Vollwaschgang oder doch gebremster Schaum?
von J.H.Wassermann
In SoZ 4/2024 berichteten wir über den Auftakt zur Tarifrunde 2024 im Bereich Chemische Industrie. Die Diskussionen in den Betrieben und regionalen Tarifkommissionen zur Aufstellung der Forderung haben stattgefunden, mit Beschluss der Bundestarifkommission (BTK) am 10.April steht jetzt die Forderung.
An der Forderungsempfehlung des Hauptvorstands gab es nur eine kosmetische Änderung: Anstelle eines »Korridors« der Entgelterhöhung von 6 bis 7 Prozent, werden jetzt 7 Prozent gefordert. Dies ist der Diskussion in den Betrieben und den darauf aufbauenden Sitzungen der regionalen Tarifkommissionen geschuldet.
In vielen Betrieben gab es tatsächlich Diskussionen und Umfragen, was in der Tarifrunde gefordert werden soll. In der Logik prozentualer Erhöhung gab es viele, die sich für eine mindestens zweistellige Prozentforderung ausgesprochen haben. Es gab auch Ideen für Festbeträge. Die Forderung nach einer einheitlichen Erhöhung kommt eher aus den Betrieben, wo die Mehrheit der Mitglieder in der unteren Hälfte der Entgelttabelle eingruppiert ist.
Gemessen an der Diskussion in den letzten Jahrzehnten, war es dieses Jahr heftiger und kontroverser. Vereinzelt kam es in regionalen Tarifkommissionen sogar zu Kampfabstimmungen. Dabei war und ist die Schwäche der Kritiker:innen an der Forderungsempfehlung, dass sie keinen Gegenvorschlag gemacht haben. Abstimmungen beschränkten sich auf ein schlichtes Für oder gegen.
Wie geht es weiter?
Wie wird die Tarifrunde ablaufen? Das besondere Schlichtungsabkommen, das jegliche Arbeitskampfmaßnahme einschließlich Warnstreiks auch nach dem Auslaufen der Tarifverträge nicht zuließ, bevor eine verbindliche Schlichtung gescheitert ist, wurde am Anfang des Jahres nach 42 (!) Jahren gekündigt.
Schön und gut, aber: Welche Betriebe wären denn überhaupt zu Warnstreiks in der Lage? Gibt es Belegschaften, die auch länger streiken könnten – und wollten? Es wird wohl in den Bezirken, den regionalen Einheiten der IGBCE, Streikschulungen geben. Aber was soll da geschult werden?
Streik ist auch in der IGBCE nicht unbekannt. In Tarifrunden bei Kautschuk, Papier oder in der Braunkohleverstromung kommt es schon mal zu Warnstreiks. Und beim »Häuserkampf« um Haustarifverträge wird von der IGBCE immer mal wieder gestreikt. Aber das sind begrenzte Konflikte, das Sagen haben hauptamtliche Kolleg:innen oder gar die zentrale Tarifabteilung in Hannover. Die Hauptamtlichen sind aber nicht nur nicht vor Ort, sind sie im Regelfall auch unerfahren im Aufbau einer betrieblichen Struktur, die in der jetzigen Situation einen Streik vorbereiten, organisieren, durchführen und auch durchhalten müsste. Betrieblich anerkannte und erfahrene Gruppen, die einen solchen Prozess anführen könnten, gibt es allenfalls punktuell.
Wer soll Warnstreiks oder Streiks organisieren?
Seit langem wird alle fünf Jahre auf jedem Gewerkschaftskongress die Unverzichtbarkeit der Vertrauensleutearbeit bekräftigt. Das hat das Verschwinden und den Niedergang dieser betrieblichen Strukturen nicht aufhalten können. Auch dort, wo es noch Vertrauensleutekörper gibt, ist diesen eingetrichtert worden, sie seien das Bindeglied zwischen Belegschaft und Betriebsrat. Das Eingeständnis, dass Betriebsräte »Bindeglieder« bräuchten, ist entlarvend genug für die Ferne, die Betriebsräte von den normalen Kolleg:innen haben.
Eine unabhängige, eigenständige Rolle und politische Funktion für Vertrauensleute ist nicht vorgesehen, die zentral beschlossene »Aktivierung« bleibt oberflächlich und ist – politisch gewollt – sehr beschränkt. Funktionierende Vertrauensleutekörper oder vergleichbare Strukturen aktiver Mitglieder sind aber die Voraussetzung für eine wirkliche Tarifbewegung.
Ganz zufällig war am Tag des Forderungsbeschlusses ein langer Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Dort wurde der neue Verhandlungsführer der IGBCE vorgestellt und mit den Worten zitiert: »Arbeitskämpfe gehören zu unserm Werkzeugkasten.« Aber wo habt ihr den abgestellt?
Vorreiterrolle IGBCE
Wir wollen auch daran erinnern, dass es ganz maßgeblich der Vorsitzende der IGBCE, Michael Vassiliadis, war, der mit seinem Parteikollegen Olaf Scholz die »Inflationsausgleichsprämie« (IAP) im Rahmen der Konzertierten Aktion erfunden hat. Damit wurde auf die explodierende Preissteigerung ab Mitte 2021 und auf den russischen Überfall auf die Ukraine reagiert.
So konnten für die Beschäftigten in den Kernbereichen der deutschen Exportindustrie die Folgen der Preissteigerungen abgemildert werden, ohne dass die Gewerkschaften über »normale«, tabellenwirksame Tarifforderungen, also in den Tarifverträgen auf Dauer festgeschriebene Erhöhungen verhandeln mussten bzw. dafür hätten kämpfen müssen. Die IGBCE hat da eine Vorreiterrolle gespielt, der dann die anderen Gewerkschaften in allen großen Flächentarifverträgen und in vielen kleineren Tarifverträgen gefolgt sind.
Das rächt sich jetzt. Selbst im Bereich der Chemieindustrie spricht die Gewerkschaftsspitze von Reallohnverlusten. Nur um die Kaufkraft von vor 2021 über dauerhafte Tariferhöhungen wieder herzustellen, müssten mindestens die jetzt geforderten 7 Prozent voll durchgesetzt werden. Das wird angesichts einer wirtschaftlichen Abschwächung nur gegen heftigen Widerstand des Kapitals durchzusetzen sein.
Die Lage ist also durchwachsen: Der Unmut über die Auswirkungen der Preissteigerungen auf die Lebenshaltung ist in vielen Betrieben durchaus vorhanden. Das ist eine gute Voraussetzung für eine Mobilisierung von Belegschaften. Andererseits gibt es nur selten betrieblich und noch weniger in der IGBCE insgesamt ein Verständnis für, geschweige denn eine breite, verankerte Erfahrung mit einer kämpferischen Interessenvertretung.
Die zentralen Tarifverhandlungen werden im Mai beginnen, drei Termine sind schon vereinbart, zuletzt Ende Juni, kurz vor dem Auslaufen der Tarifverträge am 30.Juni.
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