreiche Gewerkschafter im Bremer Konzentrationslager Mißler einsaßen, für die das Verhalten der ADGB-Führung eine große Enttäuschung war.

Der Weg der SPD

Dazu kam der „gerade Weg der SPD-Reichsleitung in die Kapitulation“(Hermann Brill).  Hatte die SPD-Reichstagsfraktion sich noch im März 1933 dem „Ermächtigungsgesetz“ verweigert, so stimmte sie am 17.Mai 1933 der „Friedensresolution“ Hitlers zu, abgesehen von jenen 27 ihrer Abgeordneten, die bereits verhaftet waren und von Antonie Pfülf, die ihre Zustimmung als einzige verweigerte und am 8. Juni 1933  Selbstmord beging. „Den Weg, den die Partei heute geht, kann ich nicht mitgehen“, schrieb sie am 17. Mai 1933 in ihrem Abschiedsbrief an einen Freund.

Am 19. Juni 1933 fasste eine Gruppierung um Paul Löbe und Max Westphal den Beschluss, die Vorstandsmitglieder im Exil auszugrenzen und die Juden aus dem Vorstand zu entfernen – wenige Tage, bevor die SPD am 22. Juni 1933 verboten wurde. Das Verhalten des Rumpfvorstands der SPD und der Vorstände der Gewerkschaften sei „kläglich und zum Erbarmen gewesen“, so der für diesen Kurs lange mitverantwortliche einstige Reichskanzler Philipp Scheidemann im dänischen Exil. „Von den Führern, die in Deutschland bis zu ihrer Flucht ‚tätig‘ gewesen sind“, könne keiner „jemals wieder irgendwo in der Arbeiterführung führend tätig sein“. Ihre „Versuche einen modus vivendi mit Hitler zu finden“, stünden „beispiellos da in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung.“

Widerstand von unten

Trotz dieses Höhepunktes der Anpassungspolitik formierte sich überall in Deutschland nach 1933 der Widerstand auf regionaler Ebene. Er beschränkte sich zunächst vornehmlich auf die Arbeiterbewegung und bezog die Juden mit ein, die als Mitglieder der Arbeiterparteien und Gewerkschaften besonders gefährdet waren. Sofern sie nicht rechtzeitig emigrieren konnten, wurden sie in der Regel mit als erste im März/April 1933 verhaftet oder in die frühen Konzentrationslager eingeliefert.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die NS-Bewegung in der Zeit ihres Aufstiegs in einer Arbeiterhochburg wie Bremen trotz des Anpassungskurses der Gewerkschaften und der SPD-Führung nur schwer innerhalb der Arbeiterschaft Fuß fassen konnte. Wahlanalysen im lokalen Bereich zeigen die besondere Resistenz der Arbeiter gegenüber dem Nationalsozialismus. Ihre unversöhnliche Haltung gegenüber dem NS-System dokumentieren auch die Stimmungs- und Lageberichte der Gestapo aus Betrieben und Stadtteilen. Versorgungsengpässe bei Nahrungsmitteln, Wohnungsmangel und unzureichende Löhne führten zu anhaltender Unzufriedenheit unter der Arbeiterbevölkerung.

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