Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2019

Verkehrsinitiativen und Infrastrukturkonzepte benötigt
von Michael Heldt

Öko, Bio, Nachhaltig – fast jede Kinowerbung versucht derzeit damit zu punkten. Ein Indiz dafür, dass niemand an der Fridays-for-Future-Bewegung vorbeikommt. Die immer noch weit verbreitete Hoffnung auf einen grünen Kapitalismus zeigt nicht zuletzt der anhaltende Hype der Grünen. Er verspricht Stillstand und Wandel zu gleich. Ein gesichertes «Weiter so» für einen selbst und Wandel für die anderen, die einfach mal anders einkaufen sollten. Bloß: Das Ende der Klimakatastrophe kann man sich nicht kaufen. Die Klimakatastrophe muss auf mehreren Gebieten angegangen werden:
– Energie- und Wärmewende – hier gibt es die breit getragenen Aktivitäten der Klimacamps mit dem Fokus auf die Braunkohle. Agrarwende – hier hört man nicht so viel. Auch wenn durchaus viele Landwirte bei den Protesten gegen TTIP mitgemacht haben. Auch die «Wir haben es satt»-Demonstrationen im Januar werden von Jahr zu Jahr größer.
– Verkehrswende – hier entsteht Bewegung, aber noch ist die Richtung nicht klar. Der Verkehr ist etwa für 20 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Im Unterschied zu anderen Bereichen stieg der Ausstoß von CO2 seit 1990 sogar. Dies liegt vor allem an der Zunahme von Verkehr, seit 1995 hat der Straßengüterverkehr um 20 Prozent zugenommen, der Pkw-Verkehr um knapp 18 Prozent. Der Dieselskandal hat nochmal besonders deutlich gemacht, wie abwegig die Verkehrspolitik der Regierung ist. Sie will vor allem nicht die heilige Kuh Auto gefährden. Neue Technologien wie die E-Mobilität bringen VW im Zweifel einen frischen Absatzmarkt. Um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, müssten bis 2030 mindestens 70 Mio. Tonnen CO2-Emissionen im Verkehrssektor eingespart werden, das sind 41 Prozent.

IAA als Kristallisationspunkt
Die Internationale Automobil-Ausstellung präsentiert mit Unterstützung der Bundesregierung ihre Vision der Mobilitätswende: SUVs, mehr PS etc. Dagegen wird am 14.September zu einer Demonstration aufgerufen. Zudem ruft Sand im Getriebe zu Aktionen zivilen Ungehorsams auf. Statt Automobilismus wird der Ausbau der Radinfrastruktur und des ÖPNV gefordert. Die IAA wird damit zu einem Kristallisationspunkt. Direkt durchsetzen wird man an diesem Tag nichts, aber ein Zeichen setzen, Öffentlichkeit schaffen, vielleicht viele zum Nachdenken bringen.
Es wäre jedoch politisch fatal, wenn die Organisierung von Protesten zur jährlichen IAA auf Dauer sehr viele Aktive an sich binden würde. Punktuelle Mobilisierungen können nie Selbstzweck sein, sondern erfüllen ihren Zweck, wenn sie verbunden sind mit lokalen Aktivitäten und denen neuen Anschub verleihen.

Verkehrsinitiativen in die Fläche tragen
Der Verkehrsbereich ist überall. Nicht überall gibt es ein Kohlekraftwerk, aber überall gibt es Straßen. Von Mobilitätsproblemen sind alle betroffen, wenn auch nicht alle gleich. In den letzten Jahren sind zahlreiche Initiativen entstanden, die klar und entschieden für den Ausbau der Radwege eintreten. Problematisch wird es, wenn die Radwege nicht nur gegen das Auto, sondern auch gegen den ÖPNV gestellt werden. Letzterer hat für uns Vorrang, das ergibt sich aus unserer Klassenperspektive. Der ÖPNV wird nicht nur von vielen für den Weg zur Arbeit genutzt, er ist gerade auch für jene notwendig, die am meisten auf ihn angewiesen sind: Menschen mit Behinderungen, Leute mit wenig Geld.
Ich bin seit fast vier Jahren in einer Verkehrsinitiative aktiv, und wenn andere fragen «wo finden wir die (arbeitende) Klasse?», so kann ich antworten: Im Bus findet ihr sie, im Kollektivverkehr. Oft sind die Fahrpreise jedoch zu hoch, das Angebot nicht gut genug ausgebaut. Hier kann man am Ort um Verbesserungen kämpfen. Denn die Mobilitätswende wird kommen – die Frage ist nur, wie sie aussieht und gegen wen sie sich richtet.
In Hessen etwa fühlen sich CDU und Grüne ganz vorn bei der Ticketgestaltung. In den letzten Jahren wurden hier Schülertickets für 365 Euro eingeführt, Landesbeschäftigte haben ein Landesticket und ab Januar können auch Senioren das hessenweite 365-Euro-Ticket erwerben. Wer bisher leer ausgeht, sind gerade diejenigen, die prekär arbeiten oder vom Jobcenter abhängig sind. Die vergünstigten, gruppenbezogenen hessenweiten Jahrestickets führen bislang nicht zum Ausbau des Nahverkehrs. Im Gegenteil, sie führen letztlich zur Entsolidarisierung. So wie Studierende wegen der Semestertickets selten im Kampf um Fahrpreissenkung an vorderster Front stehen, wurden nun weitere Bündnispartner erstmal ruhiggestellt. Es gilt daher, für den Ausbau des ÖPNV und die Senkung der Fahrpreise bis hin zum Nulltarif lokale Initiativen mit Durchschlagskraft aufzubauen.

Tarifvertrag Nahverkehr
Ganz neu könnten sich die Karten 2020 mischen. Am 30.Juni 2020 werden bundesweit alle Tarifverträge im Nahverkehr (TVN) gekündigt und neu verhandelt. Damit ist es Ver.di gelungen, aus einem Flickenteppich mit unterschiedlichen Laufzeiten eine Vereinheitlichung zu erreichen, um bundesweit koordiniert in Tarifverhandlungen zu treten. Es soll dabei nicht nur um mehr Geld, sondern auch um wesentliche Entlastungen für die Beschäftigten im ÖPNV gehen. Dass Fahrpersonal fehlt, ist schon lange bekannt. Ohne Personal wird es keinen Ausbau des ÖPNV geben. Aber ohne Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch nicht mehr Personal. Die Interessen von Nutzern und Fahrerinnen sind daher in diesem Punkt identisch und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine klassenorientierte Verkehrspolitik.
Im Juni 2019 verabschiedeten 110 Betriebs- und Personalräte aus Nahverkehrsunternehmen die «Kassler Erklärung» zu Klimaschutz und Arbeitsbedingungen. Hier fordern sie umfassende Investitionen in Personal und Ausbau, energieeffiziente und emissionsfreie Fahrzeugflotten sowie eine solide Finanzierung. Dem Nulltarif für alle stehen sie offen gegenüber, spürbar ist jedoch die Sorge, dass dieser auf dem Rücken der Beschäftigten finanziert wird. Beim Punkt Finanzierung wird vor allem darauf hingewiesen, dass die Kommunen die Kosten nicht allein stemmen können, dafür müssen auch die Unternehmen besteuert werden. Das ist sehr zu begrüßen und sehr viel progressiver als die Defensivforderung nach einer Bürgerumlage. Die Tarifrunde wird Klima- und Klassenpolitik, öffentliche Daseinsvorsorge und gesellschaftliche Fragen miteinander verbinden.

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