Teil 3: Der Weg zum Sozialismus
von Thomas Goes
Poulantzas suchte nach einem demokratischen Weg zum Sozialismus. Dabei wandte er sich gegen Strategien, die im Staat entweder lediglich ein zu nutzendes Instrument oder einen Mechanismus sehen, den es zu «zerschlagen» gelte.
Einen solchen Weg suchten damals auch die sog. eurokommunistischen Parteien, allen voran in Italien und Frankreich: Auf dem Weg demokratischer Wahlen und unter Wahrung der politischen Pluralität sei es möglich, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Die Führung der PCF betonte z.B., dies sei im Rahmen der Verfassung und des bestehenden Staates möglich. Verbunden war dieses Bekenntnis zu einem bestimmten demokratischen Weg mit der Schlussfolgerung, antimonopolistische Bündnisse müssten geknüpft werden, für die auch kleine und mittlere Kapitalisten zu gewinnen wären.
Der späte Poulantzas bewegte sich auf dem linken Flügel des Eurokommunismus, kritisierte von hier aus aber zentrale Überlegungen. Er unterstrich z.B., dass das klassenpolitische Bündnis nicht so einfach zu schmieden wäre, wie es die Analysen des kommunistischen Mainstreams nahe legten. Zum anderen begründete er, weshalb der Staat nicht als Instrument genutzt werden kann, um die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden.
Ein demokratischer Weg zum Sozialismus könne demnach nicht harmonisch sein, nicht ohne tiefe Veränderungen in den Machtverhältnissen gegangen werden. Zugleich lehnte Poulantzas Doppelmachtstrategien ab, wonach der bürgerliche Staat nach einem schnellen Bruch durch eine Rätedemokratie ersetzt würde.
Mit dem Staat, gegen den Staat?
Poulantzas plädierte für eine radikale Doppelstrategie. Notwendig für den Übergang zum Sozialismus seien starke Bewegungen und die Schaffung von neuen Formen der direkten Demokratie, in denen die Volksklassen unmittelbar Macht ausüben sollten. Das stünde nicht im Widerspruch zu einer linken Staatspolitik, die demokratische Errungenschaften innerhalb der Staatsapparate ausweiten und nutzen sollte, um die Macht der arbeitenden Klassen zu stärken und gleichzeitig diese Staatsapparate zu demokratisieren und grundlegend zu verändern.
Die beherrschten Klassen, in diesem Punkt war Poulantzas sehr klar, bewegten sich innerhalb des Staates nicht auf neutralem Terrain – und schon gar nicht könne es «ihr Staat» sein. In einem Interview sagte er: «Ich glaube nicht, dass die Massen autonome Machtpositionen, nicht einmal untergeordnete, innerhalb des kapitalistischen Staates halten können. Sie agieren vielmehr als Mittel des Widerstands, Elemente der Zersetzung, die die inneren Widersprüche des Staates hervorheben.»
Kämpfe innerhalb und außerhalb des Staates seien daher zu koordinieren: «Auf der einen Seite ein Kampf innerhalb des Staates … Ein Kampf, dessen Ziel es nicht ist, den bürgerlichen Staat durch einen Arbeiterstaat zu ersetzen … sondern … ein Widerstandskampf, ein Kampf, der dazu dient, die inneren Widersprüche des Staates zu verschärfen, um eine tiefgreifende Transformation des Staates voranzutreiben. Auf der anderen Seite … ein Kampf außerhalb der Institutionen und Apparate, der eine Reihe von Instrumenten, Koordinierungsmittel, Organe der Volksmacht an der Basis, Strukturen der direkten Basisdemokratie hervorbringt.»
Aber warum, wenn neue Machtorgane von unten geschaffen werden sollen, nicht die einfache den alten durch einen neuen Staat ersetzen? Poulantzas zog hier Schlüsse aus der portugiesischen Nelkenrevolution (1974–1976). In deren Verlauf habe nicht das Weiterbestehen der Staatsapparate, sondern ihre Desorganisation und Zersplitterung u.a. dazu geführt, dass der Aufbau von Volksmacht von unten gescheitert sei. In Die Krise der Diktaturen unterstreicht er, dass gerade die Teile des Staates, in denen Bewegungen und Linke besonders großen Einfluss hatten, kaum handlungsfähig, eher in Auflösung begriffen waren. Deshalb konnten z.B. Experimente mit landwirtschaftlichen Kooperativen oder der Arbeiterselbstverwaltung nicht unterstützt und gegen rechte Angriffe geschützt werden.
Anders die staatlichen Bastionen des Bürgertums: sie blieben intakt und wurden gegen die Bewegungen in Stellung gebracht. Seine Schlussfolgerung lautet, dass eine Politik revolutionärer Brüche zwar notwendig sei, zumindest unter europäischen Bedingungen aber nicht auf eine Konfrontation zwischen dem Staat als ganzem Block und den Bewegungen hinauslaufe. Die Schaffung von Volksmacht außerhalb des Staates würde vielmehr zu einer Differenzierung und Polarisierung innerhalb der Staatsapparate führen. Der Kampf zwischen Teilen des Staatspersonals gemeinsam mit den Bewegungen gegen die Bourgeoisie, die Rechte und die von ihnen kontrollierten Teilen des Staates wäre demnach ein Moment revolutionärer Politik unter spätkapitalistischen Bedingungen.
Revolutionäre Strategie
Da Poulantzas sich gegen die Staatszerschlagungsvariante revolutionärer Strategie wandte, wird er gerne als reformistischer Theoretiker hingestellt. Das ist falsch. Geschichtlich ist Reformismus eine Strategie, die davon ausgeht, der Kapitalismus könne (wenn, dann) Schritt für Schritt überwunden werden, weil die wirtschaftlichen Bedingungen (Staatsmonopolisierung) bereits im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft herangereift seien und die bestehenden politischen Einrichtungen (die Republik) als Mittel genutzt werden könnten, um sozialistische Verhältnisse zu schaffen. Stimmen die Mehrheitsverhältnisse, dann lassen sich die Produktionsmittel sozialisieren und die Wirtschaft demokratisieren.
Poulantzas’ theoretische Arbeiten und seine strategischen Vorschläge zeigen aber in eine völlig andere Richtung. Sein «demokratischer Weg zum Sozialismus» war ein antagonistischer, einer der sozialen Bewegungen, der Kämpfe und Brüche.
In Griechenland haben wir erlebt, dass auch nach einer langen und intensiven Phase von Massenmobilisierungen keine Doppelmachtsituation entstanden ist, sondern Syriza zur Regierungspartei wurde. Damit war die Geschichte nicht schon geschrieben, sondern für eine kurze Zeit offen, abhängig von den strategischen Entscheidungen der Linken und der Kraft der verschiedenen Bewegungen. Das zeigt, dass die kritische Beschäftigung mit Poulantzas’ strategischen Ideen notwendig ist, um heute handlungsfähig zu werden.
Aber: Wie in der eurokommunistischen Debatte allgemein, blieben auch bei Poulantzas eine Reihe von Unklarheiten und Widersprüche. Beispielsweise blieb offen, wie sich die neuen Zentren popularer Macht zur Macht der Parlamente verhalten sollten. Wenn Doppelmachtsituationen nicht zugunsten der «neuen Macht» aufgelöst werden und der Staat zutiefst kapitalistisch ist (wie Poulantzas selbst argumentierte), wie sollte dann eine sozialistische Demokratie geboren werden? Oder: Wenn es richtig ist, dass Teile des Staatspersonals sich für sozialistische Lösungen gewinnen lassen, wohin kann die Konfrontation mit den nach rechts neigenden, den Status quo verteidigenden Staatskräften anders führen als zu einer tiefen Entscheidungskrise?