Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2014

Es war Krieg und (fast) alle gingen hin

von Dieter Braeg

Das Jahr 2014 hatte noch gar nicht angefangen, da «gedachte», ja «feierte» man den Beginn des Ersten Weltkriegs in jenen Medien, die dafür sorgen, dass Berta von Suttners Feststellung in Vergessenheit geriet: «Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut soll immer wieder mit Blut abgewaschen werden.»Manchmal wird Statistik, die Zeugnis ablegen soll, nicht interpretierbar. Zwei Pistolenschüsse töteten den österreichischen Thronfolger und seine Frau Sophie am 28.Juli 1914. Am Ende des Kriegs, 1918, verkündete die Statistik unter anderem:

– 30 Kilometer lang war ein deutsches Armeekorps, wenn es in Bewegung war;

– 70 Millionen Soldaten kämpften – das waren mehr Menschen als heute in Großbritannien und Irland leben;

– 35% aller deutschen Männer, die bei Kriegsausbruch zwischen 19 und 22 Jahre alt waren, starben in diesem Krieg;

– 9,5 Millionen Soldaten ließen darin ihr Leben – das ist die Bevölkerung von ganz Schweden;

– zwischen 12 und 13 Millionen Zivilisten starben, davon verhungerten allein im Deutschen Reich 750000;

– 10000 deutsche Kirchenglocken wurden eingeschmolzen, um daraus Munition herzustellen!

Ursachen, Anlässe, Schuld verschwinden im Wortgeschwurbel einer Jetztzeit, die vor allem die Forschungsergebnisse Fritz Fischers relativieren will, dass der Erste Weltkrieg durch die imperialistischen Weltmachtbestrebungen des Deutschen Reiches ausgelöst wurde. Er schrieb damals in seinem Buch Griff nach der Weltmacht (1961): «Bei der angespannten Weltlage des Jahres 1914, nicht zuletzt als Folge der deutschen Weltpolitik, musste jeder begrenzte (lokale) Krieg in Europa, an dem eine Großmacht beteiligt war, die Gefahr eines allgemeinen Krieges unvermeidbar nahe heranrücken. Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat, und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Jahre 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.»

Karl Kraus, einer der wichtigsten Schriftsteller des deutschsprachigen Raums zu Beginn des 20.Jahrhunderts, widmete sein Hauptwerk, Die letzten Tage der Menschheit, dem Drama des Ersten Weltkriegs. Es ist die reale und tragische Geschichte des ersten totalen Kriegs, ein makabres Wachsfigurenkabinett des Krieges, im Druck ist das Werk 750 Seiten stark. Kraus bemerkt dazu: «Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang noch irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht.» Und: «Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden: die grellsten Erfindungen sind Zitate … Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines.» Hier ein Beispiel:

I. Akt, 1. Szene

Wien. Ringstraßen-Korso. Sirk-Ecke. Etliche Wochen später. Fahnen an den Häusern. Vorbeimarschierende Soldaten werden bejubelt. Allgemeine Erregung. Es bilden sich Gruppen.

[…]

Ein Wiener (hält von einer Bank eine Ansprache): – – denn wir mußten die Manen des ermordeten Thronfolgers befolgen, da hats keine Spompanadeln geben – darum, Mitbürger, sage ich auch – wie ein Mann wollen wir uns mit fliehenden Fahnen an das Vaterland anschließen in dera großen Zeit! Sind wir doch umgerungen von lauter Feinden! Mir führn einen heilinger Verteilungskrieg führn mir! Also bitte – schaun Sie auf unsere Braven, die was dem Feind jetzt ihnere Stirne bieten, ungeachtet, schaun S’ wie s’ da draußn stehn vor dem Feind, weil sie das Vaterland rufen tut, und dementsprechend trotzen s’ der Unbildung jeglicher Witterung – draußen stehn s’, da schaun S’ Ihner s’ an! Und darum sage ich auch – es ist die Pflicht eines jedermann, der ein Mitbürger sein will, stantape Schulter an Schulter sein Scherflein beizutrageen. Dementsprechend! Da heißt es, sich ein Beispiel nehmen, jawoohl! Und darum sage ich auch – ein jeder von euch soll zusammenstehn wie ein Mann! Daß sie ’s nur hören die Feind, es ist ein heilinger Verteilungskrieg was mir führn! Wiar ein Phönix stema da, den s’ nicht durchbrechen wern, dementsprechend – mir san mir und Österreich wird auferstehn wie ein Phallanx ausm Weltbrand sag ich! Die Sache für die wir ausgezogen wurden, ist eine gerechte, da gibts keine Würschteln, und darum sage ich auch, Serbien – muß sterbien!

Stimmen aus der Menge: Bravo! So ist es! – Serbien muß sterbien! – Ob’s da wüll oder net! – Hoch! – A jeder muß sterbien!

Einer aus der Menge: Und a jeder Russ –

Ein anderer (brüllend): – ein Genuss!

Ein dritter: An Stuss! (Gelächter.)

Ein vierter: An Schuss!

Alle: So is! An Schuß! Bravo!

Der zweite: Und a jeder Franzos?

Der dritte: A Ross!  (Gelächter.)

Der vierte: An Stoß!

Alle: Bravo! An Stoß! So is!

Der dritte: Und a jeder Tritt – na, jeder Britt!?

Der vierte: An Tritt!

Alle: Sehr guat! An Britt für jeden Tritt! Bravo!

Ein Bettelbub: Gott strafe England!

Stimmen: Er strafe es! Nieda mit England!

Ein Mädchen: Der Poldl hat mir das Beuschl von an Serben versprochen! Ich hab das hineingeben in die Reichspost!

Eine Stimme: Hoch Reichspost! Unser christliches Tagblaad!

Ein anderes Mädchen: Bitte, ich habs auch hineingeben, mir will der Ferdl die Nierndln von an Russn mitbringen!

Die Menge: Her darmit!

[…]

Am 7.4.1917 sagte Hugo Ball, der große dadaistische Dichter, bei einem Vortrag in Zürich: «Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. Die Welt wurde monströs, unheimlich, das Vernunft- und  Konventionsverhältnis, der Maßstab schwand. Und als ein weiteres Element traf zerstörend, bedrohend. mit dem verzweifelten Suchen nach einer Neuordnung der in Trümmer gegangenen Welt zusammen: die Massenkultur der modernen Großstadt. Komplektisch drängten die Gedanken und Wahrnehmungen auf die Gehirne ein, symphonisch die Gefühle. Maschinen entstanden und traten anstelle der Individuen. Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, verzehrte die individuellen Gesichter in turmhohen Masken, verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das ich und schwenkte Meere von ineinandergestürzten Gefühlen gegeneinander.»

Protest gegen diesen Krieg war kaum les- oder hörbar. Patriotismus und Nationalismus bestimmten die Inhalte. In ausverkauften Kriegsliederabenden unterhielt sich das Bürgertum, und viele Dichter, meist in der Etappe beschäftigt, arbeiteten an schrecklichsten Feindbildern. Fritz Mautner, heute geschätzt als sprachkritischer Denker, ehrte den toten Soldaten als den «besseren» Menschen. Hermann Hesse, der Gefühlsduseleiwortakrobat, schrieb aus der sicheren Schweiz: «Ich fühle mich ganz für Deutschland und begreife den dort herrschenden, alles andere überwältigenden Geist von Nationalismus durchaus…»

Im September 1914 veröffentlichen 93 deutsche Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller ein hetzerisches, den Krieg glorifizierendes «Manifest der 93», darin heißt es u.a.: «Es ist nicht wahr, dass Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. Dafür liegen der Welt die urkundlichen Beweise vor. Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden. Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann.»

Erich Mühsam blieb, bis auf eine Ausnahme bei Kriegsbeginn, konsequenter Gegner dieses Krieges. Er gehörte zu der Minderheit, die in dieser «großen Zeit» kein Gehör bekam. Die Waffen sprachen und entsprechend den Mordwerkzeugen sprachen die Dichter mit. Dies war der schlimmste Niedergang der europäischen Geistesgeschichte. Carl Sternheim, der Satiriker, war 1914 für Hass und Blutrausch. Carl Zuckmayer empfand diesen Krieg als «Wollust». Rilke und Hofmannsthal kämpften per Lyrik oder bejubelten die Rüstung. Alfred Kerr, der Theaterkritiker, reimte 1914 gegen Churchills England: «Hunde dringen ein ins Haus – / Peitscht sie raus!»; zwei Jahrzehnte später fand Kerr in England politisches Asyl.

 

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