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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2014
Warum USA und Türkei die kurdische Stadt verbluten lassen*

von Nick Brauns

Nur mit ihrem Mut und ihren Kalaschnikows trotzen einige tausend Männer und Frauen in der Stadt Kobanê im Norden Syriens bereits seit Mitte September den mit Panzer und Artillerie vorrückenden mörderischen Gotteskriegern des Islamischen Staates (IS).Die kurdischen Kämpfer vergleichen die Schlacht um Kobanê mit der Schlacht von Stalingrad, die die Wende im Zweiten Weltkrieg einleitete. Sollte der IS, der im Juni die irakische Millionenstadt Mossul nahezu kampflos einnahm, hier scheitern, dann wäre der Nimbus seines Erfolgs, der ihm ständig neue Rekruten zuführt, zerstört. Würde Kobanê aber fallen, könnte der IS seine Kräfte gegen die beiden anderen damit voneinander isolierten Kantone des kurdischen Selbstverwaltungsgebietes Rojava – Afrin im Westen und Cizire im Osten – wenden und sein Kalifat über hunderte Kilometer entlang der türkischen Grenze festigen.

Schon die Geschichte der an der Grenze zur türkischen Provinz Urfa gelegenen Stadt Kobanê kündet von der unheilvollen Rolle der imperialistischen Großmächte, die mit willkürlicher Grenzziehung zur Aufteilung ihrer Einflusssphären viel von dem Zündstoff legten, der bis heute keinen Frieden einkehren lässt. Der kurdische Name Kobanê leitet sich vom Wort «Kompanie» ab, da die heutige Stadt auf eine 1912 errichtete Arbeitersiedlung der Bagdadbahn-Kompanie zurückgeht. Mit jener legendären Bahnlinie wollte sich das deutsche Kaiserreich Einfluss im Osmanischen Reich und Zugang zu den Ölfeldern Mesopotamiens sichern. Nach dem für Kaiser und Sultan verlorenen Ersten Weltkrieg markierte der mitten durch kurdisches Siedlungsgebiet führende Schienenstrang gemäß des anglo-französischen Syces-Picot-Abkommens bis heute die Grenze zwischen den neu geschaffenen Staaten Syrien und Türkei. Im Zuge der von der syrischen Regierung ab den 60er Jahren betriebenen Arabisierungspolitik gegenüber den kurdischen Landesteilen wurde Kobanê, wo außer Kurden auch eine arabische und turkmenische Minderheit lebt, in Ain al-Arab – Quelle der Araber – umbenannt.

Rojava – ein Modell

Von Kobanê aus nahm die Selbstbefreiung Rojavas vom Baath-Regime mit einem Volksaufstand in der Nacht auf den 19.Juli 2012 ihren Anfang. Unter Anleitung der Partei der Demokratischen Union (PYD), einer Schwesterpartei der in der Türkei aktiven Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), wurde mit dem Aufbau einer auf multiethnischen und multireligiösen Volksräten beruhenden Selbstverwaltung begonnen. «Der Führer der türkischen Kurden, Abdullah Öcalan, hat ein Gesellschaftsmodell für ein neues Zusammenleben der verschiedenen Ethnien und Konfessionen im Nahen Osten verkündet, das sich sehr stark auf direkte Demokratie und Partizipation stützt», erklärt Günter Seufert, der Türkeiexperte-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung in außenpolitischen Fragen berät, die symbolische Bedeutung von Kobanê für PKK-Anhänger «als der Ort, wo zum erstenmal das Gesellschaftsmodell ihres politischen Führers verwirklicht worden ist. In ihren Augen symbolisiert Kobanê die Zukunft der Kurden im Nahen Osten.»

Die demokratische Selbstverwaltung in Kobanê brach mit dem wie ein Zwangskorsett über das Bevölkerungsmosaik des Mittleren Ostens gelegten europäischen Prinzip monolithischer Nationalstaaten ebenso wie mit dem 100jährigen Prinzip von «Spalte und herrsche», dessen Nutznießer stets die Großmächte und ihre lokalen Vasallen waren. «Dieses demokratische Modell ist nicht nur Modell für Syrien, sondern für alle Menschen in der Region», meint der PYD-Vorsitzende Salih Muslim. «Bei uns verteidigen Muslime Kirchen, sie verteidigen Jesiden, Andersgläubige. Das gab es im Nahen Osten noch nie. In Rojava findet ein Mentalitätenwechsel statt, eine Demokratisierung. Davor fürchten sich viele. Auch davor, dass wir Frauenrechte stärken.»

Die Rolle der Türkei

Der IS greift Kobanê von drei Himmelsrichtungen aus an. Die vierte Front im Norden bildet die Türkei. Bewohner der Grenzorte beobachteten, wie kurz vor Beginn der IS-Offensive Mitte September hunderte Jihadisten in türkischen Bussen an die Grenze gebracht und aus Zügen Munition entladen wurde. Während die Jihadisten von der Türkei aus passieren konnten, sicherte die mit Panzern aufgefahrene türkische Armee die Grenze gegen kurdische Freiwillige ab, die sich den Verteidigern Kobanês anschließen wollten. Als sich die Wut über die offene Parteinahme der AKP-Regierung für den IS in Massenprotesten entlud, erschossen Polizei, Armee und islamistische Paramilitärs in den kurdischen Landesteilen der Türkei innerhalb weniger Tage mehr als 30 Demonstranten.

Das türkische Parlament ermächtigte Anfang Oktober die Regierung zum Truppeneinmarsch in den Irak und nach Syrien. Noch vor dem IS wird in der Begründung die PKK als terroristische Hauptbedrohung aufgeführt. Die Strategie der AKP zeichnet sich deutlich ab: Zuerst soll Kobanê durch den IS sturmreif geschossen und entvölkert werden. Anschließend will die türkische Armee eine Sicherheitszone einschließlich einer gegen die syrischen Regierungstruppen gerichteten Flugverbotszone in Nordsyrien schaffen.

Mit dem Angriff auf Rojava soll zugleich die kurdische Befreiungsbewegung in der Türkei soweit geschwächt werden, dass sie sich dem Diktat der AKP beugt. Während türkische Flugplätze für Einsätze der internationalen Anti-IS-Allianz gesperrt bleiben, flog die türkische Luftwaffe Mitte Oktober erstmals seit Beginn der Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan wieder Luftangriffe auf PKK-Stellungen. «Die Schwächung der kurdischen PKK scheint der Türkei wichtiger zu sein als der Kampf gegen die IS-Terroristen», beklagt selbst der CSU-Außenpolitiker Andreas Schockenhoff die falsche Prioritätensetzung der türkischen Regierung.

Die Haltung der USA

Die Rettung von Kobanê scheint aber auch für die unter US-Führung gebildete Allianz aus rund 40 Staaten – darunter bisherige IS-Finanziers wie Saudi-Arabien und Qatar – keine Priorität zu besitzen. Während die Jihadisten mit dutzenden Kampfpanzern den Belagerungsring um Kobanê schlossen und zehntausende Menschen über die türkische Grenze flohen, bombardierte die Allianz fernab der kurdischen Enklave sog. strategische Ziele wie Ölförderanlagen. «So schrecklich es auch ist, in Echtzeit das Geschehen in Kobanê zu verfolgen, so wichtig ist es, einen Schritt zurückzutreten und das strategische Ziel zu verstehen», stellte Pentagonsprecher Konteradmiral John Kirby die Öffentlichkeit auf den Fall von Kobanê ein. Dieses strategische Ziel ist die Stabilisierung des Irak. Erst als der IS nach zweiwöchigen Kämpfen in der zweiten Oktoberwoche bereits in die Vororte von Kobanê eingedrungen war, begannen zielgenaue Luftangriffe, die von den Verteidigern der Stadt als Entlastung wahrgenommen wurden. Angesichts des für die Pentagon-Strategen unerwartet entschlossenen Widerstands in Kobanê und der internationalen Proteste wollte die US-Regierung offenbar nicht als Papiertiger dastehen.

Einen ausländischen Bodentruppeneinsatz lehnen die Verteidiger von Kobanê ab. Stattdessen fordert PYD-Chef Muslim einen Korridor über türkisches Territorium zu den beiden anderen zu Rojava gehörenden Kantonen sowie zur kurdischen Autonomieregion im Nordirak, um Waffen und Kämpfer nach Kobanê zu bringen. «Wenn die Unterstützung uns erreicht, sind wir auch allein in der Lage, den IS zu vertreiben.» Gemeinsam mit den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ kämpfen einige Brigaden der Freien Syrischen Armee (FSA) sowie Freiwillige aus der Türkei, darunter neben PKK-Anhängern auch Mitglieder kommunistischer Parteien, in Kobanê.

Die US-Luftwaffe könnte die Panzer des IS vor Kobanê innerhalb von Stunden vernichten. Da dies bislang nicht geschah, beklagt selbst Abu Leyla, Kommandant der Brigade Shams Al-Shamal ein «Komplott». Bei dieser an der Seite der YPG in Kobanê kämpfenden FSA-Einheit handelt es sich um solche «gemäßigten Rebellen», die der Westen weiter aufrüsten will. Doch die in Kobanê kämpfenden FSA-Einheiten bekommen keine ausländische Unterstützung, schließlich haben sie sich mit der YPG die aus Sicht Washingtons und Ankaras falschen Bündnispartner gesucht.

Der Gedanke der Kommune

Angesichts dieser internationalen Verschwörung gegen Kobanê drängt sich der Vergleich mit der Pariser Kommune von 1871 auf. Als sich das Volk von Paris im Deutsch-Französischen Krieg 1871 erhob und mit der Ausrufung der Kommune sein Schicksal in die eigene Hand nahm, entließ das siegreiche Preußen französische Kriegsgefangene und gab ihnen Waffen zur Niederschlagung dieser ersten sozialistischen Räterepublik. Denn darin waren sich alle reaktionären Mächte der damaligen Zeit einig: Der Kommune-Gedanke – diese «endlich entdeckte politische Form» der Befreiung der Arbeiterklasse (Marx) – bedrohte ihr Herrschaftsfundament in jedem Land. «Die Kommune war die entschiedene Negation jener Staatsmacht und darum der Beginn der sozialen Revolution des 19.Jahrhunderts. Was daher immer ihr Geschick in Paris ist, sie wird ihren Weg um die Welt machen.»

Diese Worte schrieb Karl Marx nieder, als die isolierten Kommunarden noch im Abwehrkampf gegen die militärisch weit überlegenen Versailler Truppen standen. Sie gelten auch für die Kommune von Kobanê als Keimzelle eines neuen, demokratischen und selbstbestimmten Mittleren Ostens.

15.10.2014

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