Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2017
Erneut verliert die Autogewerkschaft in den USA den Kampf für ihre Anerkennung in einem Großbetrieb
von Dianne Feeley*

Anfang August steckte die amerikanische Automobilarbeitergewerkschaft UAW (United Automobile Workers) in der Kampagne für ihre Anerkennung als Gewerkschaft am Nissan Standort in Canton, Mississippi, eine desaströse Niederlage ein. 63 Prozent der Belegschaft stimmte mit Nein – 10 Prozent mehr noch als bei Volkswagen in Chattanooga, Tennessee, vor dreieinhalb Jahren. Mehr als die Hälfte der Belegschaft muss in den USA für die Gewerkschaft stimmen, damit sie als gewerkschaftliche Vertretung anerkannt wird.

Von Anfang an hat die UAW in der zehn Jahre dauernden Kampagne bei Nissan die öffentliche Unterstützung durch die Community gesucht und betont: «Workers‘ Rights are Civil Rights». Dies erwies sich vor allem deshalb als effektiv, weil 80 Prozent der Arbeitenden Schwarze sind. Und als im März dieses Jahres 6000 Beschäftigte für die Unterstützung der Gewerkschaftskampagne demonstrierten, schien es, als würde die UAW auf einen Sieg zusteuern.

Aber das war außerhalb der riesigen Werkshalle. In ihr verfolgte das Management eine aggressive Strategie gegen die Gewerkschaft, führte Versammlungen durch, spielte in den Pausenräumen antigewerkschaftliche Videos vor und organisierte in den Tagen kurz vor der Wahl große Teamsitzungen mit Anwesenheitspflicht, lud sogar zu Einzelgesprächen. Die Manager erklärten, warum die UAW nicht die Interessen der Beschäftigten vertrete.

Hört man, was die Nissan-Beschäftigten sagen, sind Gesundheit und Sicherheit die drängenden Themen, wie meist an gewerkschaftsfreien Arbeitsplätzen. Viele sprachen über Derrick Whiting, 37 Jahre, der zusammenbrach und im September 2015 im Werk starb. Er war zur medizinischen Station der Firma gegangen und hatte über Brustschmerzen geklagt, wurde aber zurück ans Band geschickt. Anna Wolfe berichtete in der Tageszeitung Clarion Ledger: «Manche Beschäftigten kritisieren, dass Nissan nicht schnell genug auf diese Situation reagierte und nahe gelegene Produktionsbänder einfach laufen ließ. Das Unternehmen leugnet die Anschuldigungen und sagt, die Sicherheit in den Werken sei ‹bedeutend besser als im Landesdurchschnitt›.» Andere, die vorhatten für die UAW zu stimmen, sprachen von der Notwendigkeit einer Arbeitsplatzgarantie und einer sicheren Rente.

 

Rassismus

Ein großes Problem bei der Wahl war die Spaltung unter den Afroamerikanern. Bei Nissan verdient der höchstgruppierte Teil der Arbeiter durchschnittlich 26 Dollar pro Stunde, die Lohnstufe darunter bekommt 18 Dollar – aber beide Lohnstufen liegen höher als das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen von 15000 Dollar in Canton. Angesichts dieser ökonomischen Unterschiede konnte das Unternehmen die wahlberechtigten Beschäftigten sehr effektiv davon abhalten, «für Ärger zu sorgen», indem sie für die Gewerkschaft stimmten.

Afroamerikaner haben in Mississippi wenig Möglichkeiten, relativ gut bezahlte Facharbeiterjobs zu bekommen. Viele haben deshalb den Verlust ihres stabilen, gut bezahlten Job befürchtet. Gleichzeitig gab es am Standort eine Debatte  darüber, dass das Management bei Bewerbungen und Beförderungen Weiße bevorzugt. Aber weder das Thema ökonomische Ungleichheit im Betrieb noch die besondere Geschichte des Rassismus in dieser Region wurden von der Gewerkschaftsführung gut aufgegriffen. Hätte es ein starkes betriebliches Komitee gegeben, fähig Initiativen zu ergreifen, hätte man diese Fragen angehen können.

 

Frühere Zugeständnisse rächen sich jetzt

Von den 6400 Arbeitern im Werk waren nur 3500–3800 wahlberechtigt, der Rest ist befristet  beschäftigt. 2500 sind bei Kelly Services und nicht direkt bei Nissan angestellt.

Bei Nissan gibt es drei unterschiedliche Lohnstufen. Es gibt die Beschäftigten mit «Altverträgen», die von Anfang an bei Nissan gearbeitet haben. Dann gibt es diejenigen, die mit befristeten Verträgen angefangen haben und inzwischen Vollzeit und unbefristet arbeiten – aber nie den gleichen Lohn wie die erste Gruppe erhalten werden, in dieser zweiten Lohnstufe sind etwa 1500 Beschäftigte. Die dritte Gruppe bilden die Leiharbeiter von Kelly Services.

Als inzwischen verrentete Automobilarbeiterin sehe ich zwei Riesenprobleme in der UAW-Kampagne für die Anerkennung als Gewerkschaft:

  1. Die Arbeiter, die der Gewerkschaft positiv gegenüberstanden, kamen nie zusammen um als Gewerkschaft zu agieren. Stattdessen redeten sie darüber, warum es eine Gewerkschaft geben sollte.
  2. Die UAW richtete sich nicht an die Arbeiter mit befristeten Verträgen und bezog sie nicht in ihre Kampagne ein. Die meisten Automobilarbeiter sehen die Überausbeutung der Befristeten. Sie arbeiten genauso hart, oder sogar härter als die Stammbeschäftigten, aber sie erhalten bedeutend weniger Lohn, haben weniger Arbeitsplatzsicherheit und überhaupt keine Zusatzleistungen.

Bei meinen Beobachtungen aus der Ferne habe ich mich gefragt, was die Organizer der UAW hätten tun können, um eine militante Gewerkschaft in den südlichen Werken aufzubauen – gerade angesichts der Tatsache, dass viele der Probleme bei Nissan denen ähnelten, die wir an Standorten hatten, die von der UAW gewerkschaftlich erschlossen waren. Schließlich haben die Gewerkschaftssekretäre der UAW auch bei uns immer gepredigt,  Zugeständnisse seien ein Weg, um unsere Arbeitsplätze seit 1980 zu sichern. Gemeinsam mit den Unternehmern schwätzten sie den Automobilarbeitern ein zweistuftiges Lohnsystem und Zusatzleistungen auf und schüchterten diejenigen von uns ein, die gegen diese Strategie sprachen. Einmal in Kraft getreten, versuchten sie, dieses Lohnsystem zu begründen. Unfähig, die Betriebe ausländischer transnationaler Konzerne, die sich im Süden angesiedelt hatten, zu organisieren, argumentierte die UAW nun, sie sei zu Zugeständnissen gezwungen, solange nicht mehr Automobilarbeiter organisiert wären.

Das ist ein Zirkelschluss. Wir verloren unsere Macht, weil der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Automobilarbeiter mit der Eröffnung nicht organisierter, transnationaler Unternehmensstandorte sank. Uns wurde erzählt, dass die UAW-Arbeiter nur dann überleben könnten, wenn sie Zugeständnisse machen und auf einen besseren Tag warten, an dem wir wieder wachsen und zurückgewinnen können, was wir verloren haben. Aber indem wir den Zugeständnissen zustimmten, untergruben wir die Gründe für einen Beitritt zur Gewerkschaft!

 

Ein schlechter Vertrag

In der letzten Runde der Verhandlungen mit den großen Drei beschloss UAW-Präsident Dennis Williams, zuerst mit Chrysler zu verhandeln. Viele wunderten sich, warum er das kleinste und schwächste Unternehmen ausgesucht hatte, da es Maßstäbe für die beiden anderen setzen würde. Als der aushandelte Vertrag vorgestellt  wurde, war das Lohnstufensystem beibehalten und der Anteil der Arbeiter, die hätten aufsteigen können, minimiert. Zur Überraschung des Solidarity House, des Headquarter der UAW, lehnten die Chrysler-Arbeiter den Vertrag mit großer Mehrheit ab. Ein zweiter, leicht verbesserter Vertrag wurde geschlossen – aber heute gibt es mehr Job- und Lohnkategorien als jemals zuvor. Der Einsatz von befristet Beschäftigten ist ausgeweitet.

 

Eine alternative Strategie?

Wofür hätte die UAW bei Nissan kämpfen können, um den 2500 Befristeten zu nützen? Ein Kern von UAW-Unterstützern aus allen drei Lohnstufen hätte anfangen können, als Gewerkschaft im Betrieb zu agieren. Sie hätten Forderungen aufstellen können rund um die Themen Gesundheit und Sicherheit. Sie hätten gegen die diskriminierende Bevorzugung von Weißen kämpfen können und gegen den mangelhaften Arbeitsschutz für einen Teil der Belegschaft.

Das hätte eine andere Dynamik für das geschaffen, was die Gewerkschaft ist, und es hätte das Verständnis und das Engagement für ökonomische Gleichheit am Arbeitsplatz vertieft. Die Gewerkschaft ist kein Fremdkörper, der von außen in Nissan hereingetragen wird, das sind die Arbeiter, die zusammenkommen, um ihre Forderungen zu formulieren und sie durchzusetzen.

Das Ziel ist der Aufbau der Gewerkschaft. Vielleicht wird die Betriebsgruppe so stark, dass sie das rassistische Beförderungssystem angreifen kann, vielleicht sogar das Unternehmen zwingen kann, Kelly Services zu verjagen und stattdessen die Kollegen selbst anzustellen. Aber unabhängig davon, ob sie diese Ziele durchsetzen kann, bliebe die Gewerkschaft die Institution, die die Kampagnen organisiert, über die ihre Mitglieder entscheiden. Sie könnte Kontakt zu den Belegschaften der Zulieferer aufnehmen und ihnen helfen sich zu organisieren, um eine Kontrolle über die Just-in-time Produktion aufzubauen. Die Wahl für ihre Anerkennung als Gewerkschaft wäre dann ein nachrangiges Ziel. Wann auch immer sie auf die Tagesordnung gesetzt würde, müssten Leiharbeiter und befristet Beschäftigte unabhängig von ihrem formalen Status dasselbe Recht haben zu wählen. Zwei mögliche Vertragsforderungen könnten sein, dass Befristete entfristet werden und die Mauer zwischen den Lohnstufen niedergerissen wird. Das wäre eine Gewerkschaft, für die es sich lohnt zu kämpfen.

Ich glaube, mit einer Organisierungskampagne, die die Arbeitenden um ihre Bedürfnisse herum eint, hätte die UAW bei Nissan gewinnen können – trotz aller Anfeindungen von Seiten des republikanischen Gouverneurs, der lokalen Medien und der Unternehmensleitung. Solch eine Kampagne würde die Gewerkschaft wiederbeleben, die heute nur noch ein Schatten von dem ist, was die UAW einmal war. Einst kämpfte sie gegen das Management mit einer Vielzahl von Aktionen, einschließlich  Delegationen während der Pausenzeiten, Dienst nach Vorschrift und Blitzstreiks – eine Strategie, die es heute auch wieder bräuchte.

 

* Dianne Feeley hat früher beim Autozulieferer Axle in Detroit gearbeitet.


Aus:
Against the Current, Nr.190, September/Oktober 2017, www.solidarity-us.org.

 

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