Kapitalismus ohne Demokratie
von Elfriede Müller
Katharina Bluhm: Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion. Berlin: Matthes und Seitz, 2024. 490 S., 34 Euro
Anders als die unbefriedigenden, sehr stark auf Putin fokussierten Narrative zur russischen Politik, die wenig analysieren, aber umso mehr moralisieren, um kriegstauglich zu machen, entwirft die Soziologin und Philosophin Katharina Bluhm ein analytisches Panorama, das den aktuellen Konflikt nicht nur verständlicher macht, sondern die russische Entwicklung als Teil eines weltweiten Prozesses begreift, der nach 1989 einsetzte und das Verhältnis zwischen Ost und West grundlegend veränderte.
Das ist eine Entwicklung, die den ideologischen Bruch zwischen Russland und dem Westen zementiert und dem russischen Angriffskrieg den Weg geebnet hat, sagt Bluhm. Dazwischen gab es jahrzehntelang eine Annäherung Russlands an die USA und Europa, die 1996 in der direkten Einflussnahme der Clinton-Administration auf die Wahlen und den »westlichen« Kandidaten Jelzin gipfelte.
Im Schlepptau des alten Trunkenbolds gab es eine Gruppe junger Liberaler – darunter auch ein arbeitsloser Geheimdienstler, der auf den Namen Wladimir Putin hörte. Sie trieben zunächst die Privatisierungen voran, orientierten sich explizit am chilenischen Modell des Neoliberalismus, indem sie sich direkt von General Pinochet beraten ließen, und testeten, wie liberaler Kapitalismus ohne Sozialprogramme und Demokratie funktioniert.
Das Ergebnis ist Bluhm zufolge ein oligarchischer, rohstoffgetriebener Staatskapitalismus, der allerdings von niemanden intendiert gewesen sei. Die Autorin schildert die komplexe ideologische Gemengelage: westlich orientierte Liberale, die ins »Haus Europa« strebten, Wiederbelebungsversuche des Eurasianismus, die Idee einer eigenständigen Großmacht Russland, die die Zukunft zurückgewinnen will, Schwanken zwischen staatlicher Regulierung und einem entwickelten Binnenmarkt sowie finanzmarktgetriebener und kultureller Globalisierung.
Die Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus und dem Verlauf der Globalisierung und deren Auflösung im Autoritarismus ist kein russisches Alleinstellungsmerkmal. Bluhm behauptet, dass es bis heute in Russland keine umfassende, in sich geschlossene hegemoniale Ideologie gebe. Der Nationalismus setze sich, auch aufgrund der gescheiterten Erfahrung der Westintegration, in Russland ebenso durch wie im Rest der Welt. Die Autorin findet auch die Zuschreibung »Populismus« oder »Faschismus« für Russland unzutreffend, sie spricht lieber von einer allgemeinen Entpolitisierung.
Neuer Konservatismus
Schritt für Schritt rekonstruiert Bluhm die Neuerfindung des russischen Konservatismus in seiner aktuellen Ausprägung. Sie erläutert, wie der Liberalismus in Russland in Misskredit geriet und wie ein neuer Konservatismus zur Klammer der aktuellen Entwicklung wurde, welche Rolle die russisch-orthodoxe Kirche dabei spielte und warum die konservative Bewegung sich nur zum Teil durchsetzen konnte. Am Ende steht ein Kriegführungsstaat als neue Variante des russischen Staatskapitalismus.
Die Stärke von Bluhms Ansatz besteht darin, dass sie erstens davon ausgeht, dass geschichtliche Verläufe nicht zwingend sind und es auch ganz anders hätte kommen können. Zweitens, dass die aktuelle Situation Ergebnis des Zusammenspiels internationaler und russischer Politik ist. Drittens verharrt sie nicht bei der albernen Frage: »Waffen oder keine«, sondern dringt tief in die politische Ökonomie des Konflikts ein, dessen Kritik bei genauerer Betrachtung so viel mehr erklärt.
Viertens wird deutlich, dass Russland Teil einer für alle Sozialist:innen beunruhigenden gesellschaftlichen Entwicklung hin zum Autoritarismus ist. Und fünftens stellt sie klar, dass Russland nicht das bedrohliche Andere und ein binäres Gegenmodell zum wertegesteuerten Westen darstellt, sondern Teil dieser einen degradierten Welt ist.
Die Priorisierung von Privatisierungen gegenüber der Stärkung von Demokratie und Staatlichkeit nach der Auflösung der Sowjetunion, wurde sowohl von den USA als auch Europa unterstützt, weil sie unmittelbar davon profitierten. Wer dazu nicht bereit war, Millionen in die Armut zu treiben und dafür undemokratische Mittel einzusetzen, trägt zur Rückkehr des Kommunismus bei, lautete die antikommunistische Devise in Ost und West. Für alle, die es vergessen haben sollten: In den 90er Jahren war der Antikommunismus eine weltweit dominante Ideologie.
Wo blieben die Sozialist:innen?
Zunächst wurde die Oppositionsbewegung aus linken, in der Demokratiebewegung verankerten Dissidenten, die an einer demokratischen Sowjetunion festhalten wollten, vom Neoliberalismus verdrängt. Mit ihrem Ausschalten begannen die Ablösungskonflikte von Nord-Karabach, Georgien, Vilnius und Riga und 1991 der Ukraine. Mit ihnen entwickelte sich ein ethnischer Nationalismus auf allen Seiten. Die Schocktherapie forcierte einen Weg zur Marktwirtschaft in 500 Tagen.
In der Allianz von Boris Jelzin, den russischen Liberalen und den Separatisten liegt für viele die Ursache des Kollapses der Union. Die Linken setzten auf eine Mischung aus De Gaulles technokratischem Staatskapitalismus, sowie dem chinesischen, ungarischen und jugoslawischen Modell. Das chilenische setzte sich letztendlich durch. »Soziale Demokratie« wurde durch »echten Liberalismus« ersetzt.
Bluhm beschreibt detailliert die umfangreichste Privatisierungsaktion der Menschheitsgeschichte und die darauf folgenden Verwerfungen – etwa die Schrumpfung der russischen Wirtschaft um 40 Prozent mit einer im Ergebnis unvorstellbaren gesellschaftlichen Ungleichheit. Diese Privatisierungsorgie gepaart mit den Präsidentschaftswahlen von 1996 und der Auflösung der Sowjetunion bildeten die Folie für die konservative Gegenbewegung und deren zeitgenössisches Kriegsregime.
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