Die Linke und die Antikriegsbewegung in Russland
von Christoph Wälz
Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg (Hrsg. Ewgeniy Kasakow). Münster: Unrast, 2022. 248 S., 16 Euro
Als Russland die Ukraine angriff, kamen auf den Straßen in Moskau und St.Petersburg spontan Tausende zusammen und schrien: »Nein zum Krieg«. Die anfängliche Hoffnung auf eine linke Massenbewegung gegen das Putin-Regime wich jedoch schnell der Ernüchterung.
Ein Jahr später stellen sich allen, die ihre Perspektive auf Frieden mit emanzipatorischen Bewegungen verbinden, viele Fragen an die Linke in und aus Russland. Ewgeniy Kasakow hilft mit seinem Buch Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg, nach Antworten zu suchen.
Der Autor zeigt, dass die wichtigste Trennlinie in Russland nicht zwischen »links« und »rechts« verläuft: »Es gibt kremlloyale Linke, Liberale, Nationalisten und oppositionelle Linke, Liberale, Nationalisten.« Galt dies in dem von Putin konsolidierten System schon länger, ist für Ilja Budraitskis von der Russischen Sozialistischen Bewegung (RSD) der Krieg »Auslöser für ein Schisma in der russischen Linken«, das bewirkt hat, dass es gar keine Beziehungen mehr gibt zwischen »dem antiimperialistischen Teil« und denen, die die »Spezialoperation« unterstützen.
An verschiedenen Stellen des Buches wird deutlich, dass diesem Schisma bereits andere militärische Vorstöße des imperialen Staates und damit verbundene Kontroversen in der russischen Linken vorausgingen. Bereits der Krieg gegen Georgien 2008 und die Annexion der Krim 2014 führten zu Spaltungen und Umgruppierungen in der Linken.
Verschiedene Formate
Kasakow hat verschiedene Formate verwoben: Kontextualisierungen »falscher Fragen« (wie die Frage: »Wie links ist Putin?«), Entstehungsgeschichten von politischen Strömungen und Milieus seit 1991, persönliche Erklärungen linker Akteur:innen und Stellungnahmen von Organisationen im Jahr 2022 sowie Interviews mit Protagonist:innen.
Dabei mag es zunächst so scheinen, als sei ein großer Teil des Buches nicht dem Krieg und der Bewegung gegen ihn gewidmet, sondern der Geschichte von Organisationen. Manche:r mag im Laufe der Darstellung stalinistischer Kleinparteien in der Nachfolge der KPdSU, der Spaltungs- und Fusionshistorie der trotzkistischen Gruppen oder der Organisierungsansätze von Sozialdemokrat:innen und Anarchist:innen den Zusammenhang zur heutigen Antikriegsbewegung nur noch erahnen.
Doch es setzt sich ein Mosaik zusammen. Zäsuren werden bewusst, Zusammenhänge werden verständlicher und ermöglichen, die Grautöne in der Debatte einzuordnen. So gibt es ein gewisses Spektrum von Bewertungen der Situation im Donbas seit 2014 auch innerhalb der Antikriegslinken. Nicht alle Handelnden lassen sich eindeutig einer der beschriebenen linken Haupttendenzen, »gegen alle« und »Sieg der Ukraine«, zuordnen.
Fokus auf die Linke
Kasakow hat sich entschieden, seinen Fokus auf die »Linke« zu richten. Damit lässt er die liberalen und nationalistischen Teile der Antikriegsbewegung – wie die Jugendbewegung Wesna oder Putins Konkurrenten Alexei Nawalny – außen vor. Das ist insofern wohltuend, als deren Texte strategisch nicht sonderlich interessant sind. Um Dynamiken der Antikriegsbewegung besser zu verstehen, wäre jedoch eine Auseinandersetzung mit diesen Akteur:innen aufschlussreich gewesen.
Liberale Kriegsgegner:innen zeichnen sich, so Kasakow, durch eine im Vergleich zur Linken starke Geschlossenheit in ihrer Haltung gegen den Krieg aus. Ihre Hegemonie über Inhalte und Formen des Protests ist eine Herausforderung für die Linke, wie die kleine Organisation »Alternative Linke«, die in Kasakows Buch nicht vorkommt, schrieb. Auch DOXA wird nicht einbezogen. Inzwischen hat sich diese Gruppe, die aus einer oppositionellen Studierendenzeitschrift entstanden ist, deutlich radikalisiert, plädiert für Brandanschläge auf Einberufungsbüros und hat eine sehr große Reichweite in den sozialen Netzwerken.
Doch die Form des Sachbuchs steht eben – wie Kasakow selber anmerkt – in einem Gegensatz zu den tagesaktuellen Entwicklungen. Zwischen der Fertigstellung des Buches im Sommer und seinem Erscheinen im Dezember 2022 liegen die Rückeroberung der Gebiete Charkiw und Cherson durch die Ukraine, die Teilmobilmachung in Russland und weitere Annexionen. Der Wert des Buches besteht deshalb darin, dass Kasakow es schafft, die Hintergründe der linken Positionierungen auszuleuchten.
Highlights sind die Texte der feministischen Bewegung, die von den beschriebenen Tendenzen am besten überregional vernetzt ist und sich am eindeutigsten proukrainisch positioniert, sowie der Einblick in »Russlands koloniale Kontinuitäten«, den uns die in Deutschland lebende Journalistin Anastasia Tikhomirova verschafft. Nach der Lektüre ihres Beitrags ist klar: Eine Massenerhebung in Russland würde – wenn es sie denn geben sollte – von den ethnischen Minderheiten ausgehen.
Das Buch hilft Linken in Deutschland, Perspektiven der russischen Linken besser zu verstehen. Inzwischen leben viele von ihnen im Exil und gehen hier gegen Putins Krieg auf die Straße. Spezialoperation und Frieden nützt uns bei einem Schulterschluss.
Bei einer Neuauflage sollten ein Register der Organisationen und Personen sowie eine Zeittafel zu den Entwicklungen von 1991 bis 2022 ergänzt werden. Dann könnte es zu einem Handbuch für alle werden, die sich aktivistisch oder wissenschaftlich mit der Linken in und aus Russland auseinandersetzen.
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