Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2024

Wirtschaftsmärchen und die Angst vor der Aufklärung
von Ingo Schmidt

Wer glaubt sie noch? Die Geschichte, dass »die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen« (Helmut Schmidt) sind? Dass niedrigere Löhne und Steuern zugunsten von höheren Unternehmergewinnen zu Wohlstand für alle führen? Dass stabile Preise und ausgeglichene Haushalte die internationale Wettbewerbsfähigkeit fördern? Wird unten der Glaube an die allseligmachenden Kräfte des Marktes in Zweifel gezogen, streiten sie oben, ob die im Namen des Marktes über Jahrzehnte betriebene Politik noch zeitgemäß ist.

Neoliberalismus in einem Land?
Im Gleichschritt mit dem Zerfall des marktradikalen bzw. neoliberalen Politikmodells gewinnt eine neue Rechte Zulauf, die Fragen nationaler und rassischer Identität in den Vordergrund stellt, in Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik aber radikaler ist als die meisten früheren oder auch aktuellen Anhänger des Neoliberalismus. Die neue Rechte steht nicht für eine Alternative dazu, sondern für eine neue Variante desselben. Statt neoliberaler Globalisierung fordert sie staatlichen Schutz gegen die unfaire Konkurrenz durch ausländische Importe und Arbeitskräfte. Neoliberalismus in einem Land sozusagen.
Neoliberalen Denkern und Politikern, ebenso wie ihren altliberalen Vorfahren, waren nationalistische und rassistische Ideen nicht fremd. Aber sie verbanden diese stets mit ihrem Hauptziel: dem Freihandel, nach den Regeln der von ihnen als ausgewählt angesehenen Nation oder Rasse. Freier Handel nur innerhalb eines Landes ist für sie ein Widerspruch in sich.
Dass solch ein Unding Zulauf erhält, liegt hauptsächlich daran, dass die Linke die Krise der neoliberalen Globalisierung nicht für sich nutzen kann. Nicht zuletzt, weil die meisten Linken zum Thema Wirtschaft ganz schweigen oder gelegentlich abstrakte Worte über Kapitalakkumulation und Krisen fallen lassen.
Das linke Schweigen in Sachen Wirtschaft ist fatal. Denn die Geschichte holt die Linke immer wieder ein. Unter anderem, weil es dem Neoliberalismus gelungen ist, Linke aller Rotstufen als Besserwisser zu brandmarken, die sich ungefragt in anderer Leute Angelegenheiten einmischen. Aus der berechtigten Kritik an Bürokratie und demokratischen Defiziten wurde ein Volksvorurteil, das Linken über das Verfallsdatum des Neoliberalismus hinaus anhaftet. Die neue Rechte erklärt Linke und neoliberale Globalisierer gleichermaßen zu Agenten staatlicher Bevormundung. Mit dem Erfolg, das Linke oft genug als Anhängsel der Globalisierungseliten wahrgenommen werden.

Hundertundeine Legende
Was Linken fehlt, ist ein Alleinstellungsmerkmal, dass es ihnen erlaubt, die Erfahrungen kleiner Leute aufzunehmen und zu Bildern zu verdichten, in denen sich diese Leute wiedererkennen können. Bilder, die zum Ideenaustausch einladen und so zur Entwicklung vorstellbarer Alternativen beitragen können. Dazu müssen sie sich mit dem Alltag kleiner Leute beschäftigen, ohne die Mächtigen, die die Alltagsbedingungen bestimmen, aus dem Blick zu verlieren. Im Alltag geht es vor allem um Geld und Arbeit, wirtschaftliche Fragen eben. Eine kleine Zahl Linker beschäftigt sich mit solchen Fragen, findet aber wenig Gehör. Warum?
Am Beispiel des Buches Wirtschaftsmärchen* lässt sich die begrenzte Außenwirkung linker Ökonomiekritik erklären. Im Untertitel kündigen die Autoren, Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf, »Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales« an. Jede dieser Legenden wird auf zwei bis drei Seiten erzählt. Jeweils eingeleitet mit dem Zitat eines neoliberalen Ideologieproduzenten samt kurzer biographischer Angaben und Quellen. So entsteht ein guter Überblick über die ganze Spannweite von Hochschulen, Verbänden und Medien, über die neoliberale Parolen unters Volk gebracht werden. Thematisch umfassen diese Parolen bzw. Legenden über die im Untertitel genannten Bereiche hinaus die ganze Spanne von Lohnarbeit, Sozialstaat und Steuern über Weltmarkt und Politik bis zu den Auswirkungen neoliberaler Politik auf die Einkommens- und Vermögensverteilung und die Unterwerfung der Demokratie unter die Kräfte des Marktes.
Frei von Fach- und Politikjargon legen die Autoren dar, auf welchen Annahmen die jeweilige Legende beruht und zeigen, dass die damit verknüpften politischen Forderungen in der Wirklichkeit andere Folgen haben als in der Legende. Hundertundeine Legende werden, eine nach der anderen, empirisch widerlegt und die Interessen der Legendenverbreiter offengelegt. Zugleich werden Umrisse alternativer, auf Gerechtigkeit, Ökologie und Demokratie gerichteter Wirtschaftspolitik deutlich.
Mit ihrem Buch leisten Schreiner und Eicker-Wolf Aufklärungsarbeit im besten Sinne. Wer das Buch liest, ist für viele Diskussionen gewappnet. In Zeiten grassierenden Irrationalismus ist das eine notwendige Bedingung, um politisch wieder in die Offensive zu kommen. Doch keine hinreichende.
Die Entlarvung neoliberaler Wirtschaftsmärchen als empirisch falsch und das Offenlegen der Interessen der Reichen und Mächtigen hinter den Legenden führt keineswegs zur Mobilisierung für Alternativen. Jedenfalls nicht automatisch. Obwohl die damit verbundenen Ziele in Meinungsumfragen hohe Zustimmungswerte erzielen. Die Angst vor der Aufklärung steht den Alternativen im Wege.

Angst vor der Aufklärung
Wenn Alternativen nicht denkbar sind, verstärkt das Wissen um die Ursachen ungeliebter Arbeits- und Lebensbedingungen ohnehin schon vorhandenes Unbehagen, machen sich Hilflosigkeit, Angst und Ohnmachtsgefühle breit. Wenn das Verständnis der eigenen Misere nicht mit einer Perspektive ihrer Überwindung verbunden ist, schafft der Glaube an die Gerechtigkeit des Marktes, so er von der Einmischung übelwollender Eliten befreit wird, emotionale Entlastung.
Aber wieso sind Alternativen undenkbar? Der Zerfall des neoliberalen, bislang untrennbar mit der Globalisierung verbundenen Weltbilds schafft die Puzzleteile, aus denen dieses Weltbild zusammengesetzt war, nicht aus der Welt. Das gilt insbesondere für den vom Altliberalismus übernommenen Kern dieses Weltbilds: die Vorstellung von der Freiheit und Gleichheit der am Warentausch Beteiligten, von denen Marx behauptete, sie müssten die »Festigkeit eines Volksvorurteils besitzen«, damit der Warentausch zur vorherrschenden Verkehrsform in arbeitsteiligen Gesellschaften werden kann.
Waren-, Geld- und Kapitalfetischismus bleiben auch dann bestimmende Denkformen, wenn Akkumulation und Krise zu Bedingungen führen, die massenhaft abgelehnt werden. Diese Denkformen machen den Weg von der Aufklärung über die Ursachen zum Denken von Alternativen so schwierig.
Die verinnerlichten Ideen von Freiheit und Gleichheit, so sehr sie dem eigenen Selbstwertgefühl schmeicheln – wer sieht sich schon gern als Untertan? – widersprechen täglichen Erfahrungen der Unterordnung unter die Anordnungen von Chefs und Amtspersonen. Oder, auf der Suche nach Arbeit, der vorauseilenden Unterwerfung unter die vermuteten Erwartungen potenzieller »Arbeitgeber«.
Zwischen dem Selbstbild des freien, gleichen und aufgeklärten Individuums und der Erfahrung des Unterwerfens und Ausgeliefertseins klafft eine Lücke. Die herrschenden Gedanken erlauben es nicht, sich auf die subalterne Lage einen Reim zu machen, geschweige denn, sich Auswege aus dieser Lage vorzustellen. Stattdessen herrscht die Angst, verinnerlichten Idealen nicht gerecht zu werden oder, schlimmer noch, am Markt nicht bestehen zu können.
Damit Alternativen denkbar werden, müssen die mit dem Warentausch verbundenen Denkformen durchschaut werden als ideologische Stützen eines auf Unfreiheit und Ausbeutung beruhenden Wirtschaftssystems, dann können sie überwunden werden. Es muss Raum geschafft werden, um Erfahrungen mit anderen Subalternen zu teilen. Das Teilen erlaubt Einsicht in lange vorhandenes, in den alten Denkformen aber nicht ausdrückbares Wissen. Das Wissen ist untrennbar mit der konkreten Arbeit verbunden, die Menschen zur Reproduktion ihres Lebens leisten.

Zu den verschiedenen Formen konkreter Arbeit, bezahlt oder unbezahlt, gab es im letzten Jahr eine Serie in der SoZ. Nun folgt eine Serie zur Geschichte ökonomischer Ideen und der politischen Macht, die sie bis heute entfalten. Dabei wird sich zeigen, dass die von Marx abstrakt herausgearbeiteten Fetischismen des Warentauschs sehr viele konkrete Formen annehmen und ein Gedankengeflecht schaffen, aus dem sich zu befreien schwer ist. Dazu braucht es kollektiven Erfahrungsaustausch, Lern- und Organisationsprozesse.

*Patrick Schreiner, Kai Eicker-Wolf: Wirtschaftsmärchen. Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales. Köln: PapyRossa, 2023. 270 S., 19,90 Euro.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.

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