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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2015

nach dem Scheitern der Selbstreform der Bürokratie

von Paul B. Kleiser

Felix Jaitner: Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin. Hamburg: VSA, 2014. 174 S., 16,80 Euro.

Die Auseinandersetzungen um die Ukraine haben gezeigt, dass große Teile der deutschen Linken weiterhin dem Lagerdenken des Kalten Krieges verfallen sind und offenbar den großen historischen Bruchs, der sich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre unter Jelzin in Russland vollzog, nicht wirklich realisiert haben. Sofern sie nicht völlig beratungsresistent sind, kann ihnen das Buch Einführung des Kapitalismus in Russland von Felix Jaitner wärmstens empfohlen werden. Es beschreibt die tiefe Krise des bürokratischen Regimes, zu dessen Reform Gorbatschow 1985 angetreten war, das Scheitern dieser «Selbstreform der Bürokratie» und den durch Jelzin und die «Liberalen» vorgenommenen Übergang zum Kapitalismus und «neuen Autoritarismus».

Die unter Michail Gorbatschow vor dem Hintergrund einer stagnierenden Wirtschaftsentwicklung ausgelöste Modernisierungsdebatte hatte historische Vorläufer in den «Libermanschen Reformen» der 60er Jahre, die zu einer gewissen Dezentralisierung (Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die Fabrikdirektoren) der zentralen Verwaltungswirtschaft führten. Dennoch konnte der grundlegende Widerspruch dieser Wirtschaft, bei der in der Schwerindustrie die «Tonnenideologie» dominierte, die jedoch die sich stärker ausdifferenzierenden Bedürfnisse immer weniger befriedigen konnte, nicht aufgelöst werden.

In einer seiner ersten Reden prangerte Gorbatschow im März 1985 die größten Mängel der Sowjetwirtschaft an: «den technischen Rückstand, die schlechte Qualität zahlreicher Industrieprodukte (und damit die geringe Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten), die niedrige Rendite der oft übereilten und dann nicht voll zugeteilten Investitionen, die mangelhaft koordinierte und zunehmend konzeptlose Planung sowie die wachsende Verschwendung von Energie und Rohstoffen» (nach Ernest Mandel: Das Gorbatschow-Experiment (Frankfurt a.M. 1989)). Schon Juri Andropow hatte Anfang der 80er Jahre davon gesprochen, dass etwa ein Drittel der Arbeitszeit sinnlos vergeudet würde.

Mit dieser Verschwendung von Energie, Rohstoffen und menschlicher Arbeit ging eine unglaubliche Missachtung der Natur einher, was zu riesigen Umweltschäden und zu Luftverschmutzung führte. Bis heute sind das ökologische Desaster des Baikalsees und die atomaren Katastrophen von Tscheljabinsk und Tschernobyl Fanale einer gescheiterten Politik, die dazu geführt hat, dass etwa 10% der Fläche der früheren Sowjetunion langfristig unbewohnbar sind.

Die sowjetische Krise

Der technologische Rückstand zeigte sich auch und gerade in der Computertechnologie: Das lag nicht an der Grundlagenforschung, denn hier gab es kaum Rückstände gegenüber den USA oder der EWG; außerdem gehörten die sowjetischen Mathematiker zu den besten der Welt. Es lag eindeutig an der Innovationsfeindlichkeit der Bürokratie und an den (durchaus berechtigten) Befürchtungen, die mit den neuen Technologien verbundenen Kommunikationsmöglichkeiten würden die Atomisierung der Gesellschaft aufheben und das politische Monopol der Partei beenden helfen.

Die Stagnation und die soziale Krise der Sowjetunion wurden ergänzt durch das Aufbrechen nationaler Konflikte im Baltikum und im Kaukasus – seit den Zeiten Stalins prägte die sowjetische Politik gegenüber den nichtrussischen Völkern wieder ein großrussischer Chauvinismus und eine gewisse Verachtung gegenüber Menschen aus den unterentwickelten südlichen Landesteilen. Die Medien nahmen das damals kaum wahr, doch schon 1978 gab es bewaffnete Kämpfe zwischen Georgien und Abchasien, die nationalen Konflikte trugen schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion bei.

Schließlich kehrte eine ganze Generation von jungen Männern (sofern sie nicht gefallen waren) traumatisiert aus dem Afghanistankrieg zurück und es bildeten sich erste Kreise von Müttern, die diesen Krieg in Frage stellten – darauf musste Gorbatschow reagieren.

Nach dem Tod des letzten «Gerontokraten» Konstantin Tschernenko wurde Gorbatschow 1985 als Anführer des «Modernisierungsflügels der Bürokratie» zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. Sein Programm von «Glasnost» (Demokratisierung) und «Perestroika» (Umbau der Wirtschaft, Dezentralisierung und Modernisierung) versuchte – mit Hilfe der Einführung von Marktmechanismen besonders im Bereich der Landwirtschaft und der Dienstleistungen – die Wirtschaft auf den Wachstumspfad zurückzuführen.

Die Politik des Glasnost ermöglichte die Gründung verschiedener informeller Diskussionszirkel an russischen Universitäten, von denen der Club «Perestroika» in Leningrad und die Gruppe «Sintez» die wichtigsten wurden: in ihnen organisierten sich die radikalen Marktwirtschaftler. Jelzins späterer Finanzminister Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais (der die Privatisierungen von 1992 bis 1994 durchführte), waren die bekanntesten Mitglieder.

Es gab lange Debatten über die Vereinbarkeit von Markt- und Planwirtschaft; bei den «Reformern» fanden sich deutliche ideologische Einflüsse des Neoliberalismus. Gaidar u.a. forderten eine radikale «Entstaatlichung»: die Aufgabe staatlicher Preiskontrollen, die Liberalisierung des Außenhandels, Aufbau und Förderung eines privaten Finanzsektors und die personelle Entflechtung zwischen Beamten und Wirtschaft.

Dahinter stand die Ideologie, Demokratie und Marktwirtschaft gingen Hand in Hand, der Markt sei angeblich «effizient» und ressourcenschonend. Diese Pläne fanden natürlich Unterstützung im Westen; besonders Geoffrey Sachs mit seiner «Schocktherapie» beeinflusste die «Reformer» massiv.

Die Auflösung der Sowjetunion

Es kam zum Machtkampf zwischen Gorbatschow und dem neugewählten Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, dessen Vertrauter Jawlinski ein vierstufiges Verfahren zur Privatisierung und Einführung der Marktwirtschaft in 500 Tagen vorschlug: 1. Entmonopolisierung und Ermittlung der «Werte» der zu privatisierenden Firmen; 2. Preisliberalisierung; 3. Periode der Stabilisierung, Aufbau einer Arbeitslosen- und Sozialunterstützung (da die Sozialfunktion der Betriebe nun wegfiel); 4. zweiter Privatisierungsschub.

Am 17.März 1991 fand ein Referendum über einen neuen Staatsvertrag statt. Die drei baltischen Republiken sowie Georgien, Armenien und Moldawien beschlossen, aus der Union auszutreten. Der Putschversuch der konservativen Teile der Nomenklatura um Verteidigungsminister Dmitri Jasow, Innenminister Boris Pugo und KGB-Chef Wladimir Krjutschkow im August 1991, bei dem sich Jelzin an die Spitze der Gegner stellte, verhinderte die geplante Umwandlung der Sowjetunion in eine «Konföderation unabhängiger Staaten». Es kam zu einer massiven Streikwelle der Bergarbeiter in der ganzen UdSSR und zu zahlreichen nationalen Bewegungen. Gorbatschow schickte die Armee gegen die Protestbewegungen im Baltikum, was den Gang der Dinge beschleunigte. Jelzin trat aus der KPdSU aus, die daraufhin verboten wurde, wodurch Gorbatschow seine Basis verlor.

Jelzin hatte große Angst vor der Demokratiebewegung: «Vor meinen Augen erschien das Gespenst der Oktoberrevolution.» «Das, was wir machen mussten, kann man entweder unter einer blutigen Diktatur à la Chile oder unter einem charismatischen Führer durchsetzen, der die breiten Massen hinter sich bringen kann.» Die große Mehrheit der (oberen) Nomenklatura stand aber hinter Jelzin, weil er ihren Machterhalt garantierte und ungeahnte Bereicherungsmöglichkeiten eröffnete («es war vorteilhafter, den Besitz untereinander aufzuteilen»).

Somit erfolgte ein autoritärer Übergang zum Kapitalismus und die Herausbildung der Oligarchenstruktur. Die Belowescher Vereinbarung zwischen den Präsidenten der Ukraine, Weißrusslands und Russlands (Krawtschuk, Schuschkewitsch und Jelzin) setzte (ohne jedes Mandat!) der Sowjetunion zum 31.Dezember 1991 ein Ende.

Diese Entwicklung wurde 1993 durch die gewaltsame Niederschlagung des Parlaments noch verstärkt; dadurch kam es zum endgültigen Bruch zwischen der Regierung und der Demokratiebewegung. Der neue Autoritarismus besteht bis heute, doch nach den Kämpfen und Wirren unter Jelzin und der Wirtschaftskrise 1997/98 stellte der KGB-Mann Putin, der heutige Chef des Oligarchenkapitalismus, die staatliche Autorität wieder her.

Die Schocktherapie

Der Kapitalismus wurde also von oben, durch den Staat, mittels «Voucher-Privatisierung» durchgesetzt, die 25000 Betriebe betraf. Anfang 1992 wurden die Preise freigegeben und ein Kapitalmarkt geschaffen. Es kam zu einer Hyperinflation (erst 874%, später 307%) und damit zu einer unglaublichen Enteignung der großen Mehrheit der Bevölkerung. Eine sich ausbreitende informelle Ökonomie entstand – Tauschgeschäfte bestimmten die 90er Jahre –, Korruption und Kriminalität griffen in extremer Weise um sich.

Die Gewinner dieser «ursprünglichen Akkumulation» waren eine dünne Schicht von Oligarchen sowie einige Mittelständler, die in neuen Technologienmachten; man sprach von einer «Lateinamerikanisierung Russlands». Bis 1995 wurden fast alle Banken in Aktiengesellschaften umgewandelt, denen es zumeist an Kapital fehlte und die häufig bei illegalen Geschäften mit Währungen und Rohstoffen mitmischten.

Der Russlandexperte Kai Ehlers schreibt über diese Prozesse: «Staunend steht man vor der Tatsache, mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Umfang der Staat seine ungeheuren Vermögen an die Bürger verkauft – aber es wird nicht akkumuliert, es wird nicht investiert, es wird nur Volksvermögen in privaten Reichtum transferiert. Einen solchen Vorgang hat es in der Geschichte noch nie gegeben.»

Die sozialen Folgen waren verheerend: Es kam zum Zerfall des sowjetischen Produktions- und Verteilungsraums, zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 54% (auf den Stand der 60er Jahre), die Lebenserwartung fiel von fast 70 auf 65 Jahre, bei den Männern sogar auf 58 Jahre, was dem Niveau eines Entwicklungslands entspricht. 1996 gab es bereits 3,5 Millionen Bettler, 1,3 Millionen Straßenprostituierte, auf 100000 Einwohner kamen 30 Morde (in den USA 7).

Das System der zentralen Versorgung brach zusammen, 90% der Kartoffeln, 67% des Gemüses und 40% des Fleischs und der Milch kamen nun von privaten Böden, was viele nicht bezahlen konnten. Der Abstand zwischen den oberen und den unteren 10% liegt heute bei 1:26 und ist damit doppelt so groß wie in den USA.

Die Jelzin-Politik machte allen Ansätzen zu einem «demokratischen Sozialismus» den Garaus. Unter diesen Bedingungen war und ist keine wirkliche Modernisierung möglich, Russland verkommt mehr und mehr zu einem «extraktivistischen Staat», der in den Weltmarkt eingegliedert, aber dort randständig ist. Der Anteil von Öl, Gas und Kohle an den Exporten liegt bei rund 70%, die Metalle bringen weitere 12–15%. Sonst ist nur die Luft- und Raumfahrtechnologie konkurrenzfähig (weil früher etwa 15% des Bruttoinlandsprodukts ins Militär gesteckt wurden). Die Umweltsituation ist vielerorts nach wie vor dramatisch, doch inzwischen wehren sich auch viele Menschen (etwa in Sotschi). In mancherlei Hinsicht ist Russland zur Lage vor der Oktoberrevolution zurückgekehrt.

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