von Pierre Rousset
Mélenchon hat eine Nase für das Neue – das ist eine seiner Stärken. Er ist auch ein begabter Kommunikator, was er für sich nutzt bis hin zum Missbrauch. In einer Präsidialdemokratie wie in Frankreich ist das ein Trumpf.
Mélenchon verbindet seine Person ganz mit seiner politischen Rolle – er sieht sich als Verkörperung Frankreichs. Die Gleichsetzung eines politischen Projekts mit dem persönlichen Schicksal findet man nicht nur bei Mélenchon. Sie verbindet ihn mit den Praktikern und Theoretikern des Linkspopulismus: Chantal Mouffe* und Ernesto Laclau, Pablo Iglesias und Iñigo Errejón…
Die belgische Theoretikerin des Linkspopulismus, Chantal Mouffe, verteidigt Mélenchon auf der Website von Verso Books als «radikalen Reformisten gegen eine überhandnehmende Oligarchie». Sie differenziert vorsichtig zwischen dem lateinamerikanischen Kontext (mit seinen ultraoligarchischen Gesellschaften) und dem europäischen Kontext (wo man die Links-rechts-Polarisierung nicht ignorieren kann); aber auch dort geht es um eine demokratische Neugründung, die der Dominanz des oligarchischen Systems ein Ende setzt.
Raquel Garrido, eine Sprecherin von Mélenchon und Angehörige seiner nächsten Umgebung, äußert sich in ihrem Interview mit dem US-amerikanischen Magazin Jacobin weniger vorsichtig. Die Schlüsselbegriffe der Kampagne von 2017 sind Humanismus, Populismus, Patriotismus und Verfassung. France Insoumise (FI)ist eine «bürgerschaftliche Basisbewegung, unsere Ideologie ist humanistisch. In vielerlei Weise haben wir die populistische Strategie von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau angenommen. Der Populismus ist ein Programm. Es ist eine Demarkationslinie zwischen ‹ihnen› (der Oligarchie) und ‹uns› (dem Volk). Unsere Bewegung zielt darauf ab, etwas über die Parteien hinaus aufzubauen. Sie wird bewusst für ein Projekt aufgebaut, das sich von dem Parteienkartell unterscheidet, das wir 2012 hatten.»
Die Situation ist «reif» für «das, was wir vorschlagen. Wir brauchen eine ‹friedliche Lösung› für die vielfältigen Spannungen, die die französische Gesellschaft durchziehen. 2012 konnte Mélenchon als ‹zu radikal, zu subversiv› erscheinen. Heute ‹erscheint er als Weiser›.»
Vom Radikalen zum «Weisen»
Jean-Luc Mélenchon ist immer noch «Jauresianer»**, d.h. er bezieht sich weiter auf die Arbeiterklasse, aber im Rahmen der Republik. Doch seine Wahlkampagne hat deren Symbole willentlich beseitigt. Im Verlauf der Wochen verschwanden die roten Fahnen zugunsten der Trikolore, «Die Internationale» zugunsten der «Marseillaise». Das Wort «humanistisch» genügte sich selbst. Nach Hammer und Sichel verschwand sogar die geballte Faust, um dem griechischen Buchstaben Phi Platz zu machen.
«Phi» wurde zum Logo der Bewegung und war auf allen Wahlzetteln zu sehen. Es ist ein Wortspiel: «Phi» wie FI, es bedeutet aber sehr viel mehr. «Phi» evoziert Philosophie, Harmonie, Liebe – und hat keine politische Vergangenheit. Dieses Symbol ist weder rechts noch links. Die Harmonie aber wird von Mélenchon selbst oft mit arroganten und verächtlichen Aussagen gebrochen. Phi ist deshalb nicht weniger ein neutrales Identifikationsmittel.
Mélenchon identifiziert sich absolut nicht mit den Revolutionen des 20.Jahrhunderts. Für ihn gibt es die Pariser Kommune von 1871, es gibt Jean Jaurès – und seitdem Hugo Chávez. Er gehört einer politischen Richtung an, die in Frankreich ziemlich verbreitet ist: links in sozialen Fragen und zugleich nationalistisch.
Die Arbeit stand im Mittelpunkt seiner Wahlkampagne (die Reform des Arbeitsgesetzes usw.), nicht die Arbeiterklasse. Die «99 Prozent», das ist das Volk gegen die Oligarchen. Wiederholt hat er die größten Wahlkundgebungen zustandegebracht. Für die Zehntausenden, die das miterlebt haben, wurde die Klassenidentität unsichtbar. Das wird Konsequenzen haben, denn Frankreich ist eines der westeuropäischen Länder, wo die Klassenidentität einst absolut zentral war, bevor sie nachhaltig marginalisiert und fragmentiert wurde – viel mehr, scheint mir, als in Großbritannien oder Belgien. Das ist ein Sieg der neoliberalen Ideologie. Und, obwohl beide in einer linkssozialdemokratischer Tradition stehen, ist Jean-Luc Mélenchon in dieser Hinsicht das Gegenteil von Jeremy Corbyn.
Die Linke ersetzen – wodurch?
Ist Linkspopulismus eine vorübergehende Taktik? Juan Carlos Monederos, ein Gründungsmitglied von Podemos, will dieses Mittel nur kurz, in der Anfangszeit der Bewegung angewandt wissen und in einer späteren, der «konstituierenden» Phase wieder aufheben. In diesem Sinne kritisiert er die Konzeptionen von Iñigo Errejón von Podemos:
«Die Verteidiger der ‹populistischen Hypothese›, allen voran Iñigo Errejón, dachten, man müsse nur die Elemente mobilisieren, die uns siegen helfen, und wir sollten nicht Themen ansprechen, mit denen wir Stimmen verlieren. Also sollten wir nur über abstrakte Dinge reden, um soviel Unterstützung zu bekommen wie möglich: das Vaterland, die Kaste, die Korruption. So wird Bedeutung entsorgt, werden die Möglichkeiten der Veränderung letztlich beseitigt. Wenn Laclau sagt, Politik und Ökonomie seien ein- und dasselbe, schiebt er die materiellen Bedingungen des Klassenkampfs beiseite. Ich halte das für einen Fehler.»
Mélenchon könnte sich sehr wohl dazu entschließen, im Parlament einen Klassendiskurs wiederaufzulegen, um das Feld nicht allein der PCF zu überlassen. Aber ist es so einfach, etwas zu rekonstruieren, das man vorher wirksam zerlegt hat?
Das Netzwerk der organisierten Linken ersetzen, ist ein zentrales Thema bei Mélenchon. Die Zeit der Parteien ist vorbei, ein Hoch auf die Bewegungen! Er begnügt sich nicht damit, den Niedergang der linken Parteien zu konstatieren, er trägt aktiv zu ihrer Marginalisierung bei. Dafür bietet die Gemengelage in Frankreich einen guten Resonanzboden, das hat ja auch Macron mit großem Erfolg betrieben.
Das ist eine Entscheidung, die angesichts der bestehenden politischen Konjunktur folgenreich sein kann. Mit wem will man gegen Macron eine soziale und demokratische Front des Widerstands aufbauen, wenn man den Ehrgeiz hat, alle möglichen in Parteien organisierten Verbündeten zu «ersetzen»? Nachdem er zuerst säuberlich das Terrain der Wahlen (Sache der Politik) und vom Terrain des Sozialen (Sache der Gewerkschaften) voneinander geschieden hat, scheint sich Mélenchon nun mit seiner Parlamentsfraktion als natürlichen parlamentarischen Bündnispartner der Kämpfe anzubieten, die von den Gewerkschaften zu führen sein werden. Doch die Ersetzung linker Parteien ist das Gegenteil von ihrer Zusammenführung.
Die Struktur von FI
Mélenchon spielt mit der Vorstellung, die Parteien umgehen zu können, sie vollständig an den Rand zu drängen, sie zu zersetzen, aber er hat noch nicht erklärt, wodurch er sie ersetzen will. France Insoumise wurde nicht für die Dauer konzipiert, sie war ein reines Wahlkampfinstrument. Man konnte nicht beitreten, man konnte keinen Beitrag zahlen, man konnte nur für den Wahlkampf spenden. Beitrag zahlen heißt ja auch, Mitglied werden, mit Rechten und Pflichten. Die Unterstützung von FI kommt aber ohne Rechte und Pflichten aus. Von dir wird nichts verlangt, du hast aber auch kein Mitspracherecht.
Auf der Webseite von FI gab es etwa 500000 Klicks mit denen man seine Unterstützung anzeigen konnte. Das ist beachtlich. Internetnutzer konnten ihre Ideen im Netz ausbreiten. Eine Art Programm, die «Gemeinsame Zukunft» wurde dort zur Abstimmung gestellt und hat rund 97 Prozent positive Klicks bekommen. Die örtlichen Gruppen von FI durften sich nicht koordinieren, um etwa Kandidaten für die Parlamentswahlen zu bestimmen. Alles wurde von oben geregelt. Die horizontale Struktur war sehr informell, die Kontrolle von oben durch den Führungskern hingegen sehr strikt.
Es haben sich Aktivistengruppen gebildet, häufig von oben angestoßen, die verschiedene Aufgaben übernommen haben, vor allem haben sie bravourös die sozialen Netzwerke bearbeitet. Es gibt Analogien zu Podemos, aber es ist nicht dasselbe. FI ist nicht auf dem Boden einer Massenbewegung wie den Indignados in Spanien gewachsen und in seinen Reihen findet sich kein Gründungsmitglied wie Anticapitalistas in Spanien.
Der Führungskern von FI kommt von der Linkspartei. Das ist eine Seilschaft mit einer langen gemeinsamen Geschichte. Zum Teil sind deren Mitglieder jetzt Parlamentsabgeordnete, darunter auch einige, die früher bei der LCR oder der NPA waren und über Ensemble! dahin gekommen sind.
Die Identifikation mit dem Chef bringt sehr sektiererische Verhaltensweisen, wie bei einem Fanclub, hervor – eine Meute, die jede Kritik im Internet niederbrüllt bis hin zur Lahmlegung der Webseiten im Visier. Das ist Teil einer allgemeineren und sehr negativen Entwicklung auf der radikalen Linken, wo das Niveau der Debatten sehr dürftig, Verteufelungen hingegen sehr häufig sind. Meinungsverschiedenheiten gelten als «illegitim».
Die Krise ist ungelöst
Soweit zu dem, wo Mélenchon herkommt, aber wo geht er hin? Es gibt gute Gründe dafür, dass die Parteien in Misskredit geraten sind, dafür sind weder Macron noch Mélenchon verantwortlich. Vor allem die PS hat sich unter der Präsidentschaft von Hollande selbst zerstört. Die PCF und die extreme Linke müssen ebenfalls nicht nach Sündenböcken für ihre Niederlagen suchen. Auf der Rechten gilt dasselbe. Was aber soll aus France Insoumise werden? Was will man wieder aufbauen?
Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen sind sehr beunruhigend. Emmanuel Macron ist auf allen Ebenen ein Mann der Rechten, wenn auch einer in gesellschaftlich-kulturellen Fragen modernen Rechten. Rechts wie links wird die institutionelle Bühne von zwei Formationen «im Aufbau» beherrscht. 75 Prozent der Abgeordneten der Nationalversammlung wurden ausgetauscht; auch das ist noch nie dagewesen. Wir sind in eine ziemlich instabile Periode eingetreten. Aber im Grunde gab es weder einen Aufstand durch die Wahlurnen noch ein rechtes Plebiszit. Selbst in einer Zeit spektakulär neuer Formationen ist die Abwendung von der Politik der dominierende Faktor geblieben.
Macron weiß, dass er nicht durch einen Volksentscheid Präsident geworden ist. Er weiß auch, wie geschwächt seine Gegner derzeit sind. Er kann und wird also handeln, und zwar zum Schlimmsten. Wir befinden uns sehr in der Defensive. Es ist jetzt dringend notwendig, alle Kräfte zu sammeln für den Aufbau einer starken sozialen und demokratischen Widerstandsfront, sonst ist die Niederlage gewiss. Es braucht dafür die breite Einheit in der Aktion, aber auch die Erneuerung der Art und Weise, Politik zu machen – auf der radikalen Linken wie in den sozialen Bewegungen.
**Chantal Mouffe ist Mitglied im Kuratorium des Instituts Solidarische Moderne.
**D.h. Politiker vom Stil eines Jean Jaurès. Dieser, ein Nichtmarxist, war vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender der SFIO, der damaligen Sektion der II.Internationale, und wurde am Vorabend des Krieges wegen seiner pazifistischen Agitation ermordet.
Pierre Rousset ist Mitglied der NPA und betreibt die Seite «Europe Solidaire sans frontières», www.europe-solidaire.org.
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